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"Doch ist es immer noch so, als
könne nichts die Titanic übertreffen,
als hätte es das Schiff Wilhelm Gustloff nie gegeben,
als fände sich kein Platz für ein weiteres
Unglück, als dürfe nur jener und nicht dieser
Toten gedacht werden."
(Günther Grass, Im Krebsgang)
Die Freude des Drazen Muse und
die Kraft der Wilhelm Gustloff
Christof Beyer berichtet
vom Favoritensterben in Görlitz
Als jemand inmitten seiner Eröffnungsrede
den lieben Genossen Pätzold suchte,
dabei aber nur für den oberflächlichen Zuhörer
den Akzent des schmerzlichen Vermissens hinterließ,
obwohl selbst der neue Präsident des Schachverbandes
Sachsen, Miroslav Shvarts, daraufhin verlegen in der
hohlen Hand im Wörterbuch der Etikette geblättert
haben soll, war dieser Jemand, natürlich noch nicht
an Bord der Wilhelm
Gustloff angekommen, lediglich sprachbildlich verliebt,
schwelgend in der sentimentalen Erinnerung des Anfangs,
im Gusto des Vergleiches, in der ersten Hälfte
der achtziger Jahre, als das Äskulap-Turnier mit
acht Teilnehmern noch ein kleines war, bevor es beinahe
von Jahr zu Jahr einen immer sprunghafteren Kurs einschlug,
als wollte er, dieser Jemand, mit großer Geste
auf die Erfolgswelle zeigen, auf der sich der stolz-schäumende
Tanker 21 Jahre später präsentiert, 202 Männer
und Frauen an Bord, berücksichtigt man auch die
im Kielwasser fahrenden Beiboote, die Schiffsführung
noch nicht einmal mitgerechnet - das XXI. Äskulap
versprühte seine familiäre Anziehung, seine
liebe Freude, aber vor allem seine tosende Kraft der
Überraschung vom Start weg.
Vielleicht gehörte schon die Punkteteilung
des Görlitzer Nachwuchsspielers Jonas Schindler
mit FM Steve Berger vom Bundesligaverein Hamburger SK
in der Eröffnungsrunde zur Überraschungsouvertüre,
vielleicht aber auch das Match eines Ex-Görlitzers
gegen den mit Fidemeisterehre geschmückten Cliff
Wichmann in Runde zwei. Ein Turmendspiel, das zwar immer
vorteilhaft für den Dresdner erschien, letztlich
aber immer mehr in der Remisbreite austrudelte
bis die beiden Könige im königlichen Spiel
nackert umeinander standen. Und hier konnte der, der
eben den halben Punkt als Gewinn verbuchte, obendrein
noch eine Gratislehrstunde abräumen, dass es sich
nämlich grundsätzlich verbietet, einem Gegner,
einem Fidemeister noch dazu, im Turmendspiel mit Bauernmalus
Remis anzubieten (wiederum sei auf das Wörterbuch
der Etikette verwiesen), der einem schon sagen wird,
wann die Partie sich unwiderruflich dem Unentschieden
neigt, es sei denn, der über den halben Punkt Frohlockende,
hat jenes Remis bereits schon früher gesehen. Zugegeben,
ein atomares Ereignis. Ein bisschen glücklich schienen
also diese beiden geteilten Ergebnisse, obwohl es beim
Schach kein Pech geben soll, nur selbst geköchelte
Dummheit, in der jeder Schachspieler ein Meister ist.
Wenn es kein Pech gibt, woraus resultiert dann die Überraschung,
die unliebsame wie die freudige, die Kraft und Herrlichkeit,
die ihr subkutan entspringen? Vielleicht hilft bei der
Inhalierung dieser Frage jene für das Turnier folgenschwere
Ansetzung aus der dritten Runde zwischen dem Internationalen
Meister Drazen Muse (stammend aus
, doch dazu
später) und Stefan Frübing (aus dem reichen
Fundus des Rüdersdorfer Nachwuchstalentemachers
Holger Borchers).
