|
Große Köpfe und kleine
Geister
oder wenn Schmerzschreie bipolarer Störung Dauerremisgebote übertönen
"Es ist eine Landschaft, die,
weil von solcher Hässlichkeit, Charakter hat,
mehr als schöne Landschaften, die keinen Charakter
haben. Alle haben sie da versoffene, bis zum hohen
C hinaufgeschliffene Kinderstimmen, mit denen sie,
wenn man an ihnen vorbeigeht, in einen hineinstechen.
Zustechen. Aus Schatten zustechen, muss ich sagen,
denn in Wahrheit habe ich bis jetzt nur Schatten von
Menschen gesehen, Menschenschatten, in Ärmlichkeit
und in wie tobsüchtig zitternder Schwüle."
(Thomas Bernhard, "Frost")

So mancher große Kopf hat
hier drin schon geschrien und die Zuhörer
intim berührt. Als Speisegaststätte
ist der Treffer zwar keine Heimstatt, der Gaumen
wird hier nicht verwöhnt, eher der Hang zur oralen
Defäkation befriedigt, aber wer den Schlagabtausch
sucht, nach prekärer Unterhaltung zwischen Vergnügungs-Etablissement
und Nahkampfdiele lechzt, findet hier ein Zuhause, eine
ganz feine Adresse, die im längst Vergangenen
Treffsicherheit beweist, traditionell auf das Rustikale
setzt, ohne den Verfall zu vernachlässigen, und
für alle Angewiderten, die danach das Verlangen
haben, sich sofort reinigen zu müssen, weil sie
sich mit Dreck beworfen fühlen, gibt es immerhin
den Weg zurück durch den ausweichlichen Notausgang.
Ungeschehen bleibt danach nichts mehr, aber freier Atem
ist allemal wohltuend nach den Berührungen der
unangenehmsten Art.

Schachspieler kommen sich unterschiedlich
näher, berühren sich auf die unterschiedlichste
Art und Weise, können sich begegnen und laufen
doch einander vorbei. Was für eine DWZ Alexander
Klassen habe, wollte Andreas Götz noch vor
Partiebeginn wissen. Und so oft er bei ihm nachfragte,
genau so häufig schien er sie mit seinem Kugelschreiber
auf dem Partieformular nachzuschreiben, die übermittelte
Wertzahl. Immer und immer wieder, als traute er entweder
ihr nicht richtig, der genannten Wertzahl, oder aber
er misstraute seiner eigenen Schrift. Dass er beides
für unglaubwürdig hielt, war dabei nicht auszuschließen.
Die liebenswürdige Auskunft Alexander Klassens
war gerade verklungen, als das erste Hauptthema intoniert
wurde. Siegfried Kadner therapiert seine Berührungsängste
auf dem Schachbrett bekanntlich gern mit Remisgeboten
im Rudel, was offensichtlich ansteckend sein kann, denn
plötzlich fiel auch Frank Bicker wieder ein, warum
er den Sonntagmorgen so früh begonnen hatte, nämlich
Christof Beyer unbedingt Remis zu bieten, noch bevor
es in Vergessenheit geraten würde, um mit den Händen
rechtzeitig, also so schnell wie möglich, den halben
Punkt zu berühren. Da war zwar erst eine halbe
Stunde gespielt, aber nach einem vorherigen Qualitätsnotopfer
hatte Frank Bicker schon drei Züge lang den ersten
Verlust einer Realität zu erleiden. Völlig
ruiniert war dagegen bereits die Position von Sergej
Lozovoy. Roland Därr hatte mit einem Qualitätsopfer
den Stützpfeiler der Lozovoy'schen Stellung unreparabel
zertrümmert und kurz darauf geriet der SK König
Plauen gegen den VSC, wie in der vergangenen Saison,
in frühen Rückstand, wenn auch der Grund das
letzte Mal ein ganz anderer war. Sergej Lozovoy fühlte
sich nach seiner nun schon dritten Saisonniederlage
unangenehm an die Deutsche Mannschaftsmeisterschaft
im Jahr 2005 erinnert, denn auch da hatte er nach den
ersten vier Runden erst einen Punkt verbucht.
Mit der Behandlung der sizilianischen
Eröffnung war Andreas Götz nicht zufrieden,
aber in verwickelter Stellung gelang ihm plötzlich
der Ausgleich. Mathias Paul bekam von Siegfried Kadner
inzwischen wieder ein neues Remisangebot zugeraunt,
immer wenn drei Züge vorüber waren,
durchschnittlich betrachtet, ertönte das verbale
Remisbegehren, mindestens zwölf dieser Remisgebote
waren zu hören gewesen, jedes klang für das
geschulte Ohr ein kleines bisschen anders - eine Art
Remisgewinsel, vorgetragen als Zwölftonstück.
Frank Bicker ließ sich da mit seinem nächsten
Remisgebot immerhin fünf Züge Zeit. Der Qualitätsnachteil
hatte sich in diesem Zugabstand auf einen ganzen Turm
vergrößert, aber eben auch - und das völlig
unnötig - die Zeitnot bei Christof Beyer. In seiner
Stellungsverliebtheit ignorierte er das einzige Kriterium,
von dem aus überhaupt noch Ungemach in dieser Partie
zu erwarten war - der Zorn der Zeit. Als er mit der
einen Hand seine Dame berührte, mit der anderen
Hand nach dem gegnerischen Bauern griff, um diesen durch
Schlagen (natürlich mit der Dame) vom Brett zu
stellen, ertönte das zweite disharmonische Hauptthema
dieses Vereinsderbys, viel lauter als das erste und
auf der Tonleiter viele Halbtöne höher, als
hätte sich Frank Bicker einen Kapodaster auf die
Stimmbänder implantieren lassen, geschliffene Aufschreie,
wie sie sonst nur von einem gezüchtigten Knabenchor
zu hören sind, Angstschreie tiefer Betroffenheit
über die angewandte Komplexität der FIDE-Regeln,
denn berührt (abweichend von der Grundsätzlichkeit)
ein Spieler, der am Zuge ist, je eine Figur beider
Farben, muss er die gegnerische Figur mit seiner eigenen
Figur schlagen. Unprofessionell, dass Christof Beyer
- unter den Einflüssen von Zeitnot und gegnerischer
Lautmalerei - im 37. Zug zunächst eine relativ
simple Mattkombination übersah, danach den Faden
sogar komplett verlor, so dass ihm die zwei weit vorgerückten
Freibauern seines Gegners noch zum Verhängnis wurden.
Zuvor hatte Mathias Paul seine Partie gewonnen. Dass
es wohl jetzt nicht mehr Sinn hätte, Remis zu bieten,
schwappte kurz zuvor noch von der Stellung Siegfried
Kadners herüber, vergleichsweise im angenehmen
Sound. Am Schluss resümierte er, dass es wenigstens
ein paar Züge gewesen seien, die sie gemacht
hatten. Ein paar sogar gänzlich ohne Remisgebot.
Dem Angriffsdruck Gerhard Rehbeins, dieses
Mal hatte er nicht mit seinem geliebten Doppelschritt
auf der b-Linie eröffnet, sondern den Bauern nur
bis b3 gezogen, musste sich Daniel Butzke geschlagen
geben. Vom Damenfang wurde er zwar noch verschont, aber
gegen die nachfolgenden Mattdrohungen fand er keine
Verteidigung mehr. Wenn sich Etienne Engelhardt mit
beiden Händen die Halsschlagader zudrückt,
überträgt sich das interaktiv auf den augenblicklich
ihm gerade zur Verfügung stehenden freien Raum,
den er braucht, um sich im Caro-Kann wohl zu fühlen,
gerade so viel Platz darf es sein, dass er dabei nicht
erstickt. Fast verräterisch offensiv wirkte da
der Springer auf der vierten Reihe, der sich dann plötzlich
siegreich auf b2 in Felix Zeuners lange Rochadestellung
opferte. Glücklich gelang den Königen
dann sogar noch einmal die Führung zum 4:3, als
Christian Hörr in schlechterer Stellung überraschend
gewann. Vaceslav Ananev war der zweite Spieler an diesem
Tag, dieses Mal auf VSC-Seite, der für die rücksichtslose
Behandlung der Bedenkzeit bestraft wurde. In der letzten
noch laufenden Partie hatte sich längst abgezeichnet,
dass Lion Pfeufer diese Führung nicht würde
retten können. Stefan Merkel kontrollierte schon
lange das Geschehen, strategisch war die Boleslawski-Partie
längst entschieden und er behielt auch die Nerven,
den vollen Punkt zum verdienten Ausgleich zu holen.
Ein finaler Streich auf dem Kontrabass.

