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Das Leipziger Allerlei der zornigen Altersdebilität
oder wann man die Gesellschaftsfähigkeit
verliert
"Vor netten Menschen sollte man
sich hüten, denn die haben meistens keinen Geist."
(Thomas Bernhard)
Sergej Lozovoy: "Warum spielst
du denn gegen Schwächere Grünfeld-Indisch?"
Mathias Paul: "Weil ich nichts anderes kann."
Sergej Lozovoy: "Gegen solche Gurken darfst
du so was nicht spielen."

Ganz aus dem Tritt gerieten die Plauener
plötzlich, als sie im vergangenen Jahr ausgerechnet
zu Hause gegen den SC Leipzig-Gohlis verloren, denn
auch danach waren ihnen die wichtigen Punkte um den
Aufstieg vor allem in der heimischen Gemütlichkeit
des Hotels Alexandra abhanden gekommen. Dieses Mal hatten
eben dort die Höllenglocken schon zum Saisonauftakt
geläutet. Um die Vergänglichkeit der ersten
beiden Mannschaftspunkte wurde also bereits getrauert,
so dass es nun an der Zeit war, diese lästige Verkrampfung
endlich loszuwerden, dass die zweite Mannschaft in die
neue Saison sogar mit einer noch stärkeren Aufstellung
starten konnte. Eine Tatsache, die den Lauf der Dinge
hätte so leicht und zielsicher machen können,
stattdessen aber wie eine Ladehemmung wirkte.
Zwar fehlte dieses Mal Olaf Hilbig, dafür
aber war Andreas Götz rechtzeitig vom Schwarzen
Meer zurückgekehrt, und der hatte ja noch eine
alte Rechnung mit Hermann Mauersberger zu begleichen.
Freilich musste er dafür den feinen weißen
Sandstrand und die spätsommerlichen Temperaturen
hinter sich lassen, denn im Leipziger Sportforum hatte
es schon auf den ersten Blick den Anschein, als würden
sich dort graue Aschepartikel in einer unterkühlten
Luft bewegen, in der gleichzeitig Dinge über die
Datumsgrenze hinaus konserviert werden sollten. Ausgestopftes
neben Lebensimitation, Totes neben fast Totem, übertrug
sich auf die Partiestellungen, und nach einer Stunde
dachte Sergej Lozovoy zum ersten Mal laut über
die Kurzatmigkeit in seiner Partie nach, dass er wohl
jetzt bald seinen Gegner matt bekomme, um dem
sichtbaren Positionsverfall ein Ende zu setzen. Aber
zufrieden war er danach überhaupt nicht, einzig
die Geschwindigkeit, mit der sich erwartungsgemäß
alles ganz schnell auflöste, konnte ihn trösten.
Der frühen krawallartigen Führung folgte eine
Punkteteilung in der Skandinavischen Partie zwischen
Christian Hörr und Peter Piekarz - völlig
ohne Spektakel. Währenddessen vergrößerte
Andreas Götz den Bauernvorteil zu einer Mehrfigur.
Den abschließenden Königsangriff über
die h-Linie schmückte er jetzt nur noch mit ein
paar zornigen Springergabeln und hübschen Mattbildern.
Hatte es doch zum ersten Mal jemand gewagt, gegen ihn
mit b2-b4 eine ernsthafte Wettkampfpartie zu eröffnen,
die aber eher an entartete Schachkunst erinnerte als
an alte Gerhard-Rehbein-Schule. Der Bauernmajorität
am Damenflügel zum Erfolg zu verhelfen, mag zwar
in der Grünfeld-Indischen-Verteidigung oftmals
eine sehr zähe Angelegenheit sein, aber Mathias
Paul hatte es ja auch, wie von Sergej Lozovoy präzise
beobachtet, mit einem schwächeren Gegner zu tun,
der in hochgradiger Zeitnot noch viele Züge zu
machen hatte, aber nicht mehr in der Lage war, die positionellen
Krater im Endspiel zu beseitigen, bis plötzlich
ein Turmeinsteller die Partie einzügig für
den Plauener entschied. Friedrich Beckel quittierte
eine Niederlage nach der anderen auf dem Spielberichtsbogen,
immer mit einem freundlichen Lächeln, fast schon
als Zeichen der Entschuldigung, dass schon wieder ein
Jahr vergangen ist. Und er hatte gleich erneut Anlass,
sich nach dem Geschehenen zu erkundigen, als Gesprächsgeräusche
vom sechsten Brett zu vernehmen waren. Etienne Engelhardt
hatte die ganze Partie über eine passive Position
gegen Dr. Thomas Prause auszuhalten gehabt, aber offensichtlich
schien der Spielverlauf noch eine unvorhergesehene Wendung
bekommen zu haben.
"Die Partie ist auch verloren gegangen,
da biete ich jetzt mal Remis", so Friedrich Beckel,
ohne vor dem spontanen Gebot noch einen Zug ausgeführt
zu haben, war er sich doch beim vermeintlichen Spielstand
von 0,5:4,5 einer sofortigen Einwilligung in die Punkteteilung
gewiss. Über dieses Remisangebot wollte sich Christof
Beyer aber erst Gedanken machen, es sich einfach überlegen,
denn nicht nur der Spielstand war sehr komfortabel,
sondern auch die Partiestellung, und auf einmal kehrte
Friedrich Beckel das Innere komplett nach außen,
tauschte die oberflächliche Freundlichkeit gegen
die hässliche Bösartigkeit aus, und also schoss
die Gesellschaftsunfähigkeit aus dem zornigen Beckelkopf
subkutan heraus: Dass er dann das Remisangebot wieder
zurücknehmen würde, wenn darüber erst
noch nachgedacht werden müsse, nein, womöglich
zehn Minuten auf seine Bedenkzeit überlegen, das
käme für ihn nicht in Frage, und da er ja
selbst am Zug sei, könne er das Remisangebot selbstverständlich
wieder zurücknehmen, im übrigen habe er ja
auch gar nicht Remis angeboten, er hatte jedenfalls
nichts gehört oder gäbe es dafür Zeugen?
