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LITERATUR
14. November 2001

Das Tao des Schachs
Acheng: "Il re degli scacchi"

"Wer alles haben will, der muss auch alles hergeben."
Meister Eckhart

"Wird das Wissen auf Kosten der Weisheit wachsen, so kann es zweideutig, ja selbst gefährlich werden, und auf Achtung besteht kein echter Anspruch mehr. Ethos und Eros der Belehrung schwinden; sie wird zu einer Funktion unter anderen. Chinesische Weisheit hat das früh vorausgesehen."
Ernst Jünger


Ein Buch wie dieses ist schwer zu besprechen; es gibt im europäischen Schrifttum nichts Vergleichbares und es überragt alles, was man hierzulande im Zusammenhang mit dem Schach lesen kann, kurz, es ermangelt ihm an Vergleichbarkeit. Die Schwierigkeit ist allerdings noch eine andere. Achengs Text entstammt einem kulturellen Kontext, der uns westlichen Menschen wohl stets rätselhaft bleiben muss. Man steht dem ratlos gegenüber, verblüfft von diesem Reichtum und der Einfachheit und läuft ob dieser Faszination Gefahr, zu hoch zu greifen, überzubewerten. Dass fernöstliche Literatur in den Kulturhochburgen gemeinhin unterbewertet wird, braucht nicht extra betont zu werden; wer kennt schon die großen Dichter und Denker des Ostens, wer wüsste in der reichen Geschichte Bescheid, wer weiß die tausendfältige Kunst würdigend zu genießen? Es bleiben daher oft nur Ahnungen, Stimmungen, Gefühle, der schwer zu fassende Eindruck, vor einem enormen Schatz zu stehen, ohne ihn wirklich sehen zu können. Dass uns hier eine hohe Form von Weisheit begegnet, wird mehr intuitiv denn rational begriffen und nicht anders wird der europäische Leser dieses Buch empfangen. Darüber zu sprechen heißt von vorn herein einen "Rest" an Nicht- und Unverständnis einzurechnen; wir werden den Text nicht wirklich verstehen können, ohne uns langfristig auf die in ihm enthaltenen Lebensformen einzulassen, aber wir können ihn – und ich wähle bewusst diesen hässlichen technischen Terminus, denn wir müssen es im Besprechen schon herabwürdigen -, wir können ihn für unser Verständnis kompatibel machen, so wie man auch über Laotse und Konfuzius, über Zen und Buddhismus sich zu sprechen anmaßt. Dies aber sind die Dimensionen, die Achengs an sich unscheinbare Geschichte berührt, nicht zuletzt und vor allem, wenn über das Schachspiel nachgedacht wird. Dass es sich hierbei um Chinesisches Schach handelt, eine ältere, wohl auch reichere, spannendere, dynamischere, komplexere Form des Schachs, die im Übrigen wesentlich mehr Menschen auf der Welt begeistert als die europäische, muss mitbedacht werden, ist aber nicht wirklich wichtig, denn es ist nicht die andere Form, die den Geist hervorbringt, sondern der andere Geist brachte diese Form hervor, die wiederum den Geist entsprechend bildet.

Man könnte die Handlung des kaum achtzig Seiten umfassenden Romans so beschreiben: der namenlose Ich-Erzähler lernt zufällig Wang Yisheng kennen, einen jungen genialen Schachspieler, der seinen Lebensunterhalt recht kümmerlich durch das Spiel und auch ein wenig Betrug fristet. Sein gesamtes Denken kreist um das Schach, ums Essen, um geistige und körperliche Nahrung. Nichts anderes scheint dessen begrenzten Geist zu interessieren. Bei alten Meistern in die Schule gegangen, gelingt es ihm schließlich, alle Gegner zu besiegen, gipfelnd in einem Aufsehen erregenden Sieg, den er ohne Ansicht des Brettes zugleich gegen neun, zum Teil meisterhafte Spieler erlangt. Man hätte dann nicht gelogen und noch nicht mal viel verschwiegen, in der Tat, dies umschreibt in wenigen Worten das Geschehen. Und doch hätte man von diesem schmalen und großen Buch nichts begriffen, nichts von dieser seltsam enigmatischen Person Wangs, nichts von dieser fremd-geheimnisvollen Kultur und nichts von diesen armen reichen Menschen und erst recht nichts von diesem faszinierenden Spiel, geschweige denn von dieser befremdlichen und doch so natürlichen Spielauffassung.

Selbst dem Ich-Erzähler bleibt Wang wesentlich rätselhaft, wenngleich er mehr und mehr sein Denken beeinflusst. Aber da öffnet sich ein Abgrund von Jahrhunderten zwischen den beiden, sie repräsentieren verschiedene anthropologische Konzepte selbst innerhalb dieser andersartigen Kultur. Stellt der eine das moderne Wissen dar und in gewisser Weise die westliche, die verwestlichte, auch die freie Welt, so spricht aus dem anderen, trotz seiner persönlichen Unvollkommenheit die Weisheit, die Weisheit vergangener Zeiten, die seither unerreichte Weisheit der alten taoistischen Meister. Schon als beide sich unvorbereitet im Zug kennen lernen, der sie in eine weit entfernte Provinz bringen soll, wo sie auf Arbeit, Lohn und Brot hoffen, schon in diesem Zug, der im Jahre 1969 auf einem großen übervölkerten, chaotischen Bahnhof abfährt, stoßen diese beiden Welten, diese beiden Charaktere unversehens aufeinander, freundschaftlich gestimmt zwar, aber doch vollkommen gegensätzlich. Unvermittelt fragt der noch Unbekannte nach einem Schachspiel und beginnt die Partie unerachtet der geäußerten Abneigung seines Gegenüber. Als sie sich bekannt machen, fällt schon der quasi programmatische Satz: "Ich gehe dorthin, wo es was zu essen gibt", so sagt Wang, "was hat all dieses Pläneschmieden für einen Sinn? Los, mach‘ deinen ersten Zug" (7). Als er den Namen erfährt, da weiß der Erzähler, wem er gegenübersitzt: der Schachmaus ("Topo di scacchiera"[1]), einem stadtbekannten "brillanten Spieler, der auch in Mathematik der Beste unter den Studenten seines Jahrgangs war" (9). Er erfährt von dessen Leben, wie er sich mit öffentlichen Schachpartien über Wasser hielt, wie er von alten Meistern unterrichtet und belehrt und wie das Schach schließlich mehr als ein Spiel wurde. "Die Fähigkeit im Schach", so belehrt ihn ein alter Meister, dem er wegen seiner größeren Spielstärke respektlos gegenübertrat, "ist mit dem Charakter untrennbar verknüpft und wenn er so weitermacht, so ist auch sein Talent zu einem bösen Ende verurteilt" (1). Und er hört, dass es wichtigere Dinge als das Schach gibt: "Wenn du an einem Tage nichts gegessen hast, dann geht das Schach in Rauch auf" (13), denn mehr noch als das Schach beschäftigt den charismatischen Wang das Essen. Es ist das andere große Thema seines Denkens, all seine Weisheit speist sich aus diesen beiden Erfahrungsquellen: dem Hunger und dem Spiel. Daraus ergibt sich eine Form der Gelassenheit, die eine Negativität unmöglich macht, eine Leichtigkeit des Seins und Lebensfreude, die, da sie von der Hand in den Mund lebt und die Sorge um den nächsten Tag nicht kennt, alle existentiellen Schwierigkeiten meistert. "Typen wie wir sind nicht traurig, wir sind höchstens unzufrieden. Und wie könnte ich meine Unzufriedenheit zerstreuen, wenn nicht durch das Schach" (15)? Die Dimensionen des Glücks werden von den tagtäglichen Belastungen gar nicht berührt, doch das kann man erst begreifen, wenn man das fälschliche Synonym Glück und Zufriedenheit auflöst.
Gegen diese einfache, direkte und unverfälschte Einsicht lässt sich zwar mit dem akademischen Wissen argumentieren und dies stößt auch auf Interesse, denn dem einfältigen Menschen ist nichts wirklich fremd, doch mehr als dies können die Rekursionen auf eine fremde Literatur, auf Jack London und Balzac etwa, sich nicht erhoffen. "Die Fremden sind nun mal nicht wie wir. Da gibt es eine Barriere zwischen uns und ihnen" (18). Die Erzählung der eigenen Großmutter hat für diesen Geist ganz andere Authentizität, auch weil dort eine eigene Erfahrbarkeit vorliegt; über Hunger kann man nur hungernd schreiben! Und die jahrhundertealten Regeln des gesunden Menschenverstandes gelten eh mehr, als all die noch so wohl konstruierten Moralismen: "Bleibe immer ein bisschen hungrig und du wirst lange leben" (18).