Zorn der Zeit.
Schwarz überschritt in besserer Stellung nach 39.Td1-d2
die Zeit.
Der Schrei war noch nie ein Symbol der
Vergeistigung, er tötet immer ab und lebt ausschließlich
für die totale Auslöschung des Geistes.
Er hält kein freies Plätzchen für das
Romantische bereit und verabscheut das Realistische
zutiefst. Niemals das Beobachtete genau aussprechen,
es sich nicht zu sagen trauen, es niemals herausschreien,
auch wenn es weh tut, erst dann ist man endlich in der
seelischen Tiefe angekommen, die den Symbolismus ausmacht.
Andächtig und ein bisschen ambitioniert
kommt der Mensch am Ende immer zur Ruhe. Das gilt auch
für das umkämpfte Duell der beiden Plauener
Schachvereine. Im Remis, und also im Teilen der Punkte
liegt der Frieden.
VSC Plauen 1952
|
|
SK König Plauen
II
|
4
|
:
|
4
|
Merkel,
Stefan |
1921
|
|
Pfeufer,
Lion |
2069
|
1
|
:
|
0
|
Därr,
Roland |
1960
|
|
Lozovoy,
Sergej |
1984
|
1
|
:
|
0
|
Bicker,
Frank |
1965
|
|
Beyer,
Christof |
2003
|
1
|
:
|
0
|
Klassen,
Alexander |
1960
|
|
Götz,
Andreas |
2061
|
0
|
:
|
1
|
Ananev,
Vaceslav |
1891
|
|
Hörr,
Christian |
1889
|
0
|
:
|
1
|
Zeuner,
Felix |
1682
|
|
Engelhardt,
Etienne |
1884
|
0
|
:
|
1
|
Kadner,
Siegfried |
1887
|
|
Paul,
Mathias |
2143
|
0
|
:
|
1
|
Rehbein,
Gerhard |
1876
|
|
Butzke,
Daniel |
1933
|
1
|
:
|
0
|
|
|