|
Kenneth Bøgh Andersen: Slaget i Caïssa
Wenn man ein Schachspiel eröffnet, dann beginnt man zwei Spiele. Das eine ist die lange erschöpfende Schlacht, die sich auf dem Brett abspielt. Das andere ist der Kampf zwischen den Spielern. Und es ist wichtig, beide zu beherrschen.
Umberto Eco hatte irgendwo behauptet,
dass man den Literaturnobelpreis nicht gewinnen könne,
wenn man Bulgarisch schreibe. Bedenkt man die immer
häufigeren minoritätensprachlichen Gewinner,
dann hat sich diese Prognose wohl nicht ganz bestätigt,
ihren Wahrheitskern behält sie doch, wenn man literarischen
Erfolg mit kommerziellen Kategorien misst. Dann –
hätte er seine Trilogie nur auf Englisch veröffentlicht
– stünde Kenneth Bøgh Andersens Fantasie-Saga
ein großes Stück des Erfolgskuchens zu, an
dem sich nun meist zweitrangige Autoren unendlicher
Wander- und Wunderepen dumm und dusslig verdienen. Zu
seinem Unglück bediente sich der Autor seiner Muttersprache:
Dänisch.
Andersen schreibt in einer höheren
Kategorie, seine Vorbilder sind nicht die Rowlings,
Pullman und Paolini, sondern C.S. Lewis und Tolkien:
den einen zitiert er gelegentlich, der andere klingt
im Namen des Helden an: Frode. Auch sein Buch leidet
an der Kinderkrankheit des Genres: Phantasie, zuviel
Phantasie. Das übersetzt sich dann in Spinnerei
und Beliebigkeit. Diese Werke wirken wie ein Rosenkranz,
Perle an Perle in ewiglangen Folgen [1], Amplituden gleichsam,
von Spannung und Entspannung, von Abenteuer nach Abenteuer
und Ungeheuer nach Ungeheuer. Dabei wird auf Diskurstreue
nicht (mehr) geachtet; es kann der Zwerg und Riese neben
der Sphinx und dem Centaur auftauchen, die Disneygestalt
neben dem Science Fiction-Alien und dem Vampir. Es gibt
Kritiker, die nennen dieses Gemisch "zeitgemäß".
Wesen aus aller Herren Länder, Zeiten und Kontexte
treffen sich ausgerechnet in Caïssa, beim Schach (175).
Das bildergesättigte Gedächtnis des mutmaßlich
jungen Lesers verzeiht den Mix aus altem Ägypten,
griechischer, germanischer, keltischer Mythologie, christologischer
Symbolik und frei erfundenen Phantasiewesen, es wird
in der Regel von all dem nichts mehr ahnen. Mit erfahrungsgewonnener
Ahnungslosigkeit lässt sich das gut ertragen und
wer davon absehen kann, für den funktioniert das
bunte Bilderkino im Kopf problemlos. Immerhin macht
sich Andersen die Mühe – und das reiht ihn
eher in die Klassikerriege ein – die Kette zum
Ring zu schließen, sowohl im Großen als
auch im Kleinen. Er macht die einzelnen Figuren sinnvoll,
erklärt ihr spezifisches Dasein. Und dieses Erklärungsbedürfnis
ist notwendig, denn die Matrix des Romans ist streng
geordnet, begrenzt, auf 64 schwarze und weiße
Felder. Ja, Schach lautet das Grundgeheimnis, das Schach
ist das A und das O des Buches, mit ihm beginnt und
endet es und Frode sucht nichts anderes zu entschlüsseln
als den Sinn und das Bestehen dieser ominösen Partie.
Dass Schach so spannend sein kann wie dieses Buch, wie
die wildeste Phantasiegeschichte, ist der Subtext der
Erzählung und nicht die schlechteste Werbung unter
Kindern für das Königliche Spiel.
Im Krankenhaus spielt der Teenager, von
einer unheilbaren Krankheit gezeichnet, mit seinem Großvater
und erhält – wie in guten alten Zeiten –
anhand des Spiels ein paar Lebens- und Überlebensregeln.
Zum Beispiel: Betrug und Täuschung gehören
auch zum Spiel, so die seltsame Botschaft des Alten.
Als ihn dann der geheimnisvolle Nebel ins Land Caïssa
entführt, wo andere Gesetze gelten, wird er den
Sinn der zynischen Weisheit begreifen. Aus Versehen
ist seine einzige Freundin Nanna auch dort hingeraten.