Schließlich verlieren sich die beiden für eine Zeit aus den Augen. Sie gehören verschiedenen, weit auseinander liegenden Produktionsgemeinschaften an. Auch wenn das Verdienst verhältnismäßig gut ist und man keinen Hunger leidet, so regiert doch das Denken an die Nahrungsbeschaffung. Vor allem mangelt es an Öl und an tierischen Fetten, weshalb man nach schwerer Arbeit in den schon abgejagten Wald geht, um Frösche, Mäuse und Schlangen zu fangen. Die Zubereitung einer Schlange wird schließlich zur Zeremonie, die Gedanken aller kreisen darum, wie das Tier am vollständigsten und wohlschmeckendsten zubereitet werden könne. An diesem Mahl nimmt auch die "Schachmaus" teil, der nach wochenlanger Arbeit seinen neuen Freund besuchen möchte und natürlich neue Schachpartner sucht. "Nach langem Schweigen sprach er: - Ja, mir geht es wirklich gut. Keine Rede. Ich habe zu essen, ich habe Geld. Was könnte man noch wollen? Ich lasse es mir wirklich gut gehen. Und du? - fragte er mich, in eine Rauchwolke eingehüllt. Aufseufzend antwortete ich: - Gut, an Geld mangelt es nicht, Reis gibt es reichlich. Es fehlt nur an Öl und das Mensaessen verursacht Magenbrennen. Aber am schlimmsten ist, dass es keine Abwechslung gibt, keine Bücher, kein Licht, kein Kino. Es ist schwer einen anderen Ort zu erreichen und so sind wir immer gezwungen hier zu bleiben. Eine tödliche Langeweile. – Ihr werdet nie zufrieden sein – sprach er kopfschüttelnd – Was wollt ihr denn noch? Die Bücher sind es, die dich verdorben haben. Ich habe lange über die Geschichten nachgedacht, die du mir im Zug erzählt hast und ich fand sie schließlich sehr hübsch. Du bist tüchtig, hast viel gelesen, aber am Ende, was hast du gelöst? ... Man muss in der Lage sein, sich zufriedenzustellen, allein sich zu jeder Mahlzeit satt essen zu können, ist ein Glück ... – Ich bereute meine Unzufriedenheit gegen das Leben ausgesprochen zu haben, dem das Öl, vor allem die Bücher und das Kino fehlt, all die Dinge, die nicht zu den fundamentalen Bedürfnissen gehören und keine Beunruhigung für ihn bedeuteten. Einen Moment lang fühlte ich mich entmutigt und überdachte einige Dinge, die er gesagt hatte. Sicher, was weiter war ich auf der Suche? Ging es mir nicht gut? Ich musste mich nicht darum besorgen, wo ich meine nächste Mahlzeit her bekäme, das Bett, auch wenn es kaputt war, gehörte mir, ich musste mich nicht mit der Suche um Unterkunft herumschlagen. Na also, warum war ich unzufrieden? Weshalb diese Lust, ein Buch zu lesen? Oder einen Film zu sehen, wo, wenn das Licht angeht, alles verschwindet? Was konnte mir das geben? Aber irgendwie empfand ich auf dem Grunde meiner Seele ein vages Begehren, schwer in Wort zu fassen, das aber, das wusste ich, mit dem Leben zu tun hatte" (33f.). Woraus speist sich diese modern anmutende Unzufriedenheit, die immer nur mehr und Neues will, statt zu genießen, was ist? Und weshalb empfand sie dieser rätselhafte Wang nicht? Oder gab es da etwas, das ihm all diese Wünsche zu erfüllen vermochte, dauerhaft und immer und immer wieder? Natürlich, das Schach! Aber ein anderes Schach als wir es kennen, ein anderes Verständnis davon, eines, welches den Akt des Spielens über alles setzt und den Genuss am Denken tiefer empfindet als Sieg oder Niederlage, ein Verständnis, das sich letztlich selbst genügt. "Das Schach ist meine Passion", sagt er, "Wenn ich spiele, dann vergesse ich alles" und dieses "alles" wird man sehr ernst nehmen müssen. "Wenn ich in eine Partie vertieft bin, dann fühle ich mich wohl. .... – Was würdest du tun, wenn man dir verbieten würde, zu spielen oder auch nur an das Schach zu denken? – Mich überrascht anschauend sagte er: - Das ist unmöglich, wie sollte das gehen? Ich kann im Geiste spielen, man müsste es mir im Hirn auskratzen. Du sprichst Unsinn. – Es ist schön, Schach zu spielen – sagte ich mit einem Seufzer -. Wenn man ein Buch einmal gelesen hat, dann kann man es nicht im Geiste wieder lesen, man denkt immer daran, ein anderes zu lesen. Im Schach dagegen kann jeder sich daran erfreuen, selbst die Strategie zu ändern. ... Jetzt brauchen wir uns nicht um Trinken und Essen sorgen, allerhöchstens, wie du sagtest, ist das Essen nicht gut genug, und doch scheint das Leben uns keinen großen Sinn zu haben. Spiele Schach, das vertreibt die Traurigkeit" (34f.)

