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Affe, Giraffe, Elefant oder der unaufhaltsame Lauf
des Meisterjägers von ganz hinten nach ganz vorn
"Der beste Spieler in einem Turnier
gewinnt es nie. Er landet auf Platz zwei oder drei."
(Siegbert Tarrasch)
Drei Springer gegen einen Springer,
so ein Endspiel kann ganz häufig aufs Brett kommen,
so Großmeister Lutz Espig, fast so häufig
wie sein Lieblingsendspiel, wenn darin wiederum
Springer und Läufer auf den gegnerischen
König losgehen, könnte man das antreffen,
so ein Endspiel, drei Springer gegen einen Springer,
schon ein paar Mal hätte er genau das auf dem Brett
gehabt, weil das auch ganz oft vorkommen kann, drei
Springer gegen einen Springer, und ganz logisch
sei das Zustandekommen so eines Endspiels, wenn Weiß
nämlich noch über zwei Springer und
einen zusätzlichen Bauern verfügt, der sich
schon einen Schritt vor dem Umwandlungsfeld befindet,
nun den Einzug auf die gegnerische Grundreihe beabsichtigt,
also zur Umwandlung bereit ist, aber eben nicht zur
Dame einziehen kann, weil der gegnerische Springer dann
ganz böse werden kann, indem er der eben erst verwandelten
Figur unmittelbar nach dem Schachgebot einen eliminierenden
Hufschlag verpassen würde, und also dem zum Einzug
auf die Grundreihe bereiten Freibauern nichts anderes
übrig bleibt, als sich in einen Springer zu verwandeln,
um nun als dritter Springer aufzutreten, die
gegnerische mit Schachgebot geschmückte Springergabel
zu verhindern, und natürlich sei so ein Endspiel
dann ganz leicht gewonnen, so schließlich
Lutz Espig. Bewunderung oder gar Applaus wäre danach
allenfalls für die Endspielästhetik angemessen,
nicht aber für den ach so banalen Gewinnweg.
Der Wittenberger, Frank Schönfeld,
ist den opulenten Beifall gewohnt, sobald er seinen
Gedanken freien Lauf lässt, entweder wenn es gut
bei ihm läuft (naturgemäß beim Denksport)
oder wenn er schnell läuft (naturgemäß
beim Laufsport), aber er würde in seinem Leben
nie mehr zu oft Schach spielen und nie mehr
zu weit schnell laufen, also höchstens noch
an einem Schachturnier im Jahr würde er teilnehmen,
und zwar nur am Äskulapturnier, und höchstens
sechzig Meter weit würde er schnell laufen, und
also nur im heimischen Arthur-Lambert-Stadion,
aber auf keinen Fall auch nur eine einzige Schachpartie
mehr im Jahr spielen und keinesfalls nur einen einzigen
Meter weiter schnell laufen, denn am liebsten würde
er nur noch dreißig Meter schnell laufen, weil
dafür seine Ausdauer noch ganz locker ausreicht.
Zur Eröffnung des XXV. Äskulapturniers in
Görlitz waren die Anwesenden bereits schnell ganz
laut mit ihren Händen, als Frank Schönfeld
einfach nur langsam gelaufen kam, nur im gemütlichen
Schlenderschritt nach vorn auf den Redner zuging, um
die Hände geschüttelt zu bekommen, weil es
für ihn ein Jubiläum zu feiern gab, seine
zwanzigste Turnierteilnahme beim Äskulap, und spätestens
dann hat man es geschafft, wenn es nämlich überhaupt
nicht mehr um Leistung geht, man plötzlich jenen
schwerelos machenden Zustand erreicht, dass bereits
die Parusie, die Ankunft per Erscheinen, also die pure
Anwesenheit beklatscht wird. Zuvor hatte der Görlitzer
Oberbürgermeister, Joachim Paulick, über scheinbare
Lebensweisheiten gesprochen. Zwar ist das Leben nie
zu lang für unheimlich schlechte Reden, nie zu
kurz, um heimlich eine Million zu spenden, aber dass
das Leben nicht lang genug sei für das Schach,
und dieser Umstand ausgerechnet ein Fehler des Lebens
sei, nicht etwa des Schachs selbst, dieser Behauptung
hatte sich schon einmal ein deutscher Dichter hingegeben,
die eben nur in der Grundsätzlichkeit Gültigkeit
besitzt, denn Garri Kasparow hat schon alles im Schach
gesehen und sich danach gelangweilt, bis er sich schließlich
quicklebendig von den 64 Feldern abwendete. All jene,
die Schach nie verstehen werden, egal wie geduldig das
Leben mit dem Dilettanten umgeht, all diese ahnungslosen
Schachspieler mochte Christian Morgenstern gemeint haben,
und in dieser Redesequenz hätte man sich, im Haus
Wartburg versammelt, angesprochen fühlen können,
wäre Christian Morgensterns These tatsächlich
zitiert worden und nicht der Lautmalerei zum Opfer gefallen.
