"Dies ist die Geschichte einer Frau,
deren von schweren Unglücken gezeichnetes Leben unerwartet bedroht wird: ein
Tumor.
Die Autorin berichtet in diesem rasant und spannend geschriebenen Text, wie die
fürchterliche Entdeckung ihren Alltag verändert und wie sie sich dem Schicksal
widersetzt. Vor allem das Schachspiel, so sagt sie, habe ihr das Leben
gerettet."
Nur
die kurzen Schritte des Mannes sind zu hören. Schon nach zehn Minuten entledigt
er sich seines Jacketts, man sieht ihm die Anspannung an. Was er leistet scheint
manchem Zuschauer schier unbegreiflich. Wie kann ein einzelner Mensch so viele
Gegner in Schach halten? Aber er ist geübt, trainiert täglich mehrere Stunden
und dieser Wettkampf gehört sicher nicht zu seinen schwersten. Trotzdem, er
nimmt ihn ernst, er konzentriert sich. Niemand spricht ein Wort. Es wird nicht
mehr lange dauern und die ersten seiner fünfundzwanzig Gegner werden aufgeben.
Offensichtlich sind sie einer frühen Finte des Meisters aufgesessen, er hatte
ihnen eine Falle gestellt und sie bemerkten es erst, als es schon zu spät war.
Man sieht es ihren nervösen Blicken an, unruhig überfliegen die Augen das
Geschehen in der verzweifelten Hoffnung, doch noch einen Ausweg zu finden.
Verschieden sind die Taktiken: der eine greift in wilder Attacke noch einmal an,
um schließlich um so eher alle Kräfte zu verzehren, der andere verschanzt sich
hinter seiner Stellung und zieht den Kampf, den er nicht mehr gewinnen kann, unnötig
in die Länge. Endlich, es ist noch keine halbe Stunde vergangen, da gibt der
erste Herausforderer auf. Dies wirkt wie ein Signal, drei, vier weitere werfen
wenig später das Handtuch. Niemand wollte der erste sein. Leise erheben sie
sich von ihren Plätzen, um den anderen über die Schulter zu schauen. Es wird
hektischer, denn je weniger Spieler standhalten, um so schneller hat der Meister
seine Runde gemacht und fordert die nächste Entscheidung. Wer nicht von Beginn
an ihm entgegenhalten konnte, dessen Chancen sinken nun. Nur eine wirklich
starke Position wird sich auf die Dauer halten lassen, denn eines hat der
Meister allen voraus: er ist schnell, unglaublich schnell. Nach einer Stunde
zeichnet sich schon ab, wer ihm Paroli bieten kann. Man erkennt es an seiner
Verweildauer. Mancher Zuschauer wundert sich darüber, weil er die Gesetze
dieses Kampfes nicht kennt. Im Gewirr der Figuren scheint ihm die eine Stellung
nicht weniger verwirrend als die andere und manchmal wundert er sich sogar,
weshalb wieder ein Spieler aufgegeben hat. Das Brett war doch noch voll. Das
Matt in zwei Zügen, welches unabwendbar kommen wird, hat er nicht erkannt. Fünf
Spieler halten dem Angriff des Meisters nach zwei Stunden Spielzeit noch stand.
Nur an einem Brett ist es anders, hier hält der Meister mit Müh und Not seine
Position noch zusammen. Ihm gegenüber sitzt ein junges Mädchen, kaum vierzehn
Jahre alt, sie wirkt jünger. Soeben kündigt der Profi am Nebenbrett, an dem
ein russischer Soldat sitzt, ein Matt in fünf Zügen an. Man übersetzt es ihm.
Viele hier sprechen seine Sprache. Noch ungläubig klotzt der Uniformierte auf
sein Brett, dieses sagenhafte Matt zu suchen. Er wird es finden, mit Sicherheit.
Man wird es ihm zeigen.
Die Konzentration des Meisters richtet sich nun nur noch auf das Spiel mit dem jungen Mädchen. Alle anderen Partien wähnt er als gewonnen, zwei Remis musste er schon zulassen. Immer länger verweilt er am Brett. Mit großen Augen schaut ihn die Kleine an. Sie ist aufgeregt. Sollte es tatsächlich wahr werden, kann ich, als einzige gegen den berühmten Großmeister, gegen Großmeister Uhlmann gewinnen? Jeder kennt ihn. Er ist seit vielen Jahren der stärkste Spieler des Landes, geachtet und gefürchtet auf der ganzen Welt. Selbst Weltmeister hat er bezwingen können, er hat sogar Bücher über das Schachspiel geschrieben, ein wirklicher Meister in allen Belangen, ein Experte ersten Ranges und ein wichtiger Repräsentant des Sports in der DDR. Nun steht er schon vier Minuten am Brett - eine unglaublich lange Zeit für eine Simultanpartie. Seine Bewegungen sind fahrig, von einem Bein aufs andere schaukelt sein Körper, er kratzt sich gedankenverloren am Kopf, stemmt die Arme in die Hüften. Fünf Minuten. Greift auf eine Figur zu und zieht doch die Hand zurück. Soll er es wagen? Stille. Sechs Minuten. Dann entschließt er sich, fasst den Turm und zieht ihn weit in die gegnerische Stellung hinein. Während er zum sowjetischen Soldaten wechselt, schaut er zurück aufs Brett. Wird sie die Falle, ein letzter Versuch vielleicht ein bisschen zu schwindeln, erkennen? Wenn nicht, dann hilft wohl nichts mehr. Der Soldat gibt auf, er hat das Matt, vier Züge später, erkannt. Für einen Moment schien das Mädchen erstaunt, fast erschrocken. Mit solch einem Angriff hatte sie nicht gerechnet. Was soll der Turm auf der siebten Reihe? Hat sie etwas übersehen? Wie bekommt sie diesen unbequemen Turm wieder los?... aber nein, was kümmert sie der Turm. Der kann da vorne allein nichts ausrichten, Nein, es ist ihr eigener Angriff, der das Spiel entscheiden muss. Kaum hat sie dies gedacht, da steht der Großmeister schon wieder an ihrem Brett. Kurz entschlossen zieht sie ihre schwarze Dame auf das Feld d4, womit sie zugleich den König mit Matt bedroht und den zweiten Turm auf dem Feld a1. Der wird verloren gehen. Wortlos reicht Großmeister Uhlmann ihr die Hand, er gratuliert zum Sieg, er lächelt und sie lacht. Später wird er die junge Spielerin vor der Presse loben: sie hat mit Abstand am besten gespielt und verdient gewonnen.