Diese scheinbar belanglosen Worte wiegen schwer. Da stoßen antagonistische Welten aufeinander, die materialistische und die idealistische Welt, verschiedene Zeitauffassungen werden konfrontiert, die lineare und die ewig wiederkehrende Zeit, Moralauffassungen treffen aufeinander, Gut und Böse und Jenseits von Gut und Böse und viele mehr. Das alles aber geschieht in einvernehmlichem Gestus und es ist nicht zuletzt diese Einmütigkeit, die uns so befremden und faszinieren muss, weil Konflikte nach unserer Auffassung gelöst werden müssen, während sie hier beharren (sistieren) können. Dabei wurde Wang die Weisheit nicht in die Wiege gelegt, sondern er sog sie in widersprüchlichen Entwicklungen aus der inhärenten Kraft des Schachspiels. Erlernt hatte er es bei der Mutter, die ihn anderseits ängstlich davor warnte, ihm sein Leben zu widmen, viel mehr auf einer nützlichen Ausbildung, auf einen Beruf drängt. Aber Schach war mehr als Beruf, es war Berufung, selbst gewählt, und doch nicht Sucht. Da gab es schwierige Balanceakte zu meistern. "Vergiss nie meine Worte: verliere nicht den Kopf über dem Spiel", lehrte ihn die Mutter und auch: "Du willst allein das Schachspiel studieren? In früheren Zeiten konnten sich das nur die Reichen leisten! Ich habe nie solche Leute gesehen, die hatten alle eine Position und verdienten sich durch das Spiel nicht ihr Brot. ... Was immer deine Ergebnisse im Schach sein werden", gibt sie ihm noch auf dem Sterbebett mit; "es wird dir nichts zu essen bringen" (39).

Es fügt sich, dass sich im landwirtschaftlichen Betrieb ein sehr starker Spieler befindet, dessen Vater ein angesehener Meister ist und einer Familiengeschichte entstammt, die sich 800 Jahre zurückverfolgen lässt. "Die Familientradition kann im Schach von großer Bedeutung sein" – auch so ein Satz, über den man verstummen müsste, um ihn zu fassen. Daraus spricht sie wieder, die ferne, andere Welt.: "Man darf die Züge nicht unterschätzen, die von Generation zu Generation übertragen werden" (43). Wie ist solch eine Aussage nur möglich? Kann sie überhaupt Sinn haben oder ist sie nur auf das Chinesische Schach anwendbar? Dann freilich wäre es in der Tat dem europäischen tausendfach überlegen [2]. Sie widerspricht so fundamental unserer Auffassung nicht nur vom Schach. Jeder beliebige Großmeister würde sich heutzutage zutrauen, einen Anderssen oder Morphy niederzuringen, da er von der Wissensakkumulation profitiert und jeder x-beliebige Pennäler weiß hundertmal mehr über die zeitaktuellen Themen, über Computer, Börse, moderne Kunst etc. als sein Großvater. Und doch war es stets das Wissen der Alten, das zählte, solange zumindest, bis die modernen Beschleunigungsprozesse den Zeitstrahl umpolten und das magische Wort "neu" – einst Grund zur Skepsis [3]– unwiderstehlichen Zauberklang bekam und sich an Stelle der "Erfahrung" und des "Vertrauten" setzte. Für Generationen, ohne Erfahrungshorizont aufgewachsen - Gegenwart wird zunehmend liquidiert, verflüssigt, zu einem Fluss, in den man nicht zweimal steigen, in dem man keine dauernden Erfahrungen mehr sammeln kann und an den keine Erwartungen mehr geknüpft werden können -, müssen solche Sätze absurd klingen, aber sie sind älter und daher wahrer.

Ni Bin jedenfalls bringt zur Feier des Tages – seit langem hat er einen würdigen Gegner zu gewärtigen – ein Spiel aus der Ming-Zeit (1368-1644) hervor und unterstreicht schon durch diesen symbolischen Akt den Wert des Tages. Auf ihm soll der denkwürdige Kampf stattfinden. Die Partie endet für die unkundigen Zuschauer rätselhaft, scheinbar mitten im Spiel, nach dreißig Zügen, sagt Wang Yisheng "Machen wir eine neue Partie". Dass die laufende schon entschieden ist, wissen zu diesem Zeitpunkt nur die beiden Spieler, aber es spielt keine Rolle und es wird noch nicht einmal erwähnt. Weitere Partien enden mit dem gleichen Ergebnis; Ni Bin gibt sich schließlich geschlagen, aber wie! "Ich bin sehr froh, dich kennen gelernt zu haben, ich möchte, dass wir Freunde werden" (47). Und er wird ihn zum großen Turnier einladen, er wird sein altes unbezahlbares Schachspiel als Bestechungsgeld opfern, um beim Sekretär die Teilnahme des an sich nicht spielberechtigten Wang zu ermöglichen, und er wird ihn begleiten, für Unterkunft und Auskommen sorgen.