Wenn das Äskulapensemble
eintrifft, gibt es diesen erwähnten Begeisterungsbeifall
für all die Teilnehmer, die fast jedes Jahr wiederkehren,
ohne dass sie das Turnier gewinnen wollen, wie eben
Frank Schönfeld, Gabriele Just, Benno Pankrath
oder Gunnar Baginski. Zu den ambitionierten Gipfelstürmern
zählen wiederum jene, für die der Turniersieg
schon oft zum Greifen nahe war, die aber bisher das
letzte Steilstück nie ganz erklimmen konnten, die
also nur eine ungefähre Vorstellung über den
Ausblick von ganz oben haben, wie die drei FIDE-Meister
Cliff Wichmann, Mike Stolz und Thomas Schunk. Daneben
gibt es die Berühmten, die das Turnier schon
gewonnen haben, deshalb in die Nostalgie, in den
Lauf vergangener Tage verliebt sind, wie IM Henryk
Dobosz, der das Turnier dieses Mal aus ganz anderer
Erwägung heraus besuchte, weil es sich nämlich
mitten auf seinem Weg nach Hause befand, oder IM Grigorij
Bogdanovich, für den dieses internationale Turnier
inzwischen regionalen Bezug gewonnen hat, weil er in
Löbau wohnt. Und schließlich gehören
zur Bereicherung des Turniers immer wieder die Debütanten,
die das Äskulap gleich beim ersten Anlauf gewinnen
wollen, wie der mehrfache deutsche Blitzschachmeister,
GM Robert Rabiega, oder der ukrainische GM Vladimir
Sergeev, ohne Rücksicht auf die sich außerdem
im Teilnehmerfeld befindenden internationalen Titelträger
zu nehmen, dieses Mal insgesamt 17 an der Zahl.
Kuriositäten, Groteskes oder Bizarres
gab es in der Eröffnungsrunde kaum. Ein paar ungewöhnliche
Punkteteilungen allenfalls, wie die zwischen Martin
Niering (DWZ 2111) und Ricardo Friedrich (1870), Viktor
Schäfer (1835) und Sandra Ulms (2106) sowie Giso
Müller (1984) und Carsten Goes (1584) oder eben
jene zwischen FM Roland Pfretzschner (2197) und Fabian
Braunstein (1786). Dabei hatte Roland Pfretzschner nichts
dem Zufall überlassen, seiner Hotelzimmerwahl kam
eine ebenso große Bedeutung zu wie der Partievorbereitung,
nur Led Zeppelin spielte bei ihm wiederum eine noch
größere Rolle, denn der tiefe Glaube dieses
vogtländischen Äskulapdebütanten besagt,
dass es nicht nur auf die richtige Eröffnungswahl
ankommt, sondern viel mehr auf die Auswahl einer geeigneten
Musik, also des passenden Led-Zeppelin-Leibchens zur
Schachpartie. Da für Roland Pfretzschner ein guter
Start in ein zumal vorher unbekanntes Turnier sehr bedeutsam
erschien, kam es besonders auf das richtige Starttrikot
an. Gleich am Anfang eins mit einer zweitligaerprobten
Erfahrung auszuwählen, musste sich einfach als
geschickt erweisen. Drei Siege und drei Remis, diese
daraus resultierende T-Shirt-ELO sollte gegen Fabian
Braunstein locker zum Erfolg ausreichen, aber mehr als
ein schwerfälliges Unentschieden wollte zum Turnierauftakt
nicht herausspringen. Und auch mit ausgewechseltem T-Shirt
gegen Ricardo Friedrich lief es am nächsten Morgen
nicht besser. Freilich, mit jenem T-Shirt hatte er vorher
erst eine Partie gespielt, und zwar verloren, also wollte
er dem T-Shirt noch eine zweite Chance geben, weil es
möglicherweise nur noch nicht richtig eingespielt
war. Roland Pfretzschner kam aus dem Umkleiden während
des Turniers nicht mehr heraus. Nur noch ELO-lose T-Shirts
bekamen fortan eine Spielberechtigung. Sogar seine mitgereiste
Ehefrau begann sich zu wundern, was denn bloß
mit ihrem Roland los sei, so eine miserable Stellung
und nur noch so wenig Bedenkzeit auf der Uhr, dabei
hatte er erst ein paar Züge vorher Christian Noacks
Remisgebot ausgeschlagen, um sich wenigstens Minimalchancen
in der gesonderten Sacheneinzelmeisterschaftswertung
zu bewahren. Dass Roland Pfretzschners Ehefrau überhaupt
kein Schach spielen kann, offenbarte, wie schlecht es
schon um ihn bestellt sein musste, dass ihm gar nichts
auf dem Brett einfiel, als bis zum bitteren Ende weiterzuspielen.
