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LITERATUR
8. August 2006

Kenneth Bøgh Andersen: Slaget i Caïssa

Wenn man ein Schachspiel eröffnet, dann beginnt man zwei Spiele. Das eine ist die lange erschöpfende Schlacht, die sich auf dem Brett abspielt. Das andere ist der Kampf zwischen den Spielern. Und es ist wichtig, beide zu beherrschen.

 

Umberto Eco hatte irgendwo behauptet, dass man den Literaturnobelpreis nicht gewinnen könne, wenn man Bulgarisch schreibe. Bedenkt man die immer häufigeren minoritätensprachlichen Gewinner, dann hat sich diese Prognose wohl nicht ganz bestätigt, ihren Wahrheitskern behält sie doch, wenn man literarischen Erfolg mit kommerziellen Kategorien misst. Dann – hätte er seine Trilogie nur auf Englisch veröffentlicht – stünde Kenneth Bøgh Andersens Fantasie-Saga ein großes Stück des Erfolgskuchens zu, an dem sich nun meist zweitrangige Autoren unendlicher Wander- und Wunderepen dumm und dusslig verdienen. Zu seinem Unglück bediente sich der Autor seiner Muttersprache: Dänisch.

Andersen schreibt in einer höheren Kategorie, seine Vorbilder sind nicht die Rowlings, Pullman und Paolini, sondern C.S. Lewis und Tolkien: den einen zitiert er gelegentlich, der andere klingt im Namen des Helden an: Frode. Auch sein Buch leidet an der Kinderkrankheit des Genres: Phantasie, zuviel Phantasie. Das übersetzt sich dann in Spinnerei und Beliebigkeit. Diese Werke wirken wie ein Rosenkranz, Perle an Perle in ewiglangen Folgen [1], Amplituden gleichsam, von Spannung und Entspannung, von Abenteuer nach Abenteuer und Ungeheuer nach Ungeheuer. Dabei wird auf Diskurstreue nicht (mehr) geachtet; es kann der Zwerg und Riese neben der Sphinx und dem Centaur auftauchen, die Disneygestalt neben dem Science Fiction-Alien und dem Vampir. Es gibt Kritiker, die nennen dieses Gemisch "zeitgemäß". Wesen aus aller Herren Länder, Zeiten und Kontexte treffen sich ausgerechnet in Caïssa, beim Schach (175). Das bildergesättigte Gedächtnis des mutmaßlich jungen Lesers verzeiht den Mix aus altem Ägypten, griechischer, germanischer, keltischer Mythologie, christologischer Symbolik und frei erfundenen Phantasiewesen, es wird in der Regel von all dem nichts mehr ahnen. Mit erfahrungsgewonnener Ahnungslosigkeit lässt sich das gut ertragen und wer davon absehen kann, für den funktioniert das bunte Bilderkino im Kopf problemlos. Immerhin macht sich Andersen die Mühe – und das reiht ihn eher in die Klassikerriege ein – die Kette zum Ring zu schließen, sowohl im Großen als auch im Kleinen. Er macht die einzelnen Figuren sinnvoll, erklärt ihr spezifisches Dasein. Und dieses Erklärungsbedürfnis ist notwendig, denn die Matrix des Romans ist streng geordnet, begrenzt, auf 64 schwarze und weiße Felder. Ja, Schach lautet das Grundgeheimnis, das Schach ist das A und das O des Buches, mit ihm beginnt und endet es und Frode sucht nichts anderes zu entschlüsseln als den Sinn und das Bestehen dieser ominösen Partie. Dass Schach so spannend sein kann wie dieses Buch, wie die wildeste Phantasiegeschichte, ist der Subtext der Erzählung und nicht die schlechteste Werbung unter Kindern für das Königliche Spiel.