Man trifft sich anlässlich des Turniers, sechs Monate darauf, wieder. Die kleine Stadt ist voller Leben, alles spricht von dem großen Ereignisse. Zum ersten mal sieht Wang ein Theaterstück, schwach gemacht, aber genug, um ihn vollends zu verzaubern. Wieder wird deutlich: dieser Mensch hat einen direkteren Weltbezug, er ist, im besten Sinne des Wortes, naiv und einfältig. Und direkt. Er werde nicht an dem Turnier teilnehmen, überrascht er die erschrockenen Freunde wenige Stunden vor dem Beginn. Vor allem das Geschenk Ni Bins an den Sekretär sei nicht gerechtfertigt, erst recht nicht für einen Menschen, der in der Tradition der alten Lehren lebt. Auch Ni Bins Bruch mit der Vergangenheit, kann ihn nicht von der Entscheidung abbringen: "Dieses Schachspiel ist ein altes Erbstück der Familie, aber ich ertrage einfach das Leben auf dem Lande nicht mehr. Ich möchte an einem Ort leben, wo ich mich nicht jeden Tag schmutzig machen muss. Das Schachspiel gibt nichts zu essen, wenn es mir hilft, etwas zu erreichen, dann lohnt es, es loszuwerden." Doch Wangs Geist ist nicht mehr umzustimmen, er ist für Höheres bestimmt. "Danke Ni Bin, aber ich werde nicht am Turnier teilnehmen, ich werde vielmehr die Sieger des Turniers herausfordern." (67f.). Und tatsächlich, nach Beendigung des Turniers tritt er auf die Sieger zu, unterrichtet sie von seinem Vorhaben und steigert die Spannung, als er ihnen anbietet, im Geiste – Blindsimultan, würden wir sagen – gegen beide zugleich anzutreten. Wie ein Lauffeuer durcheilt die Nachricht die Stadt und als sei dies nicht genug, den Glauben der Menschen zu erschüttern, gestattet er einem dritten Meister teilzunehmen – dieser bleibt in seinem Hause, Kuriere überbringen die Züge -, schließlich, die Situation spitzt sich mehr und mehr zu, werden es neun Spieler sein, gegen die Wang anzutreten gedenkt. Noch nicht einmal so viele Spiele waren vorhanden, "also brachte jemand acht große weiße Pappen, auf die schnell das Schachbrett aufgezeichnet wurde. Ein anderer schnitt hundert Quadrate in den Karton, auf die mit rot und schwarz die Ideogramme der verschiedenen Steine aufgezeichnet wurden..."(70f.). "Wang Yisheng nahm in der Mitte des Saales Platz. Die Hände auf die Beine gestützt, den Blick ins Leere gerichtet, Gesicht und Kopf voller Staub bedeckt. Er erinnerte an einen Beschuldigten, der einem Verhör unterzogen wird. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen und durchquerte den Saal, um ihm ein wenig Staub abzuklopfen. Er packte meine Hand und ich bemerkte, dass er ein klein wenig zitterte. Mit leiser Stimme: - Die Sache hat übertriebene Verhältnisse angenommen, seid auf der Hut, bei der geringsten Schwierigkeit hauen wir ab. – Was soll schon passieren? Du brauchst nur zu gewinnen und alles wird gut. Wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Vor dir hast du neun Herausforderer, von denen drei die Gewinner des Turniers sind -. Nach einer gewissen Ruhe antwortete Wang Yisheng: - Ich fürchte mehr die Vagabunden als die Höflinge. Die Technik der drei Meister hatte ich Gelegenheit zu sehen, ich frage mich vielmehr, ob unter den anderen sich nicht ein wirklicher Gegner befinden könnte" (71f.). Der Wettkampf begann, die Tausend Zuschauer verstummten, man hörte nur die Stimmen, welche die Züge ausrufen. Nach einer Weile: "Ich betrat erneut den Saal. Die frohe Miene Ni Bins machte mich zuversichtlich. – Wie läuft es? – fragte ich ihn -. Ich habe vom Schach keine Ahnung -. Sich das Haar in Ordnung bringend, antwortete er: - Wundervoll, Wundervoll. Noch nie habe ich einen solchen Kampf gesehen. Stell Dir vor, er allein gegen neun, neun Partien auf einmal. Eine Schlacht an so vielen Fronten! Ich will meinem Vater alle Züge dieser Partien schicken -. In diesem Moment erhoben sich zwei der Spieler, verneigten sich vor Wang Yisheng und sagten: ‚Wir erklären uns geschlagen‘ und gingen. Wang Yisheng nickte mit dem Kopf und warf einen Blick auf ihre leeren Sitze" (73). Sechs weitere Gegner ereilt nach und nach - Stunden vergehen, der Tag dunkelt - das gleiche Schicksal. Schließlich wird nur noch an einem Brett gespielt, an dem des Meisters, der seine Züge vom Hause aus übermittelt. Man wartet lange auf seinen Zug. "Die roten Steine blieben lange unberührt. Ungeduldige schauten auf die Straße, in Erwartung des Kuriers auf dem Fahrrad. Plötzlich bewegt sich die Menge der Menschen und beginnt sich nach und nach zu öffnen. Ein Alter mit kahlem Kopf erscheint bedächtig, von einer Person an seiner Seite begleitet. Seinen Lippen zittern, während er die acht Spielbretter betrachtet. Unter den Anwesenden verbreitet sich blitzschnell das Gerücht, dass dies der Meister sei. ... Nachdem er sich von der begleitenden Person befreite, ging der Greis einige Schritte nach vorn, blieb stehen, schlug die Hände über dem Bauch zusammen und sprach mit lauter Stimme: "Junger Mann, ich bin alt und leidend und deshalb konnte ich nicht persönlich auf dem Kampffeld erscheinen, sondern musste Kuriere nutzen, um die Züge mitzuteilen. Trotz deines jungen Alters, so konnte ich feststellen, besitzt du eine große Meisterschaft im Schachspiel. Du hast verschmolzen die Methoden des Taoismus und des Zen und du bist sehr begabt im Planen deiner Züge. Wie die großen Generäle der Vergangenheit und der Gegenwart, weißt du, wie man die Initiative übernimmt, dabei deine Kräfte entfaltend, und weißt, wie wichtig es ist, deinen Gegner zuerst angreifen zu lassen. Dir gelingt es, den Drachen zu jagen und die Wasser zu bändigen, dein Lebenshauch ist in Einklang mit den Prinzipien des yin und des yang. Dieser leidende Alte ist glücklich, dich getroffen zu haben. Es bewegt mich zu wissen, dass die Kunst des Schachspiels in China nicht sterben wird. Ich wünschte, eine Freundschaft könnte mich mit dir verbinden, die den Altersunterschied überwindet. Ich beende hiermit die Partie, ich habe gespielt, um mich zu unterhalten. Wärest du in der Lage ein Unentschieden in Erwägung zu ziehen und das Gesicht des leidenden Alten zu wahren?" Wang Yisheng "nach langer Pause, sprach mit schwacher Stimme: ‚Und Gleichheit sei‘" (76ff.). Wenig später bricht er zusammen, nachdem er schluchzend folgende Worte hervorbrachte: "Mama, dein Sohn heute ... Mama ..."

Es lohnt, glaube ich, noch einmal konzentriert den Blick auf die schachspezifischen Aussagen zu werfen, weitere Zentralaussagen vorzustellen und deren geistesgeschichtlichen Hintergrund anzudeuten, bevor abschließend einige Worte zum Autor fallen werden.

Unabhängig davon, dass es sich hier um das Chinesische Schach handelt, werden Mitteilungen gemacht, die das Verständnis auch des europäischen Schachliebhabers erschüttern können. Und selbst dort, wo die Besonderheiten spezifisch chinesisch sind, ist die Überlegung lohnenswert, ob es sich nicht um eine reichere Form des Spiels handelt oder aber, ob wir von einem spirituellen Verlust sprechen müssen, wenn wir heutzutage Schach thematisieren. Das würde bedeuten, dass der hier nur angedeutete Reichtum sich im Laufe des Fortschrittsdenkens aus der westlichen Variante verflüchtigt hat oder nie auch nur ausgelebt wurde. Auch eine dritte Möglichkeit kann nicht außer Acht gelassen werden; es könnte sich allein um literarisch fiktionale Bedeutungen handeln, dem Geist des Autors entsprungen und ohne Realverständnis.