Liebe Schachfreundin Hafenstein! In
Ihrer krankhaft bedingten Situation möchte ich Ihnen beste Genesungswünsche
übermitteln. Ich hoffe, dass Sie mittels unseres geliebten Schachsports
die Kraft aufbringen, weiterhin als Spielerin sowie als Funktionärin tätig
zu sein. In
diesem Zusammenhang erinnere ich mich, dass
unsere erste schachliche Begegnung schon über 24 Jahre zurückliegt,
wo Sie mich bei einer Simultanveranstaltung besiegen konnten. Betrachten
Sie das Schachspiel als Lebenselixier und seien Sie weiterhin die gute
Seele der Bundesligamannschaft von Plauen.
Mit
freundlichen Grüßen Großmeister Wolfgang Uhlmann |
Dies
war ohne Zweifel einer meiner schönsten und wichtigsten Siege. Er war das
Ergebnis von langen Jahren harten Trainings.
Begonnen
hatte ich mit dem Schachspiel an der Käthe-Kollwitz-Schule in Wittenberg.
Direktor Hartmann, der später fast ein zweiter Vater für mich wurde, hatte das
Schachspiel in den Unterricht eingeführt. Er war ein starker Spieler und
trainierte uns selbst. Mit sechs Jahren
erlernte ich das Spiel und konnte bald viele Erfolge damit erringen. Dutzende
Medaillen gewann ich auf den alljährlichen
Spartakiaden, spielte in der ersten Mannschaft (Frauen-Oberliga)
von Wittenberg, wurde Bezirksmeisterin, nahm an DDR-Meisterschaften teil
usw., um nur die wichtigsten zu benennen. Das Schach war mein zweites Zuhause
und die Eheleute Hartmann meine zweite Familie.
...Schach
bedeutete aber auch fast tägliches Training und nahezu jedes Wochenende fuhren
wir zu Spielen im ganzen Land herum. Selbst die Ferien waren oft mit
Trainingslagern oder Turnierreisen ausgefüllt.
Das
Schachspiel hat eine einzigartige Anziehungskraft, es ist ein Universum, in dem
man sich verlieren kann. Aber ich wollte mich verlieren. Es ist, in gewisser
Weise, ein Extremsport. Das mag vielleicht überraschen, denn für den Außenstehenden
stellt es den Inbegriff der Langeweile dar - zwei Menschen sitzen sich
stundenlang regungslos gegenüber und schieben alle paar Minuten Klötzchen hin
und her - aber wer einmal in diese Welt richtig eingetaucht ist, wer sich einmal
von der inneren Dramatik einer Partie hat infizieren lassen, für den ist die
Phrase vom Extremsport unmittelbar einsichtig. Ich meine, heutzutage stürzen
sich Menschen Brücken hinunter oder durchqueren Wüsten oder fahren auf Flößen
reißende Ströme hinunter und was es dergleichen nicht noch alles gibt, um
diesen sogenannten „Kick“ zu erleben, um den Körper zu zwingen,
euphorisierende Stoffe, körpereigene Drogen, auszustoßen, die einem ein Glücksgefühl,
ein Gefühl der Befreiung, der Losgelassenheit verschaffen, und übersehen
dabei, dass der einfachste Weg, dies zu erreichen, in einem Spiel liegt, welches
die Menschheit seit Tausenden von Jahren begleitet. Sie sehen den Wald vor Bäumen
nicht. Sie wollen sich aus dem tristen Alltag ausklinken und glauben, dafür
nach Neuseeland oder an den Klondike fliegen zu müssen. Dabei haben sie das
Abenteuer vielleicht sogar bei sich Zuhause im Schrank stehen, dieses karierte
Brett mit den schwarzen und weißen Figuren.
