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Archipel Gulag
oder: Wie man sein Turnier
unattraktiv macht
Zum Warmwerden für die neue Saison
war der Brauhauscup in Einsiedel in den letzten Jahren
stets ein dankbares Turnier. Herausfordernd und doch
auch zum Punkteholen. Familiär und doch ernst.
So sollte es auch diesmal werden, doch von seinem Charme
hat das Turnier bei seiner sechsten Auflage praktisch
alles eingebüßt.
Für die Wahl-Chemnitzer Christian
Hörr, Etienne Engelhardt und Tobias Franz ging
es um eine gesunde Mittelfeldplatzierung, für Lutz
Espig um die Preisgeldränge. Und eigentlich verlief
soweit alles normal: Lutz holte zunächst 3 aus
3 und gewann dann auch noch glücklich dank eines
Dameneinstellers gegen Ovsejewitsch (2586). Doch für
ganz vorne reichte es auch diesmal wieder nicht. Dafür
waren die russischen Turniertouristen einfach zu zahlreich
und auch die Kaderspieler sind immer mal wieder gut
für einen GM-Skalp. Am Ende 5½ aus 8 und
Platz 10 für Lutz.
Nach seinem Amoklauf gegen Karl Gündel
steigerte sich Christian Hörr und zeigte auch gegen
Manuel Feige (inzwischen 2421) eine ansprechende Leistung.
Es folgte das übliche Ping-Pong und in der letzten
Runde ein Akt der Großmütigkeit. Schade und
irgendwo auch wieder folgerichtig, dass Anja Schulz
den Situationswitz nicht erkannte, sich artig und ängstlich
für das Remis bedankte und offenbar tatsächlich
nicht merkte, dass sie gerade eine Figur eingestellt
hatte. Mit 4½ Punkten konnte Christian immerhin
seine Wertzahl und seinen Setzrang einigermaßen
bestätigen.
Eddi und Tobias konnten sich leider nie
richtig aus dem Mittelfeld lösen. Ersterer schaffte
durch seinen Schlussrundensieg immerhin ebenfalls 4½
Zähler und auch Tobi hatte bereits eine klare Gewinnstellung
gegen das Ehrenfriedersdorfer Talent Christoph Peil
erspielt. Doch dann passierte das Unfassbare und es
muss leider sein, näher darauf einzugehen.
Aufgrund der schlechten Erfahrungen mit
Zeitnotschlachten in den letzten Jahren und auch wegen
der ungünstigen Terminierung des 3. Oktober wurde
das Turnier in acht statt sieben Runden, dafür
aber mit verkürzter Bedenkzeit gespielt. 75 Minuten
für 40 (!) Züge plus 30 Sekunden Bonus je
Zug, danach 15 Minuten extra ist die kürzeste Bedenkzeit,
die die FIDE überhaupt zulässt. Dass der Zeitbonus
auch seine Vorteile hat, haben wir schon mehrfach in
Pardubice gesehen. Allerdings ist es praktisch unmöglich,
in 95 Minuten 40 gescheite Züge zu vollbringen.
Das Ganze bekommt spätestens ab dem 20. Zug Schnellschachcharakter
und produziert in der Konsequenz viele haarsträubende
Fehler und unverdiente Siege. Nicht nur in der Touristenklasse,
sondern auch in der ersten Reihe (siehe Espig gegen
Ovsejewitsch) wurden zahlreiche Partien durch irrwitzige
Patzer entschieden. In keinem Turnier vorher habe ich
Awerbach und Pachman so verhöhnt gesehen.
Das eigentliche Problem ist aber, dass
für eine Verkürzung der Bedenkzeit überhaupt
kein Grund bestand. Jede unbedeutende Stadtmeisterschaft
wird wochentags 18:30 Uhr mit üblicherweise 90
für 36 plus 30 gespielt. Am Montag und Dienstag
jedoch begann die Runde in Einsiedel schon 17:30 Uhr
und war so schon 21 Uhr beendet. Der Unsinn zeigte sich
besonders deutlich, als man die Nachmittagsrunde am
Sonntag eine Stunde vorziehen wollte, nur um festzustellen,
dass eine Seeschlangenpartie bei diesem Modus auch über
mehr als vier Stunden gehen kann.
Nehmen wir die lächerliche Bedenkzeit
als gegeben hin, werden wir feststellen, dass wir dafür
elektronische Uhren brauchen. Mittlerweile ist die Mehrheit
der Schachspieler damit ganz gut vertraut. Doch gegen
fehlerhafte Mechatronik ist selbst der Profi machtlos.
So passierte es Paul Zwahr, dass sein Gegner 20 Minuten
überlegte und plötzlich seine eigene Uhr wieder
lief. Derselbe verlor ein simpel gewonnenes Turmendspiel,
weil ihm die Uhr keinen Bonus mehr geben wollte. Wegen
der Hühnerstallatmosphäre passierte es regelmäßig,
dass Spieler die falsche Uhr drückten und somit
für Aufruhr sorgten so auch bei Turniersieger
Ivanov und IM Bogdanovich.