Im Krankenhaus spielt der Teenager, von einer unheilbaren Krankheit gezeichnet, mit seinem Großvater und erhält – wie in guten alten Zeiten – anhand des Spiels ein paar Lebens- und Überlebensregeln. Zum Beispiel: Betrug und Täuschung gehören auch zum Spiel, so die seltsame Botschaft des Alten. Als ihn dann der geheimnisvolle Nebel ins Land Caïssa entführt, wo andere Gesetze gelten, wird er den Sinn der zynischen Weisheit begreifen. Aus Versehen ist seine einzige Freundin Nanna auch dort hingeraten. Sie bringt durch ihre Anwesenheit das Gleichgewicht mächtig durcheinander, aber am Ende wird trotzdem alles gut. Das ist ja der Vorteil all dieser Geschichten, Klassiker oder nicht; sie lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Das Gute kämpft gegen das Böse und gewinnt oder auf caïssianisch: Weiß gegen Schwarz. Dazwischen liegen tausend Abenteuer, die zu erzählen man sich sparen kann [2]; sie sind das Fleisch in dieser abgestandenen Buchstabensuppe. Nur soviel: Frodes und Nannas Kampf an der Seite der seltsamsten Gestalten entpuppt sich als Schachpartie, beide sind Bauern im Spiel, die letzten, die überleben werden und den schwarzen König matt setzen. Alles andere wird blutig, sehr blutig, geopfert und geschlagen – auch das ein Tribut an moderne filmische Enthemmungen. Der Nachteil dieser Flucht-und-Triumph-Marathone ist, dass sie in der Regel nur zwei Grundgefühle kennen und evozieren: Angst und Siegesgefühl, ganz klein oder ganz groß, Feigling oder Zampano, wie im Schach eben, das ja auch nur zwei Facetten kennt. Saga-Helden sind adrenalingedopte Athleten und Touristen, Aufstehmännchen und Umzugswesen, ganz der moderne Mensch. Nicht umsonst findet man auf jeder zweiten Seite Aufforderungen zur Eile, Panik vor dem Zuspätkommen, hysterische Reaktionen oder einfach nur Stress. Hier dürfte der Schlüssel für den Massenerfolg derartiger Stories liegen. Das Restarsenal der reich nuancierten Gefühlswelt des wahren Menschen muss man den richtigen Romanen überlassen, den beglaubigten Klassikern. Das ist nicht der geringste Grund, weswegen Kinder lesen sollten, richtig gute und reiche Bücher, Klassiker, um sich mit emotionalem Reichtum zu beladen, die Gefühlsskala immer wieder durchzuspielen, mitzufühlen, wenn es um mehr als Sieg und Niederlage geht.

Ungewöhnlich wird das überraschend wohlformulierte und spannend erzählte Buch auch durch die verschiedenen Handlungsebenen, mindestens drei, und wir sehen am Ende eine sich selbst enthaltende Schachpartie, in der Figuren auch mal als Spieler auftauchen können. Um dieses interessante Konzept glaubhafter zu machen, hätte man sich erklärende Vertiefungen gewünscht, obwohl knapp 400 Seiten gerade am Rande des Erträglichen sind. Wie verhält es sich mit Freiheit und Determination der Figuren? Handeln sie nun oder werden sie behandelt? Sind wir nicht alle nur Figuren in einem gigantischen Spiel? Das bleibt in der Schwebe. Überhaupt sind die "philosophischen" Implikationen das Stärkste an Andersens Schachroman; zumindest werden Themen wie Leben und Tod, Schuld und Unschuld, Glaube und Gott, Schicksal und Zufall, Raum und Zeit etc. halbwegs ernsthaft angeschnitten. Man hofft dann, dass der jugendliche Leser einhält und nachsinnt. Hier kommt er den wirklich wertvollen Beiträgen eines C. S. Lewis oder Michael Ende am nahesten – letzteren zählt er zu seinen wahren Inspirationsquellen [3], kann die "Unendliche Geschichte" aber nicht ersetzen. Unter den schachadaptierenden Werken dürfte es das Beste im Fantasybereich sein. Das sollte genügen, eine Übersetzung in eine Weltsprache anzuregen.

(Kenneth Bøgh Andersen: Slaget i Caïssa. København 2001, Bd. 1: Åbningen, Bd. 2: TÅgemandens død, Bd. 3: Skakmat)

http://www.kennethboeghandersen.dk/

 

--- Jörg Seidel, 08.08.2006 ---


[1] "Vi er alle forbundet. PÅ en eller anden mÅde er vi alle kædet sammen. Alle verdener, alle dimensioner. Lyse sÅvel som mørke. De ligger som perler pÅ en snor, der kan være bÅde udstrakt og krøllet sammen. MÅske begge dele pÅ samme tid. Caïssa er det sted, hvor kæden begynder, fortsætter og slutter. Det er bindeleddet, der holder alting sammen og holder alting adskilt. Caïssa er snoren” (281).
[2] Ausführlich wird die Geschichte nacherzählt in: Danny Kristiansen & Poul Hedegaard Jensen: Skakkens Facetter. København 2003. S. 27-33
[3] http://www.bibliotek.alleroed.dk/gaestelaeser_boeghandersen.htm


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