Freilich,
die Faszination muss man sich erarbeiten. Das mag ein wesentlicher Unterschied
sein: ein Gummiseil kann man sich kaufen und eine Brücke über einer wilden
Schlucht wird man in Australien schon finden - und es kann losgehen. Im Schach muss
man sich dies erst mühsam erringen - durch Selbstüberwindung. Je mehr man
davon versteht, um so tiefer sind die Erlebnisse. Über zehn Jahre lang habe ich
aktiv Schach gespielt und wenn ich je in meinem Leben einen Fehler gemacht habe,
dann war es der, als junge Frau damit aufgehört zu haben. Wer weiß, vielleicht
hätte ich es noch zu einer wirklich starken Spielerin gebracht. Aber das ist
leider der normale, besser der übliche, Weg, insbesondere für Frauen und Mädchen.
Ab einem gewissen Alter, wenn Familie, Kinder, Beruf, Haushalt das Leben zu
dominieren beginnen, dann schaffen es nur die wenigsten, dabei zu bleiben. So
erging es damals auch mir. Aber es hat bleibende Spuren hinterlassen...
Ich
legte mich auf den Röntgentisch, der Kopf wurde arretiert, mit Hilfe eines Gestells.
Es darf keine Verschiebungen geben und kein Mensch ist in der Lage seinen Kopf
so unbeweglich zu halten, wie es die Maschine verlangt. Ein seltsames und
klammes Gefühl überkam mich. Wie ein Torpedorohr lag die Röntgenröhre nun
hinter mir und ich sollte das Geschoss sein. Eng und wenig vertrauenerweckend
sah sie aus. Ich befürchtete Platzangst und Atemprobleme. Als die ganze
Vorrichtung langsam hineingeschoben wurde, da schloss ich die Augen, wie man es
beim Zahnarzt macht. Man will das nicht sehen oder vielleicht ist es auch eine
Form der Konzentration, der bangen Erwartung. In die Hand gab man mir eine Art
Ballon, eine Klingel, die im Notfall gedrückt werden könne. Welcher Notfall?
Vielleicht kann es einem darin schlecht werden? Eine Klimaanlage wedelte frische
und kühlende Luft zu, die Sorge zumindest hatte ich los. Um mich abzulenken und
auch um der beängstigenden Enge Herr zu werden, begann ich in Gedanken Schach
zu spielen. Eine Partei gegen mich selbst, in der ich nur gewinnen konnte und -
verlieren musste.
Es
war kein Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Bliebe noch eine moralische
Schuld. Bin ich für ein Fehlverhalten bestraft worden, für eine Sünde? Sünde,
das ist der richtige Begriff, denn wenn die Krankheit in diese Richtung gedeutet
werden will, dann führt sie eine neue Entität ein:
Gott. Nur ein Gott wäre als Strafrichter denkbar, nur er wäre in der Lage, ein
moralisches Vergehen, eine Sünde, mit einer Krankheit zu bestrafen. Steht nicht
sogar geschrieben in der Heiligen Schrift: „Wirst du der Stimme des HERRN,
deines Gottes, gehorchen und tun, was recht ist vor ihm, und merken auf seine
Gebote und halten alle seine Gesetze, so will ich dir keine der Krankheiten
auferlegen; denn ich bin dein HERR und Arzt.“ Ja, so steht es geschrieben.
Gott also kann Krankheiten auferlegen und er will dies tun, wenn man seinem
Wille und seinen Vorschriften nicht gehorcht, wenn man ihnen nicht zuwider
handelt. Allein, ich habe die Stimme der Herrn nie gehört, ich kenne die Bibel
kaum, ich glaube nicht an diesen Gott. Man darf nicht vergessen, dass wir in
einem atheistischen Land aufgewachsen sind. Vater und Mutter entstammen der
Arbeiterklasse, da war von Gott keine Rede. Religiöser Glaube war für uns
„Opium fürs Volk“ und wir belächelten eher die wenigen Kirchgänger am
Sonntag. Da stehen sie nun morgens, in aller Herrgottsfrühe auf, wenn normale
Menschen sich noch mal im Bett umdrehen, gehen in die Kirche und hören sich
lange Reden an. Nein, das war nichts für uns. Also hörte ich die Stimme Gottes
nicht und kannte seine Gebote nicht und wusste auch nicht, was recht ist vor ihm
und konnte folglich auch nicht dagegen verstoßen haben. Eine einfache Rechnung,
zugegeben, aber sie ging auf. Im Übrigen bin ich mir auch sonst keiner Missetat
bewusst, keiner, die im Gesetzbuch festgeschrieben steht.
Schließlich
kam es sogar so weit, dass ich das Schachspiel damit in Verbindung brachte.
Niemand, der es nicht selbst gut kennt, kann ermessen, wie intensiv die geistige
Anspannung während eines richtigen Spieles ist. Drei, vier, fünf, manchmal
sogar sechs oder sieben Stunden ununterbrochen höchst angestrengt nachzudenken,
das fordert seinen Tribut. Danach ist man geschafft. Und man sieht die Welt
einen Moment lang mit anderen Augen. Man hatte sie nämlich zuvor, und zwar bei
vollem Bewusstsein, verlassen. So etwas schafft man sonst nur mit Drogen und
selbst dann ist man nicht mehr bei vollem Bewusstsein. Die Beanspruchung des
Hirns ist enorm. Untersuchungen ergaben sogar, dass ein Schachspieler während
einer Partie zwei bis vier Kilogramm seines Gewichts verliert.