Die Partie hatte lange Zeit nichts Besonderes:
Muse dominierte mit den weißen Steinen naturgemäß,
während Frübing sich auf schwarzer Seite zäh
verteidigte, schließlich frech die Gelegenheit
nutzte, einen seiner Türme gegen Springer und Bauern
zu opfern, um sich in ein Turm-Springer-gegen-Turm-Endspiel
zu retten. Beim Internationalen Meister schien so etwas
wie Überraschung angekommen, erst jetzt bemerkte
er, dass Frübing seinen Zug nicht bereits abschloss,
wenn er eine Figur gezogen und die Schachuhr gedrückt
hatte, sondern erst dann, als der Kugelschreiber nach
der Notation ein kurzes, monotones Musikstück zur
Aufführung brachte, eigentlich nur etwas für
das totale Gehör, für Muse aber nichts für
die Muse, weil unerträglich sonor, die kleine Melodie.
Klack-Klack, als ob Frübing damit ein Zählwerk
in Gang setzte, das die folgenden 50 Züge aufzeichnete,
in denen keine Figur mehr das Schachbrett verließ.
Die kurze Auszeit Muses für ein selbstgedrehtes
Zigarettchen brachte keine frische Eingebung mehr, der
volle Punkt löste sich endgültig in Rauch
auf. Klack-Klack, ein letztes Mal, danach stellte der
15-Jährige die Uhr ab, um seinem Gegenüber
das Remis zu erklären. Und auch hier schien es
als Zugabe noch eine Lektion zu geben, eine Suada des
Außersichseins, weil der junge Nachwuchsspieler
einfach die Uhr mit schlichter, ruhiger Handbewegung
anhielt, ohne den Schiedsrichter danach anzurufen, Muse
nur 49 Züge aufgeschrieben hatte, sich das vorher
definierte Ende also einen deutlichen Zug vor dessen
Zielkreuz einzustellen schien, immer wieder Klack-Klack,
und das mindestens die letzten 30 Züge, abwägend
winkend, ob denn die 50-Züge-Regel für das
Turm-Springer-gegen-Turm-Endspiel überhaupt noch
gelte, schließlich, dass sich sein Gegner am Brett
nicht einmal benehmen könne. Die Beweisführung
wurde hörbar dünner, die Zeit für Hauptschiedsrichter
Werner Schreyer war gekommen. Remis - ohne Klack-Klack.
Der Rüdersdorfer Trainer war zufrieden, dass es
sich nun auswirkte, dass sein Schützling in der
ersten Mannschaft nicht mehr so leicht umgeschupst wurde,
in einem Turm-Springer-gegen-Turm-Endspiel schon gar
nicht hereingelegt werden könne.
Ein erster Achtungserfolg in dieser Runde
war auch Günther Jahnel gelungen, der gegen den
Internationalen Meister Davit Lobzhanidze remisierte.
Doch erst der nächste Turniertag wurde zum großen
Hoyerswerdaer Erfolg, eine Kreuzigung aber für
die Internationalen Titelträger. Drazen Muse hatte
gerade erst seinem Gegner vom Vorabend zum Remis gratuliert,
als er in seinem schwarzen Pirc-Aufbau von Günther
Jahnel zerdrückt wurde. Gedeckter Freibauer auf
e6, da drohte der Stift zu zerbersten, 1:0. Sein Teamkollege
Jan Kregelin bezwang ebenfalls mit Weiß den polnischen
IM Zbigniew Ksieski. Eine weitere Überraschung
deutete sich am Brett von FM Cliff Wichmann an, der
IM Davit Lobzhanidze mit forschem Angriff unter ständig
zunehmenden Druck setzte und in die Defensive unter
großer Zeitnot drängte, bis sich eine nicht
alltägliche Materialkonstellation ergab: Der weißen
Dame sah sich ein schwarzer König ausgesetzt, der
nur noch von einem Springer, einem Läufer und einem
Randbauern beschützt wurde. Einfach kompliziert
für die Kiebitze, aber mit fidemeisterlicher Leichtigkeit
gelöst, so dass Ulf von Hassel zu respektvollem
Beifall ansetzte unter dem nicht amüsierten
Blick der Ehefrau des Untergehers, die kurz vor dem
Kontrollzug ein Matt in drei Zügen gesehen haben
wollte, danach bis zur vollendeten Niederlage am Brett
gewacht hatte. Später waren noch Begründungen
in Bauerneinheiten zu vernehmen - total verfritzt, Applaus
nach dieser Situation, die einzig mögliche nüchterne
Stellungsbeurteilung überhaupt. Das i-Tüpfelchen
des Überraschungsreigens dieser Karfreitagvormittagsrunde
wäre fast unentdeckt geblieben, hatte doch in der
Zwischenzeit Stefan Frübing wieder zugeschlagen.
