Vor fast 100 Jahren übte Emanuel Lasker eine bemerkenswerte Kritik an den Regeln des Schachs. Diese enthielten derart verschrobene Paragrafen, dass man das königliche Spiel überhaupt nicht als Abbild einer realen Auseinandersetzung begreifen könne. Lasker hatte hier neben dem Rochaderecht vor allem das Spielziel im Sinn. Nicht die kanonische Prämisse des Raumgewinns bei grenzenlosem Spielfeld entscheidet über den Ausgang der Partie, sondern gekünstelte Matt- und Pattkonstruktionen. Im Spitzenspiel der 1. Landesklasse hatte unsere zweite Mannschaft gegen Riesa großes Glück, dass die Schachregeln hinreichend entartet gestaltet wurden, um auch dem streunenden Hund noch eine vage Hoffnung auf ein Fresserchen zu bieten.
Trotz der Anwesenheit von sieben Stammspielern begann der Kampf katastrophal im Sinne aller klassischen Kriterien. Lars hatte gerade erst die zweistelligen Zugzahlen erreicht, als ein simpler Doppelangriff sofort eine Figur einbüßte. Warum kein Springer auf c3 die Diagonale mehr blockierte, blieb nach der Partie genauso ungeklärt, wie die Motivation, den weißfeldrigen Läufer nicht auf b3 zu verankern. Auf c4 fiel er jedenfalls einem Damenschach auf b4 zum Opfer. Christian traf es ähnlich hart, wenn auch nicht ganz so früh: Die nicht ausufernd mondäne Zugfolge seines Gegner brachte sein Konzept durcheinander, was bald zu Schwächen auf beiden Flügeln führte und nach dem Eindringen der weißen Krieger auch schnell eine Figur kostete. Ganz ähnliche Löcher konnte Mathias sein Eigen nennen. Zwar gelang es ihm, den Morra-Bauern behaupten – allerdings auf Kosten einer Qualität. Ich hatte selbstbewusst früh das Zentrum geöffnet, um dann feststellen zu müssen, dass das gegnerische Läuferpaar die fehlende Koordination mehr als ausglich. Auch Roland fühlte sich von zwei Läufern gegängelt. Der Verzicht auf einen Bauern schien ihm noch die besten Möglichkeiten auf ein Remis zu bieten. Christof hatte sich noch eher von einem Bauern getrennt, konnte dafür aber wenigstens den Kompressor in Betrieb nehmen. Olaf war hingegen wie wir anderen mehr Amboss als Hammer. Ein gegnerische Turm auf der siebenten Reihe versetzte ihm in Abstimmung mit Dame und Springer heftige Schläge. Da also einzig Lion eine solide Position erreichte, war zunächst nicht klar, wo in diesem Kampf wenigstens zwei Brettpunkte herkommen sollten.
Rolands Gegner willigte angesichts dessen in ein Remis ein. Christian verlor und Lars hatte mittlerweile ein ganzes Dorf weniger auf den Brett. Doch die vor der Zeitkontrolle einsetzende Geisterstunde meinte es gut mit uns. Mathias konnte einen gegnerischen Turm ins Abseits locken und gewann auf der Grundreihe. Olaf verteidigte sich gut und bekam im Endspiel mit ungleich farbigen Läufern sogar nochmal Höhenluft. Mein Gegner half mir dabei, meine Stellung zu konsolidieren. Trotz eines Notationsproblems ging ich mit einer Mehrfigur ins Turmendspiel und gewann dieses unmittelbar nachdem Lars keine Lust mehr verspürte. Christof wiederholte im 40. Zug zum dritten Mal die Stellung; zusammen mit dem doch nicht mehr abzuwendenden Remis von Olaf ergab sich ein Stand von 3,5-3,5, wobei Lion schon ordentlich Material gepflügt hatte. Es galt nur noch, in dem Wirrwarr von Pseudoaktivität und Pseudodeckung(!) die Übersicht nicht zu verlieren. Ein ausgelassener Elfmeter trug zur allgemeinen Unterhaltung bei – Lions prosaische Methode führte aber auch zum ungefährdeten Sieg.
Unter schamloser Ausnutzung des von Lasker bloßgestellten Irrsinns konnten wir also die Tabellenführung erringen. Zwei Leipziger Mannschaften sind uns dicht auf den Fersen, weshalb es noch zu einigen engen Topspielen kommen dürfte.