Die
Diskussion, ob eine solche mentale Anstrengung auf die Dauer und in ständigen
Wiederholungen gesund sei, ist wohl so alt, wie das Spiel selbst. In manchen Ländern
zum Beispiel ist sogar das Blindspiel, also das Spiel nur in der Vorstellung,
ohne Ansicht des Bretts, verboten, da es das Hirn überanstrenge. Manche Spieler
haben diese Fähigkeit, über die ich, wie alle
Geübten, zum Teil auch verfüge, so weit getrieben, dass sie zugleich,
simultan, gegen zwanzig, dreißig, ja sogar vierzig Gegner blind spielen. Sie
konnten dann mitunter nächtelang nicht schlafen, was sicherlich wirklich nicht
gesund ist. Aber es handelt sich hier um Übertreibungen, nicht um das Spiel an
sich. Und dass Schachspieler seltsam seien, eine Macke haben, das gehört schon
zum allgemeingültigen Vorurteil. Wie immer ist an solchen Überlegungen sicher
was dran.
Fußballer
klagen über Kniebeschwerden, Turnerinnen leiden unter Rückenproblemen und
Marathonläufer sterben oft an Herzinfarkt. Wäre es nicht einfach, diese
Kausallinie fortzusetzen? Schachspieler haben Probleme mit dem Kopf! In der Tat,
die Reihe der großen Schachspieler, die wahnsinnig wurden, ist lang. Schon
Siegbert Tarrasch, der Praeceptor Germaniae, der Lehrer Deutschlands im Schach
widmete sich vor fast hundert Jahren
diesem Problem. Ich begann derartige Texte zu lesen. Tarrasch war Mediziner und
einer der besten Spieler seiner Zeit und er schrieb: „Durch Überanstrengung allein entsteht überhaupt keine geistige Erkrankung. Diese
entwickelt sich stets in einem durch konstitutionelle Krankheit geschwächten Körper.“
Ich musste, ich wollte ihm Recht geben, selbst wenn es sich bei mir nicht um
eine geistige Krankheit handelte. Nein, aber die Frage, ob durch eine geistige
Überanstrengung das Hirn physisch beeinträchtigt werden könne, musste
beantwortet werden. Das Schachspiel, wenn man so will, wäre meine einzige
„Schuld“ gewesen.
Diese Überlegung widerstrebte sehr meinen eigenen Erfahrungen. Ich selbst habe es immer als sehr angenehm, letztlich sogar als gesund empfunden, wenn ich Schach spielte. Ganz im Gegenteil, erst nachdem ich, mit der Ehe, mit den Kindern, diese Tätigkeit aufgab, begann ich mich körperlich schwächer zu fühlen. Vielleicht lag die „Schuld“ eher darin, aufgehört zu haben? Ja, das war es. Nicht hinsichtlich der Krankheit, sondern weil ich meine liebste Beschäftigung aufgab, um Mutter, Gattin, Hausfrau zu sein, das war mein Fehler. Wie ach so viele Frauen ergab ich mich in mein Schicksal und wurde Angestellte des Haushaltes, freiwillig streifte ich die Ketten über, um in einer patriarchalischen Gesellschaft meine mir zugedachte Rolle als Frau, als Hausfrau, als Ehefrau zu spielen. So etwas kann man nur dann aufopferungsvoll tun, wenn man keine anderen Interessen besitzt, und also muss man seine bisherigen Beschäftigungen aufgeben. „Du sollst keinen Gott neben mir haben“, sagt der Mann und die Frau gehorcht...
Alles
begann auf einer der alljährlichen Vereinswanderungen. Nach anstrengendem
Marsch saßen wir müde und geschafft am Wirtshaustisch und diskutierten die
Aussichten für die nächste Saison. Es würde verdammt schwer werden, die
Klasse zu halten, denn fast alles, was im Weltschach Rang und Namen hat, gab
oder gibt sich in der Deutschen Liga ein Stelldichein. Um überhaupt eine Chance
zu haben, entschloss sich der Verein, einen der weltbesten Spieler, den
slowenischen Supergroßmeister Alexander Beliavsky zu verpflichten,
dessen bisherige Erfolge wirklich atemberaubend sind: Jugendweltmeister,
UdSSR-Meister und Weltmeisterschaftskandidat. Trotzdem würde es eine
unglaublich schwere Aufgabe werden, denn selbst wenn am ersten von acht Brettern
ein Weltklassemann sitzt - der im Übrigen gegen gleichwertige hochkarätige
Gegner sich erst beweisen muss -, so müssen auch die weiteren Bretter unbedingt
Punkte holen, soll ein Erfolg möglich gemacht werden. An jenem Abend schließlich
lachten und scherzten wir, tranken sogar, was unter ernsthaften Schachspielern
eher selten ist und schließlich warf ich im Übermut ein, die Männer begleiten
zu wollen und zwar als - Maskottchen. Was als Scherz in weinseliger Stimmung
gedacht war, wurde schließlich Realität: ich durfte bei allen acht Begegnungen
dabei sein und sorgte für das leibliche und mentale Wohl der Denkriesen. So
hatte ich Gelegenheit, nicht nur unsere Spieler näher kennenzulernen, sondern genoss
es unter den Besten der Besten weilen zu dürfen. Das ist, ich kann es
versichern, äußerst interessant, denn Schach, auf allerhöchstem Niveau
gespielt, vereinnahmt alle Konzentration, so dass bei den Spielern mitunter
Reaktionen und Verhaltenswiesen zu beobachten sind, die den unvorbereiteten
Beobachter von deren psychischer Zerrüttung überzeugen müsste, wohingegen
genau das Gegenteil der Fall ist: diese Männer sind in einem hellwachen
Zustand.
