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Bullet the blue sky
Ein halbvolles Sportstück zwischen Worms und Bad Wiessee
"Der Goldpreis - das ist Substanz
plus Glaube und Angst minus Zinsen."
(Alan Greenspan)
Bad Wiessee, Erlangen und Worms an
einem Wochenende zu besuchen, ist keine Herausforderung
für einen Städtebetrachter, der kein besonderer
Städtereisender sein muss, obwohl er unweigerlich
einer wird, ein ganz besonderer Städtereisender,
sobald er Bad Wiessee, Erlangen und Worms besucht, zugleich
am letzten Oktoberwochenende. Um an den 8. Offenen Internationalen
Bayerischen Meisterschaften, am 19. Open der Schachschule
Erlangen und dem 1. Wormser Nibelungenopen gleichzeitig
teilzunehmen, genügt es nicht, ein routinierter
Dreistädtereisender zu sein, nein, ein durch und
durch exaltierter Schachspieler, ein simultaner Dreistädteschachspieler,
muss man sein, professionell-wahllos in den Teilnehmerlisten
der Veranstalter vagabundierend, bereit für die
Städte Bad Wiessee, Erlangen und Worms, naturgemäß
zeitgleich.
Großmeister (GM) Michael Prusikin
hatte sich in Erlangen zu früh auf GM Victor Gavrikov
gefreut. Nach nur 26 Partiezügen während ihrer
Begegnung in der 2. Bundesliga in Plauen am Wochenende
davor, schien der Forchheimer nun auch auf den 27. Zug
gespannt zu sein, mit sichtbaren Tendenzen zur ungezügelten
Neugier auf den 28. Zug. Aber dazu hätte sich Prusikin
nach Worms begeben müssen, und ob er dort Befriedigung
gefunden hätte, bleibt ungewiss, weil Gavrikov
seitdem auffällig mit den Zügen spart, tröpfchenweise
nur sein Zügeverbrauch, zuletzt zweimal 19 Züge.
Da erscheint es besser, wenn beide Großmeister
getrennt voneinander üben: im neuen Schachprofigewand,
der eine, gelebte Schachzügeaskese im alten Großmeistergewohnheitsjanker,
dem ganz und gar das Zügige fehlt, der andere.
Ungewohnt großräumig präsentierte
sich der Pfarrsaal der St. Heinrichskirche dieses Mal
für die neue Auflage des Opens der Schachschule
Erlangen. Die Teilnehmerzahl hatte sich gegenüber
dem letzten Mal von 98 auf 56 nahezu halbiert, auf die
niedrigste Beteiligung seit 19 Jahren, wie Veranstalter
Willi Kaspar sie beschrieb, die Auflösungserscheinungen
innerhalb nur eines einzigen Jahres. Noch einmal zurück
auf Los, ganz von hinten angefangen, um über die
Ursache nachzudenken, ständig auf der Suche nach
irgendetwas, einer Andeutung wenigstens; wäre sie
doch zum Greifen nahe, die handfeste Erklärung
nach alledem. Nichts ist schlimmer, als zu sehen, aber
die Worte nicht zu finden, und doch war sein Blick immer
fest nach vorn gerichtet, ohne Schnörkelchen, so
kurz vor dem Jubiläum, der zwanzigsten Turnierauflage
im nächsten Jahr. Da konnte er es einfach nicht
lassen, Veranstalter zu sein.