Der Ehrgeiz des Ebersbacher Oberligaspielers,
Maik Richter (2098), bestand hingegen darin, sich in
jeder Partie in hoffnungslose Zeitnot zu bringen, um
erst danach Gewinnversuche zu unternehmen. Vor der Zeitkontrolle
nur noch zwei Minuten für die restlichen zwanzig
Züge zur Verfügung zu haben, sind da bei ihm
absoluter Standard, da konnte er aus einem reichhaltigen
Erfahrungsschatz schöpfen, aber in letzter Zeit
mehrte sich eben leider auch das rustikale Einstellen
von Figuren währenddessen. Reichte es gegen René
Zimmermann (1945) wenigstens noch für einen halben
Punkt, so kam in den drei nachfolgenden Partien gegen
Steffen Hoffmann (1943), Tilo Hirsch (1702) und Tim
Meier (1684) gar nichts Verwertbares mehr heraus. Erst
in der sechsten Runde, inzwischen am viertletzten Brett
angekommen, wurde so etwas wie latentes Erwachen ersichtlich.
Sein Mannschaftskamerad, Christian Noack, bekommt da
immer weiße Haare, wie er nach so einem Zeitnotroulette
glaubwürdig seinen abrupten Alterungsprozess beschrieb.
Der Turniersaal ist naturgemäß ganz selten
ein Catwalk der Haute Couture, denn wird das
Tragen eines Jogginganzugs außerhalb des
Sports sonst als deutliches Zeichen zur Selbstaufgabe
verstanden, gilt er im Schach durchaus als etabliert,
in Kombination mit sportverneinender Kopfbedeckung entsteht
sogar ein psychologischer Augenblick, der dem Gegner
das Fürchten lehren soll, also absolute Rücksichtslosigkeit
während der Schachpartie in Aussicht stellt.
Als FM Cliff Wichmann in der dritten
Runde am ersten Brett gegen den Turnierfavoriten verlor,
ahnte er wohl, dass es auch dieses Mal nicht zum Turniersieg
reichen würde. GM Sergej Ovsejevitsch, der Turniersieger
der beiden Vorjahre, war für ihn einfach eine Nummer
zu groß. Aber gegen schwächere Gegnerschaft
blitzte Wichmanns Souveränität sofort wieder
auf, wie beispielsweise in der darauf folgenden Partie,
als er Matthias Leipert im Mittelspiel die Dame fing,
und auch in der nächsten Runde ließ er sich
den Sieg nicht nehmen. Und wenn es schon nicht für
den Turniersieg reichen sollte, so bestand wenigstens
Aussicht auf den Sachsenmeistertitel, die Qualifikation
zur Deutschen Meisterschaft, und da kam ihm die Punkteteilung
mit IM Zbigniew Ksieski zumindest nicht ganz ungelegen,
denn mit ihr sicherte er sich vor der letzten Runde
immerhin die beste Ausgangsposition, die Führung
in dieser sächsischen Sonderwertung. Um diesen
Führungsanspruch jedoch zu verteidigen, musste
in der letzten Runde mit Schwarz auch gegen einen stärkeren
Gegner unbedingt etwas Zählbares her, brisant,
denn sein noch ungeschlagener Gegner, GM Vladimir Sergeev,
konnte im Falle eines Sieges selbst noch nach den Sternen
greifen. Und vielleicht war Cliff Wichmann auch aus
diesem Grund über das plötzliche Friedensangebot
des Großmeisters überrascht. Höchste
Zeit, dass er das Brett für einen Moment verließ,
um den Hals nach der Tabelle zu recken, zu kalkulieren,
ob schon ein Unentschieden für den Gewinn der Sachsenmeisterschaft
ausreichen würde. Aber FM Thomas Schunk war ihm