Die wohl entscheidendsten Eindrücke erlangt Wang Yisheng von einem alten armen Schlucker, einem Manne, der davon lebte, Altpapier und Lumpen zu sammeln. "Er war wirklich außergewöhnlich und ich bot ihm also an, mit mir zu spielen. Der Alte ließ mich den ersten Zug machen. Wir spielten im Geist, gegenüber der Müllhalde, ich verlor fünf Partien nacheinander. Die ersten Züge des Alten waren nichts Besonderes, aber sein Spiel war wirklich schlau und heimtückisch. Er schlug ein wie ein Blitz, er wusste, wie man ein Netz auswirft und wie man es so schnell einzieht, dass man nicht mehr entwischen kann. Von da an spielten wir jeden Tag im Kopf, gegenüber der Deponie. Wenn ich nach Hause kam, überdachte ich die Taktik seines Spiels und nach und nach gelang es mir auszugleichen und auch eine Partie zu gewinnen. Um ehrlich zu sein, diese Partie gewann ich in gerade mal zwölf Zügen. Der Alte schlug lange mit seinem Haken, den er zum Papiersammeln nutzte, auf die Erde und mit einem Seufzer sprach er: ‚Du hast gewonnen‘. Ich war zufrieden und ich sagte ihm, dass ich nach Hause gehen wollte. Er warf mir einen Blick zu und sagte: ‚Du bist zu voll von dir selbst!‘; danach gab er mir eine Verabredung an der Deponie für den folgenden Abend. Am Abend darauf ging ich hin und ich sah ihn von fern mit seinem Korb ankommen. Als er mir nahe war, zog er aus seinem Korb ein Stoffbündel und gab es mir in die Hand. Er sagte, dass es sich um Abschriften zum Spielen handelt und dass ich sie studieren solle und sehen, ob ich etwas davon verstünde. Dann sagte er, dass ich zu ihm auf die Halde kommen könne, wenn ich Schwierigkeiten hätte und die Probleme besprechen könne. Sogar er war in der Lage sie zu lösen. Ich beeilte mich, nach Hause zu kommen und begab mich an das Studium der Darstellungen, aber, verdammt noch mal, ich verstand nichts. Es war ein seltsames Buch, ein Manuskript voller Randnotizen und vollkommen zerknittert. Wer weiß, aus welcher Epoche es war! Das, was es enthielt, schien wirklich nichts mit dem Schach zu tun zu haben, sondern mit irgendeiner anderen mysteriösen Sache. Am Tag darauf ging ich, den Alten zu suchen und ich sagte ihm, dass ich nichts verstanden hätte. Er brach in ein lautes Lachen aus, sprach, dass er mir eine Passage erklärt hätte, weil ich einen Schlüssel zur Lektüre haben könnte. Als er seine Erklärung begann, blieb ich wie versteinert. Der Abschnitt sprach über die Beziehung zwischen Mann und Frau. ‚Das gehört zu den <vier alten Sachen> (quattro vecchiumi [4]), sagte er. Der Alte stöhnte: ‚Was ist alt? Ist nicht das Papier, das ich tagtäglich sammle, alt? Und dennoch, wenn ich es aussortiert habe, so verkaufe ich es doch wieder, um mir das Geld zum Leben zu verdienen; ist das nicht vielleicht etwas Neues? Die alten Taoisten sprechen von den Prinzipien des yin und des yang. Dieses erste Kapitel erläutert das yin und das yang, es bedient sich dabei des Mannes und der Frau. Das yin und das yang durchdringen einander und wechseln sich ab. Man darf am Anfang nicht zu kräftig sein, denn zuviel Kraft verursacht Zerstörung, eine übermäßige Schwäche verursacht Zerstreuung. Dein Fehler ist es, zu viel Kraft zu haben. Wenn der Gegner aggressiv ist, so musst du ihm mit Weichheit begegnen und zugleich die Strategie ausarbeiten, die dich zum Sieg führt. Weichheit bedeutet nicht Schwäche [5], sie bedeutet Fassen (contenere [6]), Empfangen, Bergen. Während du den Gegner (er)fasst (bändigst...), wirst du ihn in die Strategie, die du kreierst, hineinlocken. Und du musst sie entsprechend des Prinzips des "Nicht-Handelns" (non agire [7]) gestalten. "Nicht-Handeln" ist das Tao [8] und begründet die unveränderliche Natur des Schachs. Versuche, es zu ändern und es wird das Schach nicht mehr sein. Du wirst nicht nur verlieren, sondern du wirst nicht mal mehr in der Lage sein, zu spielen. Man kann nicht gegen die Natur des Schachs handeln, sondern du musst für jede Partie deine eigene Gewinnstrategie entwerfen. Wenn du einmal die Natur des Schachs verstanden hast und wenn du in der Lage bist, deine Strategie zu verwirklichen, dann wird es nichts geben, wozu du nicht fähig wärest. All dies ist ziemlich mysteriös, aber wenn du aufmerksam darüber nachdenkst, dann wirst du dir klar darüber werden, dass es wahr ist‘. ‚Derart formuliert, ist es sehr einleuchtend‘, sagte ich, ‚aber im Schach existieren tausende Möglichkeiten: wie kann man sich da sicher sein, zu gewinnen?‘. ‚Genau hier beginnt die Kunst, eine Strategie zu erschaffen‘, antwortete der Alte, ‚Die Strategie definiert sich in den kritischen Momenten. Zöge niemand, so gäbe es kein Spiel. Aber es genügt, dass der Gegner einen Zug macht, denn du verwirklichst die Strategie und führst das Spiel. Hast Du es mit einem Gegner auf hohem Niveau zu tun, so wird es schwierig sein, die Strategie zu verwirklichen und du wirst Niederlagen erleiden. Er wird einen Stein verlieren, dann wirst du einen verlieren. Zu allererst wirst du seine Attacken ablenken müssen oder einen schwachen Punkt finden, wo du ihn festnageln kannst. Hast Du seine Strategie einmal blockiert, so wirst du deine entfalten. An diesem Punkte musst du dich nicht mehr sorgen zu verlieren. Die Strategie wird sich verändern entsprechend der Situation. Eine Strategie erzeugt eine andere, eine Falle die andere. Man beginnt mit einer kleinen Strategie, die aufgeht in eine höhere. Derart müssen sie verschmolzen sein, damit der Gegner keinen Ausweg findet‘. Der Alte sagte, dass ich wüsste, Fallen zu stellen, aber von Strategie verstünde ich nicht viel. Ich war in der Lage eine Falle auszurechnen auf viele Züge im Voraus, aber keine Strategie besitzend, führte mich dies nicht zum Sieg. Jedenfalls war ich intelligent, fügte er hinzu, und so werde ich es sicher schaffen. Er erklärte mir, dass ich deshalb in der Lage war, ihn zu schlagen, weil ich seine Strategie zerstört hatte und dass es keinen Sinn gehabt hätte, weiter zu spielen. Er sagte, dass ihm nicht mehr viel Zeit zum Leben bliebe und dass er, da er keine Söhne hatte, mir seine Kunst übertragen möchte. ‚Euere Meisterschaft im Schach ist so groß‘, sagte ich, ‚warum habt Ihr sie nicht zur Profession gemacht?‘. Er seufzte und antwortete, dass die Fähigkeiten im Schach ihm von seinen Vorfahren überliefert wurden, die ihn allerdings auch gelehrt haben, dass man das Schachspiel nicht zum Mittel des Lebensunterhalts machen darf. Das Schach war ein Mittel, die eigene Natur zu kultivieren, während das materielle Leben diese Natur beschädigen kann. Deshalb darf man nicht zu viel machen, um zu verdienen. Dann fügte er hinzu, dass diese Lehren ihn benachteiligt haben, weil er nie ein Handwerk erlernt hat, in dem er genügend verdiente, um zu leben.