Sie bringt durch ihre Anwesenheit das Gleichgewicht
mächtig durcheinander, aber am Ende wird trotzdem
alles gut. Das ist ja der Vorteil all dieser Geschichten,
Klassiker oder nicht; sie lassen sich in einem Satz
zusammenfassen: Das Gute kämpft gegen das Böse
und gewinnt oder auf caïssianisch: Weiß gegen
Schwarz. Dazwischen liegen tausend Abenteuer, die zu
erzählen man sich sparen kann [2]; sie sind das Fleisch
in dieser abgestandenen Buchstabensuppe. Nur soviel:
Frodes und Nannas Kampf an der Seite der seltsamsten
Gestalten entpuppt sich als Schachpartie, beide sind
Bauern im Spiel, die letzten, die überleben werden
und den schwarzen König matt setzen. Alles andere
wird blutig, sehr blutig, geopfert und geschlagen –
auch das ein Tribut an moderne filmische Enthemmungen.
Der Nachteil dieser Flucht-und-Triumph-Marathone ist,
dass sie in der Regel nur zwei Grundgefühle kennen
und evozieren: Angst und Siegesgefühl, ganz klein
oder ganz groß, Feigling oder Zampano, wie im
Schach eben, das ja auch nur zwei Facetten kennt. Saga-Helden
sind adrenalingedopte Athleten und Touristen, Aufstehmännchen
und Umzugswesen, ganz der moderne Mensch. Nicht umsonst
findet man auf jeder zweiten Seite Aufforderungen zur
Eile, Panik vor dem Zuspätkommen, hysterische Reaktionen
oder einfach nur Stress. Hier dürfte der Schlüssel
für den Massenerfolg derartiger Stories liegen.
Das Restarsenal der reich nuancierten Gefühlswelt
des wahren Menschen muss man den richtigen Romanen überlassen,
den beglaubigten Klassikern. Das ist nicht der geringste
Grund, weswegen Kinder lesen sollten, richtig gute und
reiche Bücher, Klassiker, um sich mit emotionalem
Reichtum zu beladen, die Gefühlsskala immer wieder
durchzuspielen, mitzufühlen, wenn es um mehr als
Sieg und Niederlage geht.
Ungewöhnlich wird das überraschend
wohlformulierte und spannend erzählte Buch auch
durch die verschiedenen Handlungsebenen, mindestens
drei, und wir sehen am Ende eine sich selbst enthaltende
Schachpartie, in der Figuren auch mal als Spieler auftauchen
können. Um dieses interessante Konzept glaubhafter
zu machen, hätte man sich erklärende Vertiefungen
gewünscht, obwohl knapp 400 Seiten gerade am Rande
des Erträglichen sind. Wie verhält es sich
mit Freiheit und Determination der Figuren? Handeln
sie nun oder werden sie behandelt? Sind wir nicht alle
nur Figuren in einem gigantischen Spiel? Das bleibt
in der Schwebe. Überhaupt sind die "philosophischen"
Implikationen das Stärkste an Andersens Schachroman;
zumindest werden Themen wie Leben und Tod, Schuld und
Unschuld, Glaube und Gott, Schicksal und Zufall, Raum
und Zeit etc. halbwegs ernsthaft angeschnitten. Man
hofft dann, dass der jugendliche Leser einhält
und nachsinnt. Hier kommt er den wirklich wertvollen
Beiträgen eines C. S. Lewis oder Michael Ende am
nahesten – letzteren zählt er zu seinen wahren
Inspirationsquellen [3], kann die "Unendliche Geschichte"
aber nicht ersetzen. Unter den schachadaptierenden Werken
dürfte es das Beste im Fantasybereich sein. Das
sollte genügen, eine Übersetzung in eine Weltsprache
anzuregen.
(Kenneth Bøgh Andersen: Slaget
i Caïssa. København 2001, Bd. 1: Åbningen,
Bd. 2: TÅgemandens død, Bd. 3: Skakmat)
http://www.kennethboeghandersen.dk/
--- Jörg Seidel, 08.08.2006 ---
[1]
"Vi er alle forbundet. PÅ en eller anden
mÅde er vi alle kædet sammen. Alle verdener,
alle dimensioner. Lyse sÅvel som mørke.
De ligger som perler pÅ en snor, der kan være
bÅde udstrakt og krøllet sammen. MÅske
begge dele pÅ samme tid. Caïssa er det sted,
hvor kæden begynder, fortsætter og slutter.
Det er bindeleddet, der holder alting sammen og holder
alting adskilt. Caïssa er snoren (281).
[2] Ausführlich wird
die Geschichte nacherzählt in: Danny Kristiansen
& Poul Hedegaard Jensen: Skakkens Facetter. København
2003. S. 27-33
[3] http://www.bibliotek.alleroed.dk/gaestelaeser_boeghandersen.htm
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.
|
|