zu dicht auf den Fersen. Um ganz sicher zu gehen, blieb
Cliff Wichmann nichts anderes übrig, als das Remis
in sehr unübersichtlicher Stellung abzulehnen,
aber er hatte zumindest wieder sehr flott gespielt,
verfügte über eine Stunde Bedenkzeit, während
dem Großmeister nur noch reichlich zehn Minuten
auf der Uhr verblieben, und wenn er seinen Trainingskindern
immer wieder erzählt, dass man kämpfen muss,
besonders wenn es sich noch zu kämpfen lohnt, dann
rutscht ihm auch ganz leicht so ein Wort wie Vorbildwirkung
über die Zunge, und dass er von sich selbst glaubt,
gerade im Bullet eine große Erfahrung zu besitzen.
Doch solche Blitzqualitäten hätte hier nur
Vladimir Sergeev gebraucht, der für die hektische
Phase der Partie plötzlich begann, alle abgetauschten
Figuren nacheinander vom Tisch hinunter auf den Fußboden
zu stellen. Die Zeitnot hatte ihn sichtlich eingeengt,
also suchte er wenigstens nach Bewegungsfreiheit hinter
dem Schachbrett. Als er endlich seinen Freibauern zur
Dame verwandeln konnte, verblieben ihm nur noch 39 Sekunden.
Cliff Wichmann bekam dafür mehr als Kompensation:
einen Turm, einen Springer, und bald läufige Freibauern,
bei denen es nur eine Frage der Zeit war, bis sie selbst
eine Umwandlung anstreben würden. Während
Vladimir Sergeev verzweifelt mit der nackten Dame auf
dem Brett hin und her irrte, nur um ein paar wahllose
Schachgebote zu finden, schützte Cliff Wichmann
seinen König mit Turm und Springer ganz bedächtig
eng, nur nicht kurz vor dem Ende auf ein verlustreiches
Diagonalschach hereinfallen, dachte er. Und schließlich
zählte die Uhr von 39 Sekunden auf zehn herunter.
Vladimir Sergeev suchte mit unruhigen Blicken nach dem
Schiedsrichter, bis er schließlich Cliff Wichmann
flehend anschaute, der aber nur ahnungslos beide Arme
hob, zwar die restlichen Sekunden seines Gegners fest
im Blick hatte, aber keine Begründung liefern wollte,
warum die Uhr nach dem letzten gegnerischen Zug einfach
weitergelaufen war, Sekunde um Sekunde ablief, obwohl
Vladimir Sergeev nach seinem Zug die Uhr betätigt
hatte. Vielleicht wäre ihm das Schlimmste erspart
geblieben, hätte er wenigstens jetzt die Partie
aufgegeben, so aber schloss sich für ihn ein schrecklicher
Abschlussmoment an. Auf einen der hektisch ausgeführten
Züge des Großmeisters, die schon lange keine
Großmeisterzüge mehr waren, folgte beständig
die betont ruhige Zugausführung des FIDE-Meisters,
dem jetzt sogar die Zugnotation ein Hochgenuss wurde.
Und als Vladimir Sergeev nur noch eine Sekunde
auf der Uhr hatte, Cliff Wichmann aber immer noch über
eine halbe Stunde Reserve verfügte, wurde spätestens
jetzt deutlich, was mit Bulletqualitäten gemeint
war, denn schon Vlastimil Hort hatte darauf hingewiesen,
dass im Blitz der Springer stärker sei als
der Läufer, und in dem Augenblick, als die Dame
schließlich in eine Springergabel tapste,
war die Partie gleichzeitig sowohl auf der Uhr als auch
auf dem Brett entschieden. Völlig entnervt gab
Vladimir Sergeev auf und drehte traumatisiert einige
Runden im Turniersaal, eine Ehrenrunde war nicht darunter.