So
lernte ich sie alle kennen, die Koryphäen des Schachspiels: den jungen und
einst als Wunderkind gefeierten Etienne Bacrot, der sehr schüchtern und zurückhaltend
zu sein schien; Jan Timman, die holländische Legende, ein vielgebildeter Mann,
den man sonst nur aus Presse und Fernsehen kennt und der keine Gelegenheit
ungenutzt lässt, sich nervös eine Zigarette anzuzünden, um sie nach zwei,
drei heftigen Zügen wieder auszudrücken. Oder der stille Wladimir Epishin, der
in Russland schwere Schicksalsschläge hat hinnehmen müssen und nun in
Deutschland von einem Turnier zum anderen tingelt, offensichtlich, um seinen
Lebensunterhalt mit Hilfe der Preisgelder zu garantieren. Mit ihm assoziiert man
den gelben Pullover, den er seit Jahren schon zu jeder Partie überstreift: ob
aus Armut, Aberglaube oder Abwesenheit, das
wird wohl ein Rätsel bleiben. Gegen ihn jedenfalls hatte unser „Big“,
Beliavsky also, zuerst anzutreten und remisierte auch
prompt. Je verzweifelter Epishin ausschaute, die Brille schief auf dem
verzerrten Gesicht, um so besser sah es für ihn auf dem Brett aus. Selbst den
neuen Stern am Chesshimmel, der derzeit fünftbeste Spieler der Welt,
Morozewitsch, durfte ich kennenlernen. Minutenlang starrte er mich während
seiner Partie an, wahrscheinlich ohne mich überhaupt wahrzunehmen. Er hatte
einen seltsamen, aber einprägsamen Stil: er starrte einige Minuten wie gebannt
auf das Brett, um sich danach ausgiebig im Saale umzuschauen oder seine Augen an
einem Besucher festzusaugen - man hätte denken können, das Spiel interessiere
ihn nicht mehr -, um dann, nach erneutem kurzen Studium der Situation, seinen
Zug auszuführen. In derartigen Momenten spürt man die ganze Macht, die dieses
unscheinbare Spiel birgt.
Wir
reisten stets zusammen mit der Dresdener Bundesligamannschaft, in der noch immer
Großmeister Uhlmann eine hervorragende Rolle spielt. Es schien mir wie ein
Wunder, als er mich, nach etwa fünfundzwanzig Jahren,
wiedererkannte, nach jenem für mich so denkwürdigen
Simultanspiel, in welchem ich eine von fünfundzwanzig Teilnehmern war. Was für
ein Gedächtnis! Auch Uwe Bönsch, ein anderer Großmeister, gebürtig aus
Halle, und heute Bundestrainer konnte sich meiner entsinnen, denn zu jenen
Zeiten fungierte er als Bezirkstrainer und hatte die damals jugendliche
Spielerin kurzzeitig unter seinen Fittichen. Diese Aufmerksamkeit rührte mich
glücklich an.
Am
interessantesten freilich waren die Erfahrungen mit unseren Spielern. Es war
eine wirkliche Mannschaft und das will beim Schach viel besagen, denn obwohl man
als Team antritt, so hat doch jeder, im Unterschied zu den richtigen
Mannschaftssportarten, seinen eigenen Kampf durchzustehen. Den höchsten Dienst,
den man der Gemeinschaft leisten kann, ist es, mitunter ein Remis zu akzeptieren
oder aber eine vielleicht weniger aussichtsreiche Position noch auf Sieg zu
spielen, dann nämlich, wenn es das Gesamtresultat verlangt. Eine Mannschaft
besteht aus acht Spielern und um die alles entscheidenden Mannschaftspunkte zu
erringen, muss man mehr als die Hälfte der Partien gewinnen, also 4,5 Punkte
erreichen, wobei der mit Weiß spielende Akteur möglichst einen Sieg erringen
sollte, denn er hat stets den Anzugsvorteil, und der Spieler mit den schwarzen
Steinen zumindest ein Unentschieden anstrebt. Trotz dieser Eigenarten des
Schachs, war unsere Mannschaft wirklich eine solche, im Wortsinne. Nichts war zu
spüren von den sonst üblichen Eifersüchteleien, den Rivalitäten und Starallüren,
nein, es war wie eine große Freundschaft, wie ein vereintes Ringen um ein
gemeinsames Ziel. Selbst unsere auswärtigen Großmeister, die wie überall im
Profisport zeitlich begrenzte Verträge unterzeichneten und die von dem hier
verdienten Geld leben - nicht üppig, im übrigen -, selbst Beliavsky,
Kindermann, Bischoff und Gdanski, nahmen regelmäßig und gut gelaunt an den
abendlichen Zusammenkünften teil, an denen gescherzt, gelacht, auch sich ein
Bierchen genehmigt oder Doppelkopf gespielt, vor allem aber analysiert wurde.