Im Bauernendspiel sah er mehr als IM Grigorij Bogdanovich.
Und auch Günter Jahnel punktete
sich durch die elitäre Titelträgerschaft:
ein Remis gegen den Tschechen GM Leonid Voloshin und
ein Schwarzsieg gegen den Magdeburger FM Mike Stolz.
Osterüberraschung also bis zum Turnierende, nicht
ganz. In der Sekunde der Entscheidung war sie weg, die
märchenhafte Überraschung, die einer Erscheinung
glich, einer Ernüchterung wich. Dabei stand FM
Drazen Muse mit Weiß schon wieder schmeichelhaft,
sein Hadern übertrug sich bis auf die Felder der
Nachbarbretter, Maik Richter hielt eigentlich schon
den halben Zähler fest in den Händen, als
er von einem rustikalen Mattnetz umgarnt wurde. Eine
symbolische Partie dafür, dass die Favoriten tiefen
Einblick in ihre Anfälligkeit gewährten, angeschlagen
waren, gewackelt haben, aber nie richtig untergegangen
sind. Letztlich waren die Titelträger wieder unter
sich, nur Günther Jahnel, der sich im Turnierverlauf
eine IM-Norm erspielt hatte, konnte dauerhaft stören
und rangierte am Ende auf dem siebenten Rang. Nach einer
langen Partie in der letzten Runde wurde er noch von
IM Ksieski ausgetanzt und abgefangen, der sich damit
hauchdünn vor Lobzhanidze Platz zwei sicherte.
Nur GM Jurij Zezulkin hatte eine noch bessere Wertung
und holte sich wie im Vorjahr den Turniersieg. Stefan
Frübings Weg nach oben wurde dieses Mal noch gestoppt,
vom Ex-Plauener René Kindt übrigens.
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Drazen Muse mit
Görlitz' OB Karbaum bei der Siegerehrung
Zehlendorf, Sailauf, Siershahn, Magdeburg,
Feilbingert, Ramstein, Hoyerswerda, Dresden, Bamberg,
Bad Mergentheim, Niederwiesa, Wilkau-Haßlau, Esslingen
und noch einmal Hoyerswerda - die bunte Herkunft der
ersten vierzehn Preisträger hatte es dem Oberbürgermeister
der Stadt Görlitz, Prof. Rolf Karbaum, während
der Siegerehrung sichtlich angetan: Und wo kommen
Sie her? Ick komm ursprünglich
aus Kroatien und wohn jetzt in Berlin. Das
ist schön, da freue ich mich aber. Danke,
ick freu mich och drüber, entgegnete
Drazen Muse, der doch noch einen Preis erwischt hatte,
für den die Freude sichtlich wieder zurückgekehrt
war, als wollte er noch sagen: Vielen Dank für
dieses schöne Turnier, vielen Dank, lieber
Herr Pätzold. Nein, diese Huldigung hätte
ausschließlich seinem Rettungsanker, Maik Richter,
zugestanden. Von der Wilhelm Gustloff soll mancher Rettungsschwimmer
bis zu sechzig Personen gerettet haben, ob tot oder
lebendig, Hauptsache gerettet, vor dem Untergehen gerettet,
auf nur einem Arm gleichzeitig versammelt, diese sechzig
Personen, rettungsschwimmend gerettet in den sicheren
Hafen. Seemannsgarn, wenn man zu lange im Wasser umherschwimmt.
Der Führer hätte vor Freude geweint. Ist Miroslav
Shvarts noch an Bord? Ahoi, es äskulapt!
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