(Hätt' mer ein' da?) Bereits hier hätte statt
eines Zeugen höchstens noch ein Neurologe, vermutlich
aber nur noch ein Pfleger helfen können, denn das
Repertoire der Armseligkeit und Unzurechnungsfähigkeit
des Mannschaftsleiters war ein ganz erlesenes und gleichzeitig
ein kaum zu kontrollierendes. Dass er es sich nämlich
überlege, auf Zeitüberschreitung zu reklamieren,
deshalb könne er auch nicht sein Partieformular
zum Nachtragen der gegnerischen Züge zur Verfügung
stellen, auch dann nicht, wenn die 40 Züge zweifelsfrei
erreicht waren. Nur noch weitere sechs Züge, und
die Partie war schließlich beendet. Auch Andreas
Götz hätte den a-Bauern einfach mal laufen
lassen. So richtig mit viel Schwung. Aber bitte nicht
beraten und fotografieren während der Partie. "Sind
wir jetzt beim Essen oder bei der Biologie?" Das
Kulinarische musste sich noch gedulden, denn die pathologischen
Beobachtungen waren noch nicht ganz abgeschlossen, obwohl
Mathias Paul vergangenes Fleisch auf den Tod nicht ausstehen
kann.
Ein Autogramm nach dieser denkwürdigen
Partie hatte sich Christof Beyer von Friedrich Beckel
nicht erhofft. Allein ihn aber darauf anzusprechen,
ihn lediglich darum nett zu bitten, den schlichten
Geist einem letzten simplen Experiment zu unterziehen,
dieses krönende Testergebnis fehlte noch. "Nein,
bei Mannschaftskämpfen muss man nicht unterschreiben,
außerdem haben das alle hier gesehen."
Man hüte sich vor Menschen, die im Alter ihre Bestimmung
in der exhibitionistischen Verhaltensstörung finden.
Ladehemmung wäre dann Gift.
Und Etienne Engelhardt hatte übrigens
vorher lediglich die Punkte geteilt. Aber das spielte
keine Rolle mehr, denn Lion Pfeufer und Johannes Titz
hatten inzwischen ihre Partien ebenfalls remisiert,
so den ersten vier Punkten noch zwei halbe hinzugefügt,
damit den ersten Saisonsieg gesichert. Christof Beyer
konnte schließlich in aller Ruhe seine
Beobachtungen abschließen und den ganzen Punkt
abholen. Und dafür gab es Zeitzeugen, Schaulustige
und einen Paparazzo.
"Das ist nichts Neues, der streitet
immer", klagte der Benjamin dieser Mannschaft,
Dr. Thomas Prause, als bestünde dessen größte
Angst genau darin, sich im Alter einer solchen Verhaltenstransformation
hinzugeben, womöglich gar einer totalen Verbeckelung
anheim zu fallen.

Stellung nach dem
42. Zug a4-a5
42. ... Df3-f4
43. a5-a6 - Df4-d6
44. Dd8xd6 - Te6xd6
45. a6-a7 - Td6-a6
46. Te1-a1.
Danach war vom Leipziger Mannschaftsführer
nur noch ein finales Röcheln zu vernehmen und ein
letzter stummer Eintrag auf dem Spielberichtsbogen.
Das Gerontentum hinterließ den Eindruck, als würde
zumindest die eine Hälfte nächstes Jahr nicht
mehr in der 1. Landesklasse wieder gesehen werden können.
Pfarrer Greiner aus Plauen hält übrigens die
besten Reden. Bei ihm verkommt sogar das Wort Einzelhaft
nicht zur belanglosen biografischen Fußnote, sondern
flammt noch ein letztes Mal auf zur postmortalen Erotik.
SC Leipzig-Gohlis IV
|
|
SK König Plauen
II
|
2
|
:
|
6
|
Dr.
Weber, Bernd |
2043
|
|
Pfeufer,
Lion |
2069
|
½
|
:
|
½
|
Starke,
Burkhard |
2025
|
|
Lozovoy,
Sergej |
1984
|
0
|
:
|
1
|
Beckel,
Friedrich |
1978
|
|
Beyer,
Christof |
2003
|
0
|
:
|
1
|
Mauersberger,
Herm. |
2002
|
|
Götz,
Andreas |
2061
|
0
|
:
|
1
|
Piekarz,
Peter |
1943
|
|
Hörr,
Christian |
1894
|
½
|
:
|
½
|
Dr.
Prause, Thomas |
1904
|
|
Engelhardt,
Etienne |
1856
|
½
|
:
|
½
|
Schulze,
Peter |
1813
|
|
Titz,
Johannes |
1956
|
½
|
:
|
½
|
Türke,
Manfred |
1868
|
|
Paul,
Mathias |
2143
|
0
|
:
|
1
|
|
|