Hier zeigten sie, was sie konnten: wenn Großmeister Kindermann sein
Magnetschachspiel rausholte und man die gespielten Partien besprach, da flogen
die Varianten nur so über das Brett, viel zu schnell, als dass ich alles hätte
verstehen können. Keiner von ihnen benötigte sein Partieformular, jeder kannte
sein Partie in- und auswendig und hunderte durchdachte Varianten, Abweichungen
und Stellungen dazu. Es war unglaublich und es waren viel eher diese Momente als
das eigentliche Spiel, welche mir die Ehrfurcht vor diesen Schachmeistern
einpflanzte, und selbst wenn es nur Übung gewesen sein sollte, so war sie doch
perfekt. Über dreihundert Photographien habe ich vor allem von jenen Zusammenkünften
gemacht und sie in drei dicken Alben, die mittlerweile dem Klub gehören,
gesammelt.
Am
amüsantesten allerdings, hier kann ich es ja sagen und ich hoffe, keiner nimmt
es mir übel, am lustigsten, waren die jeweiligen Macken der Spieler. Jeder hat
so seine eigenen Angewohnheiten, frönt seinem privaten Aberglauben. So will der
eine am Morgen einen Drei-Minuten-Tee und scheint jede gesündigte halbe Minute
herauszuschmecken, während der andere sich im Morgengrauen dem Kinderfernsehen
- bevorzugt den Teletubbies - widmet. Der dritte schließlich sitzt stets als
erster am Frühstückstische, allein um die ungelesene Morgenzeitung für sich
zu haben. Während des Wettkampfes betreute ich „meine Männer“, und schon
nach zwei Einsätzen wusste ich genau, wer zu welcher Zeit was benötigt, sei es
nun der Kaffee für Alex, der Tee für Jacek, der Schokoladenriegel für Stefan,
der Multivitaminsaft und Traubenzucker für Sven oder die obligatorische Banane
für alle. Und während Klaus Bischoff seinen Magen im Spiel zu vergessen schien
und Asket blieb, schlug Kindermann gleich mehrfach zu.
Einmal
stellte ich unserem Lutz Espig eine Tasse Kaffe hin, doch er, in Gedanken
versunken, merkte das nicht, stand wenige Augenblicke später auf und holte sich
selbst eine Tasse, um dann fragenden Blickes um sich zu schauen, woher denn nun
plötzlich zwei Tassen kämen. Lutz ist überhaupt ein lustiger Mensch. Vielen
wird sein Name sehr vertraut sein, denn auch er gehört neben Uhlmann, Malich
und Bönsch zu den Legenden des DDR-Schachs. Neben dem Schach scheint er seinen
Hund wohl am meisten zu lieben - und vice versa.
So beobachtete ich folgende köstliche Szene: Eines Morgens, es war in der
Passage in Andernach rief er zu Hause an und telefonierte tatsächlich - mit
seinem Hund! Als er rief: „Jerry, hallo Jerry, hier ist dein Herrchen, und aus
dem Hörer deutlich vernehmbares Jaulen ertönte, da war mir alles klar.
Ach,
man könnte noch hunderte derartige Anekdoten erzählen, etwa von Großmeister
Tischbierek, der sich beim Spiel immer den Zeigefinger ins Ohr steckt oder von
einem FIDE-Meister, der stets sehr ausgiebig
das Bad nutzt und dann die anderen antreibt, sie sollten sich doch beeilen im
Bad, auch von unserem Kura, der einmal früh um vier Uhr aufstand, um endlich
mal erster im Bad zu sein, von unserem Spitzenspieler Beliavsky, der immer mit
der gleichen Krawatte spielt und die erste Partie verlor, als er die
Vereinskrawatte trug, die ich Unselige ihm geschenkt hatte, ich könnte von den
vielen interessanten, tragischen und glücklichen Partien erzählen, aber all
das würde gut genug sein, um ein eigenes Buch zu füllen.
Auch
das macht die Magie des Schachs aus: es ist eine so reiche Welt, dass sie die
Menschen zusammenführt. Sicherlich kann man ebenso stundenlang über Fußball
reden, aber ich weiß nicht, ob es dort wirkliche Probleme zu lösen gibt.
Probleme, die jeden persönlich angehen. Das Schach bietet diese Gelegenheit und
es ist fast zwangsläufig, dass man sich kennenlernt, sich näher kommt. So war
es bei uns...
Früher
oder später hätte ich zu Grunde gehen müssen. Jetzt, wo ich dies
niederschreibe, wird mir es äußerst deutlich bewusst. Das Schach war es, was
mir das Leben rettete!
Ich
meine nicht nur die neuen Freunde, die mir geholfen haben, wann immer es
notwendig war, die mich oft am Abend anriefen, als wüssten sie um meinen
Zustand und mich aufmunterten, Witze erzählten, Spaß machten, mich zum Lachen
brachten - und das manches Mal zwei Stunden lang -, die mir Aufgaben im Klub
zuteilten, etwa das Training der Mädchengruppe, die mir auch zur Hand gingen,
wenn etwas erledigt werden musste, die vor allem immer bereit waren, mir
beizustehen, wenn ich es brauchte. Manchen bin ich vielleicht als übergeschnappt,
als durchgedreht erschienen. Mein Naturell und auch mein Mundwerk sind an sich
schon sehr lebhaft, aber nun, da ich die mich umgebende Ruhe nicht mehr ertrug,
war die Lebhaftigkeit noch einmal potenziert. Fast aus Verzweiflung - ah, eine
lebende Seele - stürzte ich mich auf sie und begann sofort loszuplappern, von
allen möglichen Dingen, vor allem aber, von den neuesten Entwicklungen im
Krankheitsfall, besonders wenn es Grund zur Hoffnung gab. Und sie alle nahmen
mich so, wie ich bin, sie nahmen mich an, sie akzeptierten meine Art und gingen
auf sie ein. Sie freuten sich, mit mir zusammen zu sein, luden mich ein,
scherzten, spielten Schach. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass sich das
Klima im Klub verbesserte und bildete mir ein, dass es etwas mit meiner
Offenheit zu tun habe.