Zwar ließ sich durch künstliche
Raumteilung die gewonnene neue Großzügigkeit
für einen Analyseraum nützlich verstecken,
der entstandene substanzielle Verlust blieb jedoch nicht
gänzlich unverborgen. Die Titelträger, die
ein Markenzeichen für dieses Open sind und in erster
Linie jenes Nachwuchsturnier aufwerten, waren aber auch
dieses Mal mit von der Partie. Neben dem eingangs erwähnten
Favoriten aus Forchheim, der Internationale Meister
Victor L. Ivanov aus Bad Königshofen und der Dresdner
FIDE-Meister Cliff Wichmann, der in der letzten Zeit
durch multiple Spielmanie auf der Suche nach mehr ist,
nach noch sehr viel mehr, und dem bei seinem steilen
Lauf ein wochenendterminiertes Turnier geradezu ein
willkommenes Etappenziel war. Wenn es sein musste, auch
mit schmeichelhafter Punkteteilung gegen unerbittlichen
Nachwuchs, weil es beim Bullet grundsätzlich nicht
so präzise auf die Reihenfolge der Eröffnung
ankommt, eine Verwechslung in der Turnierpartie hingegen
aber den strebsamen Schachschüler schon mal für
einen Augenblick vergessen ließ, dass ihm ein
FIDE-Meister gerade was vormachte, etwas Überhebeltes
im Vortrag der französischen Eröffnung auf
dem immer wieder neuralgischen Punkt e5, so dass die
Dame danach um Fesslung in der Läuferdiagonalen
f4-c7 nicht mehr lange zu betteln brauchte, ihren Bewegungsspielraum
nur noch im Bereich der Zugwiederholung fand. Doch gerade
dieses Kurzremis schützte Cliff Wichmann in den
letzten beiden Runden vor stärkerer Gegnerschaft.
Er bevorzugte stattdessen einen Konkurrenzkampf im Vorübergehen,
ein Windschattenpunkten. Im Falle eines Sieges über
Gerd Jahrsdörfer blieb ihm sogar noch eine theoretische
Aussicht auf den Gesamtsieg, wenn man mit den Buchholzpunkten
würfelt und in der Partie am Spitzenbrett, Ivanov-Prusikin,
sich der Großmeister würde durchsetzen können,
der ebenfalls schon unfreiwillig einen halben Punkt
abgegeben hatte, und zwar gegen Gerd Jahrsdörfer.
Manchem Turnierteilnehmer schärfte
es erst jetzt den Blick, dass er schon jahrelang einem
Turnier einer Schachschule aufgesessen war. Dominik
Nöttling vom SC Pottenstein war tatsächlich
erst sieben Jahre alt. Großes Ausrufezeichen!
Und das war als Turnierabschluss einfach zu viel, wenn
man am Nachmittag davor schon wie Don Quichotte gegen
Ursula Ulmer gekämpft hatte und in seiner unmittelbaren
Nähe Jogginghosen beobachten musste, die vorn mit
kreisrunden Ornamenten verziert waren, von denen selbst
der Hersteller in seinem Designwahn nicht zu träumen
gewagt hätte. Gedanken aufzuschreiben in befreienden
Briefen an den Schiedsrichter, ist die einzige und zumal
längst bewährte Möglichkeit, das Durchlebte
therapeutisch zu verarbeiten, auch wenn die Zeit längst
abgelaufen war.
Daumen
hoch für das operative Nachwuchsbewusstsein aus
Plauen, das längst eine weite Verbreitung gefunden
hatte. Zwölf Plauener Erlangen-Fans waren diesmalig
auf Pilgerfahrt. Die Ergebnisse liegen zwischen einzelnen
hellen Momenten, durchschnittlich Bemerkenswertem und
finsterer Erinnerung. Rebecca Reh sicherte sich mit
drei Punkten ungefährdet den Sonderpreis "Beste
Jugendliche". Auffällig ausdauernd und zudem
erfolgreich spielte Peter Dietzsch, der insgesamt mit
2½ Punkten belohnt wurde, in der letzten Runde
übrigens mit einem Remis gegen die deutlich unter
Form spielende Theresa Reh. (Vereintes Bambiland, selbst
die aus der DWZ abgeleitete Spielstärke ist letztlich
eine Zwillingssache.) Irgendwie litt fast der gesamte
Nachwuchs des SK König Plauen vor sich hin. Für
Peter Coburger (0,5 Punkte) wurde es am Ende gar ein
totales DWZ-Vernichtungsturnier. Etienne Engelhardt
(3,0 Punkte), Christian Hörr (3,0 Punkte), Frank
Gerbeth (3,5 Punkte) und Christof Beyer (3,5 Punkte)
blieben dagegen im Rahmen ihrer Erwartungen. Frank Gerbeth
beendete das Turnier (mit einem längst überfälligen
Satz über DWZ 1800) auf Platz zehn, Christof Beyer
verteidigte seinen achten Rang vom Vorjahr.
