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Wofür man in der Orangerie einen
Amboss braucht
oder über Sergej
Lozovoys Raub der Sabinerin im Caro-Kann
"Die Leute, wie ich es selbst
mit Schrecken erlebt habe, kommen um neun Uhr früh
an, stellen sich unter die Dusche und laufen auf eine
Tennispartie, fallen tot um und sind um zwei Uhr Nachmittag
schon auf dem Friedhof. Der Süden beseitigt die
Toten sofort."
(Thomas Bernhard, "Beton")
"Schon das Wort Orangerie hat
mich immer fasziniert, hatte ich zu Gambetti gesagt,
es war das Lieblingswort meiner Lieblingswörter."
(Thomas Bernhard, "Auslöschung")
"Eigenartig, alle Löwen,
die ich kenn', haben orange als Lieblingsfarbe."
(Peter Luban)
"Jawohl, die Apfelsinen unten
rein und den Amboss obendrauf." (Peter Paul)

Wer von Andreas Götz jemals einen
orangefarbenen Hefter überreicht bekommen
hat, für den ist es Zeit geworden, höchste
Zeit, endlich in grundlegende Schachgeheimnisse
eingeweiht zu werden, nicht jene sind gemeint, die Andreas
Götz selbst herausgefunden hat, sondern ausschließlich
solche, die John Nunn aufgeschrieben hat und
von Andreas Götz mit Kugelschreiber unterstrichen
wurden, im orangefarbenen Hefter, der Christof
Beyer unbedingt ausgehändigt werden musste, weil
es nötig war, ihn zu unterstützen, so schnell
wie möglich von der hässlichen Zeitnotsucht
loszukommen, die Zeitnot für immer, und also für
alle Zeit abzuschütteln, und um diesen immer wiederkehrenden
Zeitmangel bewältigen zu können, ist pünktliches
Erscheinen zur Partie der offensichtlichste und einfachste
Weg, Zeit zu sparen, noch lange bevor überhaupt
über den ersten Zug nachgedacht werden kann. Und
so erschien Christof Beyer auch zum Therapiebeginn,
zur Partie gegen Allianz Leipzig, eine Viertelstunde
vor neun Uhr früh in der Orangerie des Hotels
Alexandra, während alle anderen, abgesehen
von Lion Pfeufer, einige Minuten später eintrafen.
Zeitnotmentor Andreas Götz betrat sogar
erst ganz kurz vor neun, also zum ehemaligen
Beyer'schen Zeitpunkt, als Letzter die Wettkampfstätte.
Da hatte dessen Gegner, Jürgen Pohlers, schon ein
paar Minuten im schnaufenden Mandolinentiefgang
das fünfte Brett gesucht (nur Jochen Franz vermag
es sonst noch, einen so großen Schatten mitten
auf ein fremdes Schachbrett zu werfen), bevor
er sich schließlich nach dem Weg zum fünften
Brett bei Christof Beyer erkundigte, bei dem der
Platz auf der gegenüberliegenden Brettseite noch
frei zu sein schien, aber nicht für Jürgen
Pohlers, die Weichen nämlich noch nicht gestellt
waren, ob Kontrahent Thomas Filipiak, wenn schon nicht
rechtzeitig, so doch innerhalb der nächsten Stunde
eintreffen würde, der Sitzplatz aber schließlich
unbesetzt blieb, so dass die Plauener mit einem kampflosen
Punkt in Führung gingen, während Christof
Beyer zwar auch den zweiten Zeitnottherapieschritt erfolgreich
absolvierte, nicht einen Augenblick länger am ersten
Zug überlegte als ihn sofort auszuführen,
aber dieser erste Zug sollte eben auch gleichzeitig
der einzige bleiben, so dass die erste Zeitnottherapiesitzung
eine ganz kurze wurde, sie also abgebrochen werden musste,
denn um vollständig von der Zeitnot geheilt
zu werden, bedarf es unbedingt eines Gegners, der auf
der anderen Seite des Schachbretts die Uhr betätigt.
Unentschlossenheit in der sizilianischen
Eröffnung war bei Lion Pfeufers Gegner ersichtlich.