Das Ganze gipfelte in der letzten Runde,
als zunächst in der Partie Hälzig gegen Nötzel
von ersterem die Zeit überschritten wurde, obwohl
dieser gar nicht am Zug war. Zwar zeigte sich Nötzel
sichtlich mitleidig, die Partie wurde jedoch per Tatsachenentscheidung
0:1 gewertet. Der Vorfall konnte letztlich nicht aufgeklärt
werden. Doch nur wenige Minuten später geschah
das gleiche in der Partie von Tobias Franz gegen Christoph
Peil. Tobi hatte bereits einen klaren Vorteil und im
39. Zug noch weit mehr als eine Minute Bedenkzeit. In
der Annahme, die Uhr gedrückt zu haben, was später
drei Kiebitze auch bestätigen konnten, vertiefte
er sich wieder in die Stellung. Tobis Uhr lief trotzdem
auf Null. Nach einiger Konfusion wurde erneut Schiedsrichter
André Martin herbeizitiert, der sich sogar zu
einer Zeugenbefragung hinreißen ließ. Da
auch diese nicht eindeutig klären konnte (oder
wollte), was passiert war, wurde kurzerhand erneut auf
0:1 entschieden.
(Ergänzung: Vor diesem Hintergrund
liest es sich wie eine Farce, dass im offiziellen
Bericht die 4,5 Punkte des Christoph Peil so in
den Himmel gelobt werden. Von diesen war einer kampflos
und einer praktisch geschenkt. Zweifelsfrei hat der
Junge Talent und schönes Schach gespielt, aber
genau deswegen sollte man sich mit Superlativen zurückhalten.)
Es sind Momente wie dieser, die einem
die Lust am Schachspielen nehmen können. Tobi war
zwar untröstlich, aber nicht jeder hätte sich
einfach so mit derartig viel Ignoranz abgefunden. Ausgerechnet
in der Patzerliga, wo es nun wirklich um nichts geht,
ist Fingerspitzengefühl gefragt. Dieselben Leute,
die heute auf Tatsachenentscheidung plädieren,
fordern das nächste Mal Fair-Play, wenn beim kleinen
Christoph das Blättchen fällt und werden dann
nicht selten persönlich und beleidigend. Und vielleicht
tut es auch einem FIDE-Schiedsrichter ab und zu gut,
eine Blitzpartie mit elektronischen Uhren zu spielen,
damit er merkt, dass Technik gelegentlich auch nicht
das tut, was sie soll.
Gut, auch damit kann und muss man sich
abfinden. Was von einer weiteren Turnierteilnahme allerdings
abhält, sind die lagerartigen Zustände im
Spielsaal. Noch letztes Jahr war man teilweise in die
benachbarte Turnhalle ausgewichen. Wenn man einen Außenstehenden
gefragt hätte, ob er in den kleinen Raum in der
Brauerei fünf Tage lang mehr als 100 Menschen pferchen
will, wäre mit Sicherheit ein Hinweis auf deutsche
oder russische Kriegsverbrechen gekommen. Von allen
Seiten wird man beduftet und behustet, nicht selten
mit Klimagasen bzw. zähem Auswurf von ganz tief
unten. Eine Krankschreibung für den Rest der Woche
ist unvermeidlich. 25 Grad, Heizung auf, Fenster zu.
In der Tierhaltung wäre das schon eine Straftat.
Ganz wichtig ist zudem, dass von den schummrigen Deckenlampen
wenigstens das Wandbild und die Bar angestrahlt werden.
Weiterhin fragt man sich, warum ein Spieler
erst drei Runden lang nicht erscheinen muss, damit er
aus dem Turnier genommen wird. Wozu gibt es einen Meldeschluss,
wenn dann in der 1. Runde drei kampflose Paarungen entstehen?
Kann man nicht wenigstens die Fehlenden gegeneinander
paaren? Dass auch die Live-Übertragung zunächst
nicht funktioniert hat, ist lediglich eine Randnotiz.
Es mag hart klingen, aber der 6. Brauhauscup
hat sich am Rande der Menschlichkeit bewegt. Als Höhepunkt
muss da schon das Beuteobjekt von Stefan Kapp und Jens
Wiedersich von Samstagnacht gelten: ein pinkfarbener,
hoffentlich weiblicher Stringtanga. Das wäre übrigens
auch der einzige Grund, doch noch mal teilzunehmen:
Anspruchslosigkeit. Enttäuschung ausgeschlossen.
Endstand (98 Teilnehmer)
Pl.
|
Name
|
Verein
|
DWZ
|
Pkt.
|
1.
|
GM Ivanov, Michaeil
|
SF Bad Mergentheim
|
2455
|
7
|
2.
|
GM Ovsejewitsch, Sergej
|
SK Gau-Algesheim
|
2568
|
6½
|
3.
|
GM Krivoshey, Sergej
|
SV 1920 Hofheim
|
2500
|
6½
|
4.
|
IM Bogdanovich, Grigorij
|
SF Bad Mergentheim
|
2352
|
6
|
5.
|
IM Womacka, Mathias
|
USG Chemnitz
|
2467
|
6
|
10.
|
GM Espig, Lutz
|
SK König Plauen
|
2320
|
5½
|
32.
|
Hörr, Christian
|
SK König Plauen
|
1894
|
4½
|
34.
|
Engelhardt, Etienne
|
SK König Plauen
|
1856
|
4½
|
66.
|
Franz, Tobias
|
SK König Plauen
|
1756
|
3½
|
|
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