Aber
nicht nur diese Komponente hatte das Schachspiel, nicht nur das rettete mir
mutmaßlich das Leben, sondern auch das Spiel als solches. Gerade in diesen
einsamen Momenten zu Hause, half mir oftmals ein Schachbuch. Ich holte mein
Schachbrett heraus, baute eine Kombinationsstellung auf und begann zu grübeln.
Stundenlang. Oder ich spielte Meisterpartien nach, versuchte mich in eine Eröffnung
zu vertiefen. Das gelang nicht immer, mitunter war der Kopf zu voll mit Sorgen,
aber es war so und so hilfreich. Selbst, wenn die Lösung nicht zu finden war,
ich hatte die Zeit nicht mit sinnlosem Grübeln verbracht. Oft schwirrten die
Gedanken dann in die Vergangenheit. Ich erinnerte mich der vielen schönen
Stunden im heimatlichen Schachklub, der familiären Atmosphäre, der zahlreichen
Erfolge, der alten Kumpels. Ich versank in frühere Zeiten und war in und mit
ihnen glücklich. Kurz, ich lebte von der Fähigkeit des Schachspiels, einen
Zustand der Versenkung, eine Art Meditation, herbeiführen zu können. Fast war
es praktizierter Stoizismus. Seneca bewies nur, was das Schachspiel mich schon
lange zuvor lehrte.
Unvorstellbar,
wie schnell die Zeit verging. Man glaubt immer, Zeit sei etwas Objektives,
etwas, das in immer gleichem Rhythmus neben uns her läuft. Eine Sekunde bleibt
eine Sekunde, sie entspricht stets, so hat die Wissenschaft es festgelegt - man
kann es in jedem Lexikon nachlesen - der
Oszillationsperiode des Atoms Cäsium 133. Demzufolge gibt es an der Zeit
nichts zu rütteln, sie kennt keine Abweichungen. Unsinn, sage ich, und mit mir
alle jene Menschen, die eine solche Frist schon einmal vor sich hatten. Fünf
Wochen Kalenderzeit waren in wenigen Momenten vergangen.
Ich
nutzte sie vor allem, um mich auf das große Turnier vorzubereiten. Wie man sich
wird vorstellen können, ist mir das nicht immer gelungen, denn der Druck des
Danach wuchs stärker und stärker an. Schließlich jedoch war es soweit.
Die
Konkurrenz war stark. Gemessen an der numerischen Spielstärke - jeder aktive
Schachspieler bekommt eine Wertungszahl, die seine aktuelle Spielstärke in etwa
ausdrücken soll - konnte ich mit einem guten Mittelplatz rechnen, all der Druck
jedoch, der zusätzlich noch auf mir lastete, ließ die Prognosen eher
vorsichtig ausfallen.
Schach
sei wie das Leben, sagte der überragende Boris Spassky, der frühere
Weltmeister, einst. Während dieses Turniers begann ich den Sinn seiner, Aussage
zu begreifen, mehr noch, mit jeder Faser zu fühlen. Schach war, in diesen
Momenten, wie das Leben. Es bietet alles: Freude, Leid, Enttäuschung, vor allem
aber Kampf. Nein, es ist Kampf. Viele glauben, es sei ein Kampf gegen den
Gegner, oft wird sogar von einem Krieg gesprochen, so, als begebe man sich in
den Boxring, auf ein Schlachtfeld gar, und haut aufeinander ein, nur mit
intellektuellen Mitteln. Nein, Schach ist nicht die Fortführung des Krieges mit
anderen Mitteln. Wer seinem Gegenüber Böses will, der ist falsch am
Schachbrett. Der da drüben, das ist dein Partner, wenn nicht, für die Zeit des
Spiels, dein Freund. Die Gedanken beider vereinen sich, treffen sich an diesem
Ort und konstruieren ein wunderbares Gebilde. Der Kreativere wird in der Regel
gewinnen, aber geschaffen haben beide. Wogegen aber wird denn ansonsten gekämpft?
Gegen die gegnerischen Figuren, wie ebenfalls verschiedene Stimmen behaupten?
Aber kämpfen wir denn gegen Windmühlen? Gleichen wir jenem Ritter von der
traurigen Gestalt? Mitnichten. Die Figuren sind nichts anderes als ein Stück
Holz, das lediglich von unserer Imagination belebt wird, nicht anders als die
Windmühlen des Don Quichote nur für diesen selbst gefährliche Riesen waren.