Frühe Zeitnotsymptome zeichneten sich hier ab,
während am Brett dahinter ein ganz anderes Tempo
angeschlagen wurde, hier beobachtet werden konnte, dass
es für den Weißspieler im Caro-Kann durchaus
möglich ist, schon im elften Zug auf die Rochade
verzichten zu müssen, wenn der König nach
einem Schachgebot nämlich nur noch auf das Feld
f1 ausweichen kann, aber gerade in dieser speziellen
Position fühlte sich Sergej Lozovoy, als Erfinder
dieser Neuerung, unheimlich wohl. Ganz zügig returnierend,
wie mit einem Tennisschläger in der Hand, spielte
er bis dahin die Eröffnung, als hatte er die schwarze
Dame zu diesem Schachgebot extra verleiten und so unbedingt
auf das ungedeckte Feld a5 locken wollen, um nun mit
den taktischen Verwicklungen zu beginnen, das Feuer
auf dem Königsflügel zu entfachen, zunächst
durch das Öffnen der g-Linie, auf der nur wenig
später zwei weiße Schwerfiguren auf schwarze
Arglosigkeit trafen. Als David Kober die Mattdrohung
abwenden wollte, sich mit Turm g4, gedeckt nur vom Bauern
auf f5, zwischen die weiße Dame auf g5 und den
weißen Turm auf g1 stellte, war es längst
zu spät. Das Matt war bereits nicht mehr abzuwenden,
der schwarze Turm auf g4 konnte einfach überrumpelt
werden, ohne dass der Bauer auf f5 wiedernehmen konnte,
denn die weiße Dame auf g5 hatte nicht nur den
schwarzen König im Würgegriff, sondern sie
war bereit, noch einen rasanten Haken zu schlagen, quer
bis zum anderen Ende der fünften Reihe zu eilen,
um jene ungeschützte und ahnungslose schwarze Dame
auf a5 zu entführen, die immer noch dachte, einer
Einladung beizuwohnen, mitten auf einem friedlichen
Volksfest mit viel Musik und Schabernack zu sein.
Und als Daniel Butzke in einer nahezu symmetrischen
Stellung der französischen Abtauschvariante mit
seinem Gegner im 16. Zug die Punkte teilte, beide Seiten
hatten sich früh gegen eine Konfrontation entschlossen,
spätestens die beiderseitige lange Rochade bekundete
den gemeinsamen Willen zur Fortsetzungsstarre, lagen
die Plauener Gastgeber bereits mit 2½:½
Punkten in Führung, aber noch nicht beruhigend.
Nicht ohne Grund begann jetzt Christian Hörr zum
ersten Mal länger nachzudenken, weil er von seinem
Gegner im zehnten Zug ein Remisgebot bekam, mittendrin
in einer entscheidenden Phase dieses fünften Spieltages:
Andreas Götz war in der Nimzowitsch-Indischen Verteidigung
in eine völlig hoffnungslose strategische Lage
geraten, Olaf Hilbig kämpfte im königsindischen
Aufbau immer noch um Ausgleich und Etienne Engelhardt
litt schon wieder unter beängstigender Atemnot
im Caro-Kann. Nur Lion Pfeufer hatte inzwischen etwas
mehr als Ausgleich erreicht, so dass sich Christian
Hörr zu diesem Zeitpunkt mehr als ein 4:4 nicht
zusammenreimen konnte, was hier eigentlich gespielt
wird, und was nicht, konnte er beim besten Willen,
selbst bei der nüchternsten Betrachtung,
zu diesem Zeitpunkt nicht erahnen. Dass bei diesem Spielstand
beispielsweise Olaf Hilbig und Etienne Engelhardt so
schnell ein Remis zugesprochen bekamen, überraschte,
und so konnte zwischendrin auch Christian Hörr
beruhigt in das gegnerische Friedensangebot einschlagen,
wenn er auch nach erstauntem Blick auf die längst
draußen auf dem Gang aufgebaute Analysestellung,
die er als seine eigene wiedererkannte, mit sich selbst
unzufrieden war. Andreé Rosenkranz verkündete
dort nur wenig später, dass der Mannschaftskampf
doch noch einmal spannend werden könnte: Andreas
Götz hatte schon die ganze Zeit über die
Sinnlosigkeit seiner Züge leise vor sich hin
geschimpft, naturgemäß in ständiger
Wiederholung. Mal ging sein nervöser König
einen Schritt auf den Abgrund zu, dann wieder ruhelos
einen zurück, Kg8-h8, dann wieder Kh8-g8, währenddessen
fortwährendes Kopfschütteln, und außerdem
schüttelte er seinen Kopf über das vor ihm
Zusammengezogene, das Drohende, denn als Jürgen
Pohlers im 22. Zug mit Turm g3 den finalen Königsangriff
einleitete, war die schwarze Verteidigungsstellung nicht
mehr zu retten. Sollte eine unheilvolle Allianz ganz
am Ende doch noch Kompensation erreichen, den Damenraub
also rächen können? Aber dafür hätte
bei Lion Pfeufer am Spitzenbrett schon einiges schiefgehen
müssen. Dessen Position war sehr komfortabel, Läufer
gegen Springer in einer offenen Stellung, das hatte
bereits Tarrasch als die kleine Qualität
bezeichnet, so Andreas Götz. Und plötzlich
holte Lion Pfeufer zum Schlag aus, einmal richtig auf
den Amboss hämmern, danach sehnte er sich wieder
einmal, und so opferte er unerwartet einen Läufer
in die weiße Königsstellung, auch wegen der
dramatischen Zeitnot seines Gegners, wie er später
verriet, er glaubte nicht mehr daran, dass Jörg
Bethmann danach noch genügend Zeit haben würde,
eine rettende Verteidigung zu finden. Besser hätte
es auch John Nunn weder schlussfolgern noch umsetzen
können. Nachdem das Oberhaus im Treffer
zuletzt noch versagte, sorgte es in der Orangerie des
Hotels Alexandra nun für Wiedergutmachung.