An den separierten Tischen wurde tatsächlich
veranstalterwunschgemäß bis zum Schluss um
die Entscheidung gerungen. Cliff Wichmann probierte
am Verfolgerbrett noch einmal seine französische
Variante. Dieses Mal allerdings nicht nur in der richtigen
Reihenfolge, sondern auch mit siegreicher Abschlusspointe,
fast großmeisterlich sein Erlanger Auftritt -
ein Remis und den Rest gewonnen, immer mit einem Hauch
von schneller Selbstverständlichkeit - ohne den
Himmel auch nur für einen Moment aus dem Blick
zu verlieren. Aber auch Michael Prusikin gelang ein
Schwarzsieg gegen den bis dahin verlustpunktfreien Victor
L. Ivanov, und im abschließenden Würfelspiel
der Buchholzpunkte sicherte er sich den Gesamtsieg.
Nach seinem überraschenden Erfolg 1997 bewegte
sich Prusikin dieses Mal gänzlich im Lauf des Erwarteten.
Da Ivanov nur das Russische verstand,
nicht aber der Veranstalter, der bekanntlich zuweilen
gern ins Englische ausfliegt, was mit Ivanov ein glänzendes
Selbstgespräch ergeben hätte, blieb das Deutsche
immer noch der beste Verständlichkeitscluster.
"Herzlichen Glückwunsch,
Towarischtsch
Ivanov". Na bitte, es ging doch, fast noch besser
als das Englische war der vorgeführte sprachliche
Kopfstand, und bei Ivanov hatte ein ganz kleines bisschen
der Schnurrbart gegrinst. Der Applaus war kein Triumph,
er war nicht frenetisch, er war nicht mal freundlich,
er war lautlos anerkennend für ein souverän
geführtes Turnier und für eine Schiedsrichterleistung,
die dieses Mal mit einfachem Spiel glänzend auskam.
DSB-Schiedsrichter Robert Ackermann wurde dafür
mit einer Flasche Williams Birne belohnt, einem Obstbrand
in Reminiszenz an bessere Tage. Da hat Willi Kaspar
eben ein sicheres Händchen. Schnaps kommt in Erlangen
immer gut an.
Und auch Viktor Gavrikov konnte zufrieden
sein, denn von seiner Städtereise aus Worms brachte
er einen hübschen Turniersieg mit, sechs Punkte
aus sieben Runden und die Buchholzwertung auf seiner
Seite. Vielleicht meldet er sich ja zum 20. Open der
Schachschule Erlangen wieder an, weil es doch so gut
lief.
Endstand (56 Teilnehmer):
Pl.
|
Name
|
Verein
|
TWZ
|
Pkt.
|
Buch.
|
1.
|
GM Prusikin, Michael
|
SC Forchheim
|
2500
|
4.5
|
16.5
|
2.
|
FM Wichmann, Cliff
|
Dresdner SC 1898
|
2256
|
4.5
|
15.0
|
3.
|
IM Ivanov, Victor L.
|
SC Bad Königshofen
|
2456
|
4.0
|
18.0
|
8.
|
Beyer, Christof
|
SK König Plauen
|
1904
|
3.5
|
15.0
|
10.
|
Gerbeth, Frank
|
SK König Plauen
|
1784
|
3.5
|
14.0
|
15.
|
Hörr, Christian
|
SK König Plauen
|
1837
|
3.0
|
15.0
|
21.
|
Engelhardt, Etienne
|
SK König Plauen
|
1948
|
3.0
|
13.5
|
24.
|
Reh, Rebecca
|
SK König Plauen
|
1720
|
3.0
|
11.0
|
32.
|
Dietzsch, Peter
|
SK König Plauen
|
1274
|
2.5
|
9.5
|
40.
|
Müller, Martin
|
SK König Plauen
|
1465
|
2.0
|
12.0
|
42.
|
Reh, Theresa
|
SK König Plauen
|
1762
|
2.0
|
11.0
|
43.
|
Kamrla, Robin
|
SK König Plauen
|
1304
|
2.0
|
9.5
|
47.
|
Meyer, Sandra
|
SK König Plauen
|
1407
|
1.5
|
12.0
|
49.
|
Schweiger, Hashem
|
SK König Plauen
|
1470
|
1.0
|
10.5
|
55.
|
Coburger, Peter
|
SK König Plauen
|
1303
|
0.5
|
9.5
|
|
|