Schließlich verschnaufte er am letzten Brett,
setzte sich nieder und begann noch einmal, diese fürchterliche
Tragödie nachzuspielen, als wollte er sofort herausfinden,
nach welchem Zug sein Verderben eingesetzt hatte. Nirgends
wird Zeitverschwendung strenger bestraft als beim Schach.
Und noch jemand hatte am letzten Brett
gesessen, aber aus einem ganz anderen Grund und zu einem
ganz anderen Zeitpunkt als Vladimir Sergeev, nämlich
nicht in der schweren Schicksalsstunde nach der letzten
Runde, als also alles bereits vorbei war, sondern in
der ersten Runde, weil dort das Oberhaus aufhörte,
als also alles erst bevorstand, dieser unglaubliche
Aufstieg des Magdeburger Nachwuchsspielers Dominik Jäger
(1914).
Schon die beiden Erfolge über Andreas
Neumeyer (2077) und Günter Sobeck (2109) waren
beachtlich, aber der Rausch begann erst so richtig,
als er ganz plötzlich den erfahrenen FM Thomas
Schunk (2203) im lange ausgeglichenen Endspiel taktisch
aus der Bahn warf. Und das macht ja gerade den Reiz
eines solchen Turniers aus, so Cliff Wichmann über
die Naturgewalt eines Opens, dass nämlich ein schwächerer
Spieler auch einmal einen stärkeren zu bezwingen
vermag, und möchte man wenig später wissen,
wie es beim Favoritenschreck so läuft, beobachtet
man, dass der Erfolg nur von kurzer Dauer war, er es
sich naturgemäß im Patzerkabinett wieder
gemütlich gemacht hat. Aber dieses Mal war alles
ganz anders. Selten konnte man beim Äskulap FM
Mike Stolz (2312) in so einer prekären Lage beobachten.
Wie von Wunderhand hatte Dominik Jäger im Mittelspiel
plötzlich drei verbundene Freibauern, die nur noch
mit Materialverlust aufzuhalten waren. Vielleicht hätte
Mike Stolz die Partie gegen jeden anderen Gegner viel
früher aufgegeben, aber da es sich um seinen eigenen
Schützling handelte, der ihn mit fast jedem Zug
ein Stück näher an eine deutliche Niederlage
brachte, schien er ihm nichts von diesem Genuss nehmen
zu wollen. Erst als es fast unmöglich war, überhaupt
noch einen Zug zu finden, die Zuschauertraube immer
größer wurde, reichte der Magdeburger FIDE-Meister
mit bewegender sportsmännischer Geste seinem Schützling
mit dem begleitenden Wort "Schön!" anerkennend
die Hand zum Sieg. Ein bisschen stolz schienen plötzlich
beide zu sein. Verlegen war höchstens der Sieger.
Und plötzlich war Dominik Jäger am ersten
Brett angekommen, völlig egal, wie die Partie in
der letzten Runde mit Schwarz gegen den haushohen Favoriten,
GM Sergej Ovsejevitsch (2529), ausgehen würde.
Es schien eine eindeutige Angelegenheit zu werden. Sergej
Ovsejevitsch gewann im 22. Zug einen Bauern, bevor er
anschließend versuchte, seine Stellung zu verstärken,
nach dem richtigen Augenblick Ausschau zu halten, die
Stellung zu öffnen, um seinen Gegner abschließend
zu überrollen. Aber so richtig konnte er sich nicht
entschließen, denn nachdem beide Türme noch
vor dem 40. Zug abgetauscht wurden, lavierte er mit
seiner Dame und den drei Leichtfiguren, ohne ein entscheidendes
Einbruchsfeld zu entdecken, und auch auf die Bedenkzeit
hatte Dominik Jäger große Obacht gegeben.
Erst als beide Spieler nur noch über ungefähr
fünf Minuten verfügten, auch die Damen wurden
zwischenzeitlich beiderseits vom Brett entfernt, hatte
sich der Großmeister eine reichliche Minute Bedenkzeit
Vorsprung erarbeitet, opferte nun seine letzte Leichtfigur
gegen einen Bauern, die restlichen sammelte er mit seinem
König ein, um mit dem letzten verbliebenen Freibauern
die Entscheidung zu erzwingen. Dominik Jäger blieben
nur noch 25 Sekunden auf der Uhr, aber irgendwie hatte
er es mit seinem schwarzen Springer geschafft, den weißen
Freibauern vor dem Einzug auf die Grundreihe aufzuhalten.