Dass er gut gespielt habe, wollte Sergej Lozovoy
dieses Mal erwähnt wissen - und darauf sollte Athene
Noctua mit dem Finger deutlich zeigen. Glücklich
trug Sergej Lozovoy auf seinen Armen die Sabinerin nach
Hause, Lion Pfeufer hielt in seinen Händen dafür
immerhin die Partie des Tages, die nicht nur eine wunderschön
entschiedene war, sondern zugleich die entscheidende
zum 5:3-Endstand.

Diagonaler Einschlag.
21.h3 Lxf3! 22.gxf3 Dh4 23.Sg4 Dxh3
24.De2 f5 25.Dg2 Dh4! 26.Tae1 fxg4 27.fxg4 Tg5 28.Le2
Le3+ 01
Andreas Götz schüttelte noch
immer den Kopf. Vielleicht lag es daran, dass er nicht
rechtzeitig zur Partie kam, denn wenn man im orangefarbenen
Hefter über die Schachgeheimnisse von John
Nunn liest, erfährt man, dass Pünktlichkeit
der erste Schritt in die Verspätung ist, weil
da schon die Zeitnot unerbittlich beginnt. Dabei wollte
er doch hundert Prozent in dieser Saison holen, alle
Partien gewinnen. Stattdessen kam ihm nur noch das Wörtchen
sinnlos, mit dem er sein Kopfschütteln kommentierte,
in den Sinn. Zum Schluss wenigstens noch die Schachuhren
und die Figurenschachteln in die große Kunststoffkiste
stapeln, zuerst die Figurenschachteln und dann die Schachuhren,
nein, zuallererst die Schachuhren - und darauf dann
die Figurenschachteln, so dass die schweren Figurenschachteln
die Schachuhren in der Kunststoffkiste unter sich begruben,
und also nicht mehr zu sehen waren, immer wieder stapelte
Andreas Götz eine volle Figurenschachtel auf eine
Schachuhr so lange übereinander, bis auch Peter
Paul ins Kopfschütteln geriet, und also ins Kopfschütteln
einstimmte, aus dem alleinigen Götz'schen Kopfschütteln
ein gemeinsames Unverständnis entstand, aber über
ganz unterschiedliche Dinge: "Jawohl, die Apfelsinen
unten rein und den Amboss obendrauf. Iech koar net hi'gucken."
Manchmal ist die Hilfe, die gegeben werden sollte, noch
tausendmal schmerzhafter als die Verlassenheit, die
bisher immer entstanden ist, wenn nicht einmal der Versuch
der Hilfe unternommen wurde, weil alle, die hätten
helfen können, nach dem Kopfschütteln über
alles Sinnlose dieser Welt nur noch das Weite gesucht
haben, alles lächerlich ist, weil die Uhr gerade
anzeigt, dass es bis zwei Uhr am Nachmittag noch
eine ganze Stunde Zeit ist. Nur nicht in Zeitnot kommen.
SK König Plauen II
|
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WB Allianz Leipzig
|
5
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:
|
3
|
Pfeufer,
Lion |
2069
|
|
Bethmann,
Jörg |
2078
|
1
|
:
|
0
|
Lozovoy,
Sergej |
1984
|
|
Kober,
David |
2096
|
1
|
:
|
0
|
Hilbig,
Olaf |
2063
|
|
Rosenkranz,
Andreé |
1973
|
½
|
:
|
½
|
Beyer,
Christof |
2003
|
|
Filipiak,
Thomas |
1905
|
+
|
:
|
|
Götz,
Andreas |
2061
|
|
Pohlers,
Jürgen |
2003
|
0
|
:
|
1
|
Hörr,
Christian |
1889
|
|
Wendt,
Horst |
1831
|
½
|
:
|
½
|
Engelhardt,
Etienne |
1884
|
|
Just,
Anita |
1957
|
½
|
:
|
½
|
Butzke,
Daniel |
1933
|
|
Bernhardt,
Lutz |
1736
|
½
|
:
|
½
|
|
|