Ich hatte den Eindruck, etwas über das Schach gelernt zu haben, und dennoch war ich ratlos: - Aber warum gibt es diese Differenz zwischen den Prinzipien des Schachs und denen des Lebens? – Auch ich stellte mir diese Frage, besessen wie von einem Dämon, befragte ich den Alten zu den Begebenheiten der Welt. Er antwortete, dass das Schach aus einer präzisen Zahl von Figuren besteht und einem Schachbrett mit großartigen Möglichkeiten. Die Regeln, die dort galten, waren immer dieselben, nur die Situationen änderten sich. Die Spielsteine waren immer alle gut sichtbar. In den Begebnissen der Welt statt dessen, gab es zu viele Dinge, über die man nichts weiß. Es gibt jeden Tag neue dazibao [9], aber wenn man auch nur einen Teil nicht durchsehen kann, so wird man es nie erreichen, die ganze Wahrheit zu erfahren. Nicht alle Figuren sind auf dem Brett; es ist eine Partie, die man nicht spielen kann" (21ff.).

 

Man müsste die Kraft haben, eine solche Rede unkommentiert zu lassen. Nur das Ungenügen kann einen weiteren Eingriff rechtfertigen: nicht das Ungenügen der Rede, das gibt es nicht, wohl aber unser Ungenügen des Verstehens, aber auch das Ungenügen der Übersetzung. Diese Zeilen darf man nur im Bewusstsein lesen, dass es sich hier um eine Übersetzung der Übersetzung handelt, und dort, wo der Alte die taoistischen Prinzipien erläutert und nutzt, dort übersetzt auch er schon die klassischen Texte der alten Meister; das sind Zhuangzi, vor allem aber – die eingefügten Fußnoten belegten es – Laotse. Unser Ungenügen verbietet uns, hier abschließende Urteile zu fällen, zumal über ein uns weit entfernte Kultur, aber darüber hinaus, ist es der Taoismus selbst, der Urteile inhärent verbietet (daher nur wenige weiterführende statt abschließende Worte). Er selbst, der Taoismus – an dem Wort ist schon der Ismus nicht stimmig – beinhaltet die Denkfigur des Nicht-Sagen-Könnens [10]. Daher die oft paradoxale, zirkuläre, für europäische Ohren so widersprüchliche Rede, etwa wenn der Alte betont, von diesen Lehren, die er gerade eben noch als höchste Form lobte, benachteiligt worden zu sein. Und natürlich haben diese Lehren den Alten bevorteilt, wie sie jeden Menschen bevorteilen, der sich ihrer annimmt, es ist sogar erst diese Bevorteilung, die ihn jene Benachteiligung begreifen lässt. Es muss und wird immer diesen Rest Unklarheit geben; es ist überhaupt nur ernst zu nehmen, wenn er auf das Aussprechen der Wahrheit verzichtet, auf das Aussprechen überhaupt:

wer weiß, spricht nicht
wer spricht, weiß nicht
[11]

Aber weiß denn dann Laotse nicht etwa? Nein, denn was Laotse weiß, sagt er eben nicht, oder anders: es sagt das Nicht-Sein und das Nicht-Handeln und das Nicht-Sagen aus.

nicht aus dem hause gehn
doch alles wissen
nicht aus dem fenster blicken
und doch das Dau des himmels sehn

je weiter hinaus man geht
desto weniger weiß man
darum geht der weise nicht hinaus
und weiß doch
blickt nicht hin
und kann doch der dinge namen nennen
handelt nicht
und vollendet doch
[12]

Das vom Alten besprochene Prinzip des Nicht-Handelns heißt nichts anderes, als die Dinge ihren Lauf nehmen lassen [13] und das wiederum bedeutet durchaus nicht, nichts zu tun (daher hier das Nicht-Handeln statt des Nicht-Tun), sondern sich diesem Lauf eingliedern, die Bewegungen des Laufes mitgehen und zwar so, dass dieser Lauf in keinerlei Form beeinträchtigt wird, so als sei man nicht präsent. Nicht-Handeln hieße dann Als-Ob-Nichts-Tun. Das Schach spielt hierbei auf der einen Seite nur eine verdeutlichende, also dienende Rolle, aber andererseits ist es auch Bote der Botschaft, Träger der Botschaft, ja die Botschaft selbst und um so besser geeignet, da die Botschaft selbst unaussprechbar ist. Deshalb begründet das Nicht-Handeln "die unveränderliche Natur des Schachs", so weit, dass im taoistischen Blick eine Zuwiderhandlung das Schach per definitionem beendet: "Ändere es, und es wird das Schach nicht mehr geben". Der Alte führt hier einen ersten Begriff – so wie Aristoteles eine Erste Philosophie – des Schachs ein! Es ist nicht schwer zu sehen, wie weit unser heutiges Verständnis davon entfernt ist. So wie die Erste Philosophie eine Lebenseinstellung war und gerade kein Lehrsystem, so ist es das Erste Schach, und so wie der moderne Philosoph den Ersten Philosoph den Philosophenstatus abspricht [14] , so würde es der moderne Schachspieler tun und umgekehrt würde der Erste Philosoph heutigen Systemverwaltern den Status aberkennen. Die Rede von der Ersten Philosophie oder dem Ersten Schach ist natürlich nicht zeitlich zu interpretieren, sollte allerdings jemand glauben, damit dem Schach den philosophischen Status verleihen zu können, dann müsste man sagen: Ja, das Schach ist oder enthält, erst recht im Sinne des Alten, eine Philosophie, die freilich bislang unentdeckt blieb. Achengs Text ist meines Wissens der erste, der diese Dimension andeutet.

In der Aussage, die "Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen", verbirgt sich auch, welche vergleichbare westliche Tradition hier herangezogen werden kann. Das ist insofern sinnvoll, als es uns das Verständnis der chinesischen Texte zumindest erleichtert. Es sind die Denker des Lassens, der Gelassenheit. Die Gelassenheit ist vielleicht der einzige Begriff der europäischen und vor allem deutschen Philosophie – es gibt in den meisten europäischen Sprachen gar kein vergleichbares Äquivalent -, der ähnlich zahlreiche signifikante Aufladungen vorweisen kann wie das fernöstliche "Tao" . Sein Konzept vereint die antiken Denker des Kynismus und Stoizismus – Diogenes, Seneca, Mark Aurel -, mit den christlichen Mystikern – allen voran Meister Eckhart -, und führt über den Pantheismus in die Neuzeit zu Nietzsche und Heidegger, den großen Denkern des Seins, schließlich zu einigen Denkern der Postmoderne. dass dies alles gar nicht so weit weg von unserem Gegenstand ist, vielmehr mit ihm vielfach verwoben, zeigt exemplarisch die Geschichte des Begriffes der "Einfalt", eine Eigenschaft, die wir Wang Yisheng zusprechen mussten. An ihrer Entfaltung wird sich klären, ob der Typus damit korrekt charakterisiert ist. Einfalt, das kann man in jedem x-beliebigen Synonymwörterbuch nachlesen, wird heutzutage als naiv, kindlich, bieder, gutgläubig, harmlos, töricht bis hin zu unbedarft, blöde und doof ... definiert.
Dagegen wurde sie bei Mark Aurel noch mit Freiheit des Geistes, Gleichmut und Sittenreinheit, mit Tugend, Reinheit, Würde, Natürlichkeit, Gottesfurcht und Gerechtigkeitsliebe auf eine Stufe gestellt, im Neuen Testament als christliche Einfalt gefeiert, selbst Paulus, der vor "Philosophen und Stoikern" warnte, sprach verschiedentlich von der notwendigen "Einfalt des Herzens" (Kol. 3.23; Eph.6.5). Erst in der Renaissance begann sich der Begriff zu wandeln, nun sah man Einfalt und Torheit (Paracelsus), Einfalt und Niedrigkeit (Agrippa), Einfalt und Unwissenheit (Montaigne) als unlösbare Wortpaare und nur ein pantheistischer Denker wie Spinoza beharrte am alten Begriff und sprach von der Einfalt und Wahrhaftigkeit. Kant schließlich komplizierte und löste zugleich den Widerspruch auf moderne Weise, in dem er "weise Einfalt" von "dummer Einfalt" trennte. Und wiewohl der "König des Schachs" natürlich zur weisen Einfalt zu zählen wäre, so bleibt diese Trennung im chinesischen Sinne doch verfehlt; sie ist zu kompliziert und sofern das "Eine" in ihr aufgelöst wird, auch irrig.
In Laotses Worten:

das Dau gebar das eine
das eine gebar die zweizahl
die zweizahl gebar die dreizahl
aus der dreizahl wurde die vielzahl
der dinge vielzahl
getragen vom Yin, umfangen vom Yang
geeint werden sie durch den allumfassenden Krafthauch
[15]

 

Nur das eine hat direkte Verbindung zum Tao, nur die Einfalt, nicht die heutzutage so viel gelobte Vielfalt oder Pluralität, entspricht dem Tao, lässt den Dingen ihren Lauf, äußert sich in einer Gelassenheit. Das Schach selbst ist der primäre Ort der Gelassenheit, nicht nur in ihm soll der Lauf der Dinge gelassen werden, mehr noch, es selbst schafft den Raum der Gelassenheit. Hier findet der wahre Spieler die Harmonie, hier erfährt er, was es heißt, in Harmonie mit sich selbst, mit den anderen, mit der Natur zu leben. Das ist weniger eine Flucht als ein Rückzug. Indem Wang spielt, entzieht er sich dem Weltlauf - dann vergisst er alles, dann sind Gegner Freunde – und erprobt ihn zugleich in seiner kleinen Welt, denn für den Taoisten ist klar, dass trotz aller Härte und Geschwindigkeit, letztendlich die taoistischen Prinzipien siegen. Härte ist nur ein Zeichen von Schwäche. Im China der Kulturrevolution kommt dem natürlich auch eine politische Dimension zu, aber man ginge wohl fehl, Wang Yisheng auf das Politische reduzieren zu wollen. Schon im Taoismus ist stets diese politische Komponente aktiv gewesen, da er sich seit je als Gegenentwurf des Konfuzianismus verstand, dessen Hauptziel das Erreichen moralischer Vollkommenheit war; "Sittlichkeit", "Mitmenschlichkeit", Pflichterfüllung" sind Zentralkategorien des Konfuzianismus und wurden vom Maoismus intensiv rezipiert. Demgegenüber vertritt der Taoismus, der zwar nicht realhistorisch aber "astrologisch gesehen" [16] der weite Ältere ist, einen amoralischen, einen prämoralischen Standpunkt, er ist also grundlegender: Jede Moral ist eine Domestikation, die versucht, das entlaufene Tier im Menschen einzuholen, um es ins Kulturgatter zu sperren. Das Entlaufen aber geht dem Einholen voraus; es hat also schon immer etwas nicht funktioniert, es hat etwas den natürlichen Lauf der Dinge verlassen, bevor ein Moralnetz gestrickt werden kann. Wer primär ethisch argumentiert, zu lösende Probleme unter ethischem Paradigma anzugehen versucht, was heute, wie die dauernde Leier vom Werteverfall ebenso wie der Ruf nach neuen Werten hinlänglich beweist, weitestgehend gesellschaftlichen Grundkonsens darstellt, vergisst zumeist oder weiß noch nicht mal, dass jegliche Ethik, jede Moraltheorie erst die Antwort, also der zweite Schritt ist, der auf ein verlorenes Gleichgewicht folgt. Wo die Moralweiche gestellt wird, da ist schon etwas entgleist, da ist schon etwas schief gelaufen, etwas passiert, das dann mit Hilfe einer Ethik wieder in eine, wenn schon nicht seine Bahn gebracht wird, wo ethische Paradigmen entstehen, da ist schon etwas aus den Fugen, da muss schon reagiert werden - damit die Fahrt weitergehen kann.

An diesem Grundlegenden wird auch deutlich, dass ein Begriff wie "Strategie" vollkommen anders belegt ist, als im herkömmlichen Schachspielervokabular, er ist wesentlich abstrakter und beinhaltet wohl eher eine Lebenseinstellung, eine Metaphysik denn einen Plan nach beengtem Regelwerk entsprechend bestimmter Positionsbilder. Obwohl das Chinesische Schach noch viel eher ein Kriegsspiel darstellt, so sind die Strategie- und Taktikbegriffe im Verständnis des taoistischen Meisters wesentlich weiter zu fassen als in der Kriegs- und herkömmlichen Spieltheorie. Strategie ist ein spirituelles Konzept: "Heute wissen alle, dass Ni Yunlun (ein Vorfahre Ni Bins) einer der vier großen Talente der Yuan-Epoche war, kalligrafischer Poet und ein hervorragender Maler, aber ignorieren, dass er auch ein Schachspieler war. Nachdem er sich zum Zen-Buddhismus bekehrte, kombinierte er die Regeln des Schachs mit den Prinzipien dieser Religion, womit er eine eigene Spielstrategie entwarf, die bis auf uns gekommen ist" (53). Dies könnte möglicherweise den wohl rätselhaftesten Punkt in der Rede des Alten erklären, der seltsame Bezug auf die Weisheit der alten Meister, einer Redefigur, auf die selbst Laotse, als der schon älteste und bekannte Meister, immer wieder zurückgreift. Hier scheint es noch die alten Geheimnisse zu geben, uralte Manuskripte werden an ausgewählte Schüler weitergereicht, bestimmte Züge zur oft jahrhundertealten Tradition gerechnet, es wird der Untergang der Schachkunst befürchtet und nicht etwa, weil der Remistod drohe oder die Meister sich egalisieren würden, sondern weil die Weisheit früherer Jahrhunderte sich zu verflüchtigen droht. Dahinter verbirgt sich ein gänzlich unmodernes Konzept der Entwicklung.