Was also sollte ich gegen ein paar geschnitzte Figuren haben? Und noch dazu
gegen sie kämpfen? Nein, der Kampf findet an einem anderen Ort statt und gegen
einen anderen Gegner, einen, der wirklich gefährlich ist und den zu besiegen
die allergrößte Genugtuung erzeugt. Gegen mich selbst kämpfe ich, mit mir höchstpersönlich
ringe ich. Nur, wenn ich mich selbst überwinden kann, meine Ängste, meine
Faulheit, meine Arroganz und was auch immer, nur dann kann ich siegen. Ist der
Partner freilich zu mächtig, dann vermag ich die Partie trotz allem nicht zu
gewinnen - dafür aber das Spiel. Nicht anders als im Leben, wo ich eine
Niederlage nach der anderen erleiden kann und doch daran wachse. Das alles
begriff ich während dieses denkwürdigen Turniers und empfand doch, wie ungenügend
Spasskys Aussage war.
Das
Schach sei das Leben, sagte der geniale Bobby Fischer einst und verschärfte in
seiner absoluten Art die Radikalität der Aussage. Mit dem Skalpell im Rücken
spielte ich diesen Satz in allen seinen Varianten durch. In der Tat, Schach war
in jenen Tagen mein Leben, alles, was mir an sicherer Zeit, Lebenszeit, noch
bevorstand, das hatte ich hier und jetzt zur Verfügung. Lebenszeit war
Spielzeit geworden und je länger und je besser ich spielte, um so länger und
um so besser lebte ich. Vor allem lebte ich noch! Solange du spielst, solange
lebst du noch. Also spiele! Man kann mit dem Schachspiel dem Tod ein Schnippchen
schlagen, wie in jenem Film von Ingmar Bergman, wo der Ritter den Tod fragt:
„Du spielst Schach?“ und als dieser von sich behauptete, ein ausgezeichneter
Spieler zu sein, ihn überlistete: „Aber du bist nicht so gut wie ich!“ Und
so spielte ich, wie in Trance, genoss jede Sekunde, jeden Zug, jeden Gedanken, füllte
mich frei von allem und hatte das Gefühl, als gäbe es in diesem Leben nie
wieder etwas anderes als dieses Spiel, das alle meine Gedanken gefangen nahm.
Irgendwann schließlich ging mir die Idee auf, dass auch Fischers scheinbar
absolute Aussage noch zu schwach ist. Das Schach musste mehr sein, als das
Leben, denn das Leben bescherte mir Qual und Kummer, das Schach hingegen machte
frei davon.
Das
Leben ist ein misslungener Abklatsch des Schachspiels - das war die Formel, die
mir ins Bewusstsein sprang. Ein ungeheuerlicher Satz, der mir wie eine
Erleuchtung aufging. Ja, hier war aller Schmerz überwunden, nur noch Freude,
Bejahung, nur noch mehr davon, mehr braucht das Leben nicht. Es gibt in dieser
verkorksten Welt einen perfekten Ort, ein Paradies und dieser Ort ist überall,
kann überall sein. Wo zwei verständige Menschen aufeinandertreffen und ein
Schachspiel zur Verfügung haben, dort wird das Paradies geschaffen. Sie
brauchen nichts mehr, sie genügen sich selbst. Sich selbst genügen: Höhepunkt
des Glücks. Dieses Spiel, diese 64 Felder und 32 Figuren, bilden eine
vollkommene Welt, die unsere Menschenwelt weit überragt. Sie verkörpern die
Idee der Vollkommenheit: Aber wie konnte es sein, dass dies zuvor noch nie ein
Mensch hat denken können, war es doch so offensichtlich? Seit Jahrtausenden
suchen die Menschen die Vollkommenheit und sie haben ihre besten Köpfe auf
diese Suche angesetzt. Man fand so viele Dinge: Gott, die Schönheit, die Güte,
das Recht, die Wahrheit..., lauter unhandliche Abstraktionen, und übersah das
Einfache. Seitdem die Menschheit auf der Suche ist, begleitet sie dieses Spiel,
aber den Kopf in der Höhe, übersah man das vor den Füßen liegende. An mir
jedenfalls hat das Spiel mehr geleistet als nur Rettungsarbeit, es hat mir das
Leben geschenkt.
Ausgerüstet
mit dieser monumentalen Einsicht, spielte ich ein Schach, das ich lange nicht für
möglich gehalten hatte und belegte - sensationell - den zweiten Platz. Ich war
wieder da! Und hätte nicht doch in manchen Augenblicken das zu Erwartende einen
dunklen Schatten auf meine hellen Einsichten geworfen, um bösen Zweifel zu säen,
dann wäre wohl noch mehr möglich gewesen.
(Auszüge aus: Andrea Hafenstein / Jörg Seidel, "Schach dem Tumor", ISBN 3-00-006718-3)
Das Buch "Schach dem Tumor" kann man für DM 14,80 bei Andrea Hafenstein selbst oder auf ihrer Homepage www.andrea-hafenstein.de bestellen.
http://www.koenig-plauen.de
Copyright © 2001 by Christian
Hörr. Aktualisiert am 13. September 2001.
Die Auszüge aus "Schach dem Tumor" werden hier mit freundlicher
Genehmigung der beiden Autoren Andrea Hafenstein und Jörg Seidel verwendet.
Jede Weiterverbreitung ohne schriftliche Genehmigung der beiden Autoren ist
verboten.