Als Sergej Ovsejevitsch nur noch einfallslos versuchte,
hin und her zu ziehen, hielt Dominik Jäger die
Uhr an, weil unter den vielen Zuschauern kein interessierter
Schiedsrichter zu finden war, der diese letzte noch
laufende Partie beobachtete. Sergej Ovsejevitsch stand
auf, als wollte er dagegen protestieren, hielt für
einen kurzen Moment inne, vielleicht wollte er aber
auch nur das Finale noch einmal von oben betrachten,
willigte jedoch dann zum Zeichen, dass er mit der gegnerischen
Remisreklamation einverstanden war, in die Punkteteilung
ein. Selten gibt es nach einer Schachpartie Beifall.
Hier im Haus Wartburg war er anhaltend und begeisternd.
Nicht die Anwesenheit eines Nachwuchsspielers am ersten
Brett wurde hier beklatscht, sondern dessen großartige
Turnierleistung. Zum ersten Mal verhielten sich die
Zuschauer nicht wie Giraffen, die plötzlich Stellungen
verfolgten, die sie sonst nie betrachten würden,
und nicht wie sonst wanderten sie wie Heuschrecken von
Brett zu Brett, gelangweilt, nur um die Zeit bis zur
nächsten Rundenauslosung totzuschlagen. Leichtfertig
wurde sofort vom Turnier seines Lebens gesprochen,
doch mit dieser Formulierung konnte man keine Entsprechung
finden, erstens nicht bei einem Nachwuchsspieler, denn
hier ging es noch lange nicht darum, ein Lebenswerk
zu würdigen, zweitens nicht bei Dominik Jäger,
denn der schien erst jetzt mit dem Schach angefangen
zu haben. Und für den genauen Beobachter hatte
sich Dominik Jägers Lauf bereits schon in der Oberligasaison
angedeutet, denn dort hatte er zuvor die letzten vier
Partien alle gewonnen.
Nachdem GM Vladimir Sergeev schon seine
Chance auf den Turniersieg verspielt hatte, glaubte
es wohl auch der zweite ukrainische GM Sergej Ovsejevitsch
in dem Moment, als er plötzlich von seinem Sitzplatz
hochschreckte. Aber die Buchholzwertung war komfortabel
genug, das dramatische Schlussrundenremis zu verkraften,
so dass die 5,5 Punkte ausreichten, um zum dritten Mal
in Folge dieses Osterturnier zu gewinnen. FM Cliff Wichmann
wurde durch seinen Großmeistersieg mit dem zweiten
Platz belohnt und holte sich, ebenfalls mit 5,5 Punkten,
den Sachsenmeistertitel (vor Thomas Schunk und Christoph
Natsidis, beide 5,0 Punkte). Aber die größte
Überraschung gelang Dominik Jäger, der insgesamt
15 internationale Titelträger hinter sich ließ
und mit einer Turnierperformance von 2455 (mehr als
500 Punkte über seiner Wertzahl) selbst auf dem
Niveau eines Internationalen Meisters spielte. Sein
Startplatz Nr. 46 brachte ihn zu Beginn noch ans letzte
Brett. Nach seiner Glanzvorstellung am Spitzenbrett
wurde er mit dem dritten Platz belohnt, punktgleich
mit dem neuen Sachsenmeister, FM Cliff Wichmann, und
dem nun dreimaligen Äskulapgewinner, GM Sergej
Ovsejevitsch.
Kaum wird der Puls in den Adern wieder
allmählich schwächer und die Anspannung des
Körpers lässt langsam nach, möchte man
gleich schon wieder in die Unendlichkeit eintauchen.
Immer wieder durch sie endlos hindurch. Länger
als das Leben lang ist. Nicht nur fünfundzwanzigmal,
sondern mindestens tausendmal und noch viel mehr. Schon
bis zum nächsten Mal, so unendlich lang
hin, schmerzt die tiefe Sehnsucht. Die Äskulapwelt
ist bunt, und immer wieder ist es ein süßer
Traum, diese Welt aus der Lauerperspektive zu beobachten.
Drei Springer gegen einen Springer, sonst hat
wirklich nichts gefehlt.
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