Dieses kleine unauffällige Buch stellt den ersten Band einer "Königstrilogie" dar. Ihm folgten "Der König der Bäume" (Il re degli alberi), der die Geschichte eines Mannes erzählt, der an der Seite eines Baumes in den Bergen aufwächst, mit diesem seelisch vereint und der stirbt, als der Baum eines Tages in Flammen aufgeht. "Der König der Kinder" (Il re dei bambini) erzählt die Geschichte eines unkonventionellen Lehrers, der seine Schützlinge bewusst ohne den bürokratischen Lehrplan unterrichtet, um so einen neuen Bewusstseinszustand zu ermöglichen. Alle dieses Bücher schrieb Acheng bereits in Los Angeles, wo er, 1949 in Peking als Sohn eines bekannten Cinematografen geboren, seit 1979 lebt. Er gilt als ein Hauptvertreter der neuen Generation chinesischer Autoren. Sein oft ruhiger, märchenhafter Grundton, mit dosiertem Pathos versehen, aber auch mit Dramatik und Ironie, findet in der europäischen Literatur wohl nur wenige Vergleiche; man müsste schon an den norwegischen Nobelpreisträger Knut Hamsun, an einige Titel Ernst Jüngers vielleicht, auch an Robert Walser erinnern, um überhaupt vergleichende Vorstellungen zu erwecken.

Auffallend groß war sein Erfolg in Italien, wo er den renommierten "Premio Nonino" gewann und wo der Großteil seiner Werke in beachtlichen Auflagen erschien. Eine englische Übertragung der Trilogie - Ah Cheng: Three Kings – ist leider vergriffen. Vom vorliegenden Buch gibt es meines Wissens keine deutsche Übersetzung [17]. Sie wäre dringendst notwendig!

 

Acheng: Il re degli scacchi. Vorwort von Goffredo Fofi. Einleitung von Maria Rita Masci. Übersetzung von Maria Rita Masci. Originaltitel: Qiwang. Roma – Napoli 1989. Verlag Edizioni theoria s.r.l. Ausgabe: "I grandi tascibili. Giugno 1992. 86 Seiten
Ah Cheng: Three Kings. The Harvill Press. London. ISBN: 0002710331. Translator: Bonnie McDougall

 

 

--- Jörg Seidel, 14.11.2001 ---


[1] Die wörtliche Übersetzung lautet: Maus des Schachbrettes. Da der Begriff des "Bücherwurms" mit "Topo di biblioteca" übertragen wird, könnte man auch vom Wurm sprechen. Im Sinne der Erzählung scheint mir allerdings der Begriff der Ratte am angebrachtesten, also "Schachratte", so wie man im Deutschen von der "Leseratte" spricht. Um hier Klarheit zu erlangen, müsste man den Originaltext heranziehen.
Harald Jeschke ist folgende Anmerkung zu danken: "Der Spitzname von Wang Yisheng ist Qidaizi, was soviel wie Schachidiot, Schachnarr bedeutet; Qi ist das Schachspiel (Xiangqi z.B. das chinesische), und das dai in daizi bedeutet dumm, also z.B. Shudaizi ist der Büchernarr (oder dann eben auch der Bücherwurm, weil wir so sagen).
[2] vgl. Wurmann, David: Chinesisches Schach leicht gemacht. Reinbek 1993. S. 6 sowie: Chinesisches Schach. Koreanisches Schach. Frankfurt 1991. S. 7f.
[3] Der Umschlag fand wohl bereits im klassischen griechischen Denken statt und lässt sich anhand von Sophokles' Werk exemplarisch nachvollziehen. Im "König Ödipus" tritt Iokaste, Mutter und Frau des Ödipus, mit folgenden Worten vor den Apolloaltar, zu bitten, die selbstquälerischen Zweifel des Sohnes/Mannes zu beenden: "Was er auch hört, es regt ihn auf, er prüft nicht mehr, verständig wägend, Neues am Vergangenen". (914f.)
Ödipus ist mit dem Trieb zum Wissen der "moderne" Vertreter, der den herkömmlichen Verstandesbegriff revolutioniert – zu seinem Unheil, wie wir wissen. Iokaste hingegen, die mütterliche Macht, beharrt, trotz aller Schuld, auf der bewährten, verständigen Praxis, Neues doch am Alten zu messen. Ödipus sticht sich die Augen aus und eröffnet damit den philosophischen Wettlauf, der mit dem Auseinanderklaffen von Wahrnehmung und Wahrheit formell beginnt. Um Wahrheit zu erlangen, dienen die Sinne nach ihm nur noch bedingt, statt dessen werden Zweifel und Methode inthronisiert. (zum Gesamtkomplex siehe: Peter Sloterdijk: Ödipus oder das zweite Orakel. Köln 1999)
[4] der alten Kultur, den alten Ideen, den alten Gewohnheiten, und den alten Sitten
[5] Laotse (78):
nichts in der welt ist weicher und schwächer als wasser
und doch gibt es nichts, das wie wasser
starres und hartes bezwingt
unabänderlich strömt es nach seiner art

das schwaches über starkes siegt
starres geschmeidigem unterliegt
wer wüsste das nicht?
doch wer handelt danach!

[6] Bedeutungsvielfalt: enthalten, fassen, bändigen, zurückhalten, aufhalten, einschränken usw.
[7] das taoistische Prinzip des wu-wei, des Nicht-Tuns, wie es in der deutschen Literatur zumeist übersetzt wird. Im Italienischen auch als "non-azione" (vgl. Tagliaferri: Il taoismo. Roma 1996. S. 16)
[8] Laotse (37): das Dau tut nichts, und nichts bleibt ungetan
[9] Plakate (die man abreißen kann, um sie als Altpapier zu verkaufen)
[10] Laotse (14):
so nenn ich es gestaltlose gestalt
ding der nichtdinglichkeit

[11] Laotse (56)
[12] Laotse (47)
[13] vgl. Moritz, Ralf: Die Philosophie im alten China. Berlin 1990. Seite 108ff.
[14] vgl. etwa Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 1. Leipzig 1982. S. 458 oder Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt 1985. S. 123
[15] In diesem 42. Abschnitt des Taoteking wird übrigens zum einzigen Male von yin und yang gesprochen, jenen beiden Begriffen, die im New-Age-Rummel zur wertlosen Spielmarke verkamen; selbst "McDonald's" legitimiert seine unappetitlichen Chinawochen mit dem yin-yang-Symbol [. Es wundert daher nicht, dass es sich beim yin und yang um die meistinterpretierten und meist fehlinterpretierten Begriffe der chinesischen Philosophie handelt und es sagt vieles, dass die beiden Begriffe Mode werden konnten, vor allem zeigt es die moderne Hybris, die glaubt, alles verstanden zu haben. Dieser Glaube jedoch ist der sicherste Beweis des Gegenteils. Der Alte nutzt den Begriff häufiger als die klassische Vorlage.
[16] Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Erste Abteilung Bd. 4. Siebzig verweht I. Stuttgart 1982. S. 141
[17] Abgesehen von einer Teilübersetzung in der Anthologie: Die Auflösung der Abteilung für Haarspalterei. Texte moderner chinesischer Autoren. Herausgegeben von Helmut Martin und Christiane Hammer. Reinbek 1991, wo Katharina Wenzel-Teuber auf den Seiten 147-154 den Abschnitt des Blindsimultanspiels Wangs gegen die neun Gegner unter dem Titel "Das Tao des Schachs" aus dem Chinesischen übertrug.


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