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LITERATUR
18. Februar 2004

Action und Geschichte oder:
Schach dem Mörder

"Lassen Sie mich mit ihrem Scheißschach zufrieden, Singer, und hören Sie zu"

Neil Postman hatte in seinem populärphilosophischen Bestseller "Wir amüsieren uns zu Tode" das Medien- und Fernsehzeitalter als Dekadenz diagnostiziert, weil es, ganz im Gegenteil zum Buchzeitalter, diskontinuierlich und ohne Kohärenzerwartung sei. Ereignisse werden getrennt von Geschichte und Zukunft, von Grund und Ursache, von strukturellen Bezügen betrachtet, sie verlieren in der medialen Darstellung ihren Kontext, sie werden im "und jetzt"-Modus vorgetragen und entbehren sinnstiftender Ordnung und Bedeutung, sie sind zudem gekennzeichnet von Belanglosigkeit und Unabänderlichkeit. Demgegenüber vertrete das Buch den rationalistischen Diskurs schlechthin, das zu begrifflichem, folgerichtigem, widerspruchsfreiem, objektivem, sprich: vernünftigem und ordentlichem Denken anrege; sämtlich Attribute, die man vor den Bildschirmen vergeblich sucht. Was Postman freilich nicht ahnte – wahrscheinlich weil der ausgewählte Lesekanon des glücklichen Mannes ihn vor dieser Erkenntnis bewahrte – ist die Möglichkeit von Büchern, die im TV-Stil verfasst und offensichtlich auch von geBildeten Lesern goutiert werden. Ein paradigmatisches Beispiel dafür ist Lee R. Bobkers Best-Thriller "The Unicorn Group", was eine vollkommen indisponierte Übersetzerin mit "Schach dem Mörder" wiedergab.

Die Kerngeschichte ist schnell erzählt. Unicorn ist eine Spezialeinheit des CIA, in der nur Supermänner und -frauen dienen, die denn auch, hinter den Kulissen und auf allen Erdteilen, in der Weltpolitik mitmischen, und das heißt in erster Linie, den Gegner ausschalten. Doch gibt es neuerdings zu viele eigene Verluste, ja, von einst mehr als dreißig Mann sind nur noch ganze sieben am Leben. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Jemand oder etwas scheint die Agentengarde systematisch auslöschen zu wollen. Morton Singer ist der geeignete Mann, das Mysterium zu lösen. Eine nicht ganz ungefährliche Aufgabe, wie man sich denken kann, umso mehr, als nur ein internes Mitglied der streng geheimen Truppe für die Morde in Frage kommt. Tatsächlich löst Singer den Fall: Man hätte von einem passionierten Schachspieler, der zudem seine Mitarbeiter als Figuren und das Geschehen als Spiel betrachtet und auch immer wieder zu Schachanalogien greift um den Überblick zu wahren, auch nichts anderes erwartet; schließlich gibt es doch keine bessere Strategie als die des Schachs. Freilich war die Auswahl letztendlich nicht mehr groß, denn von den sieben Recken verbleibt am Ende nur einer (und der muss es doch wohl sein, oder?). Dass es um allerhöchste Einsätze geht – das Fortbestehen des CIA, den US-Präsidenten, den Weltfrieden usw. – versteht sich von selbst.

So wundert es auch nicht, wenn alle Beteiligten, solange sie eben noch nicht Schachmatt sind, unglaublich wichtige, im Jargon des Krimis, "total wichtige", "total bedeutende", "total geheime" Informationen mitzuteilen, zu entdecken oder zu verheimlichen haben. Das Problem an diesen Geheiminformationen und an dem Roman: sie bleiben auch dem Leser geheim, man erfährt nicht, worum es geht, alles geschieht zusammenhanglos, ohne Grund und Ziel – wir sind wieder bei Postmans Analyse. Oder bei Kafka. Denn was hier im Kleinen geschieht, das hat Kafka in seinen nachgelassenen Aphorismen hellsichtig im Großen schon literarisch vorweggenommen. "Es wurde ihnen die Wahl gestellt Könige oder der Könige Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides".

Alle Personen in diesem Buch wollen Kuriere spielen, aber niemand hat eine Botschaft. Worum es eigentlich geht, erfährt der Leser nicht. Immer wieder werden leere Botschaften ausgetauscht: die Chinesen wissen etwas, die Japaner haben damit zu tun, der französische Untergrund steckt drin, in Washington ist was passiert… derart sind die Mitteilungen, die sich die geheimen und total wichtigen Kuriere überbringen; man trifft sich heimlich mit totalem Aufwand um sich zu sagen: damit muss Schluss sein. Aber offenbar spielt es gar keine Rolle, zu wissen, was "damit" und "etwas" bedeuten, entscheidend ist, dass die Maschine rollt und immer neue Bilder, Szenen, Schnitte produziert. Die Sendung selbst wird zur Botschaft. Man könnte das den Hollywood-Effekt nennen: Erfinde eine absurde Ausgangssituation (ein Terminator taucht auf oder ein Asteroid oder Riesenspinnen oder Dinosaurier oder Gremlins …); niemand wird sich darüber wundern, wird nach Sinn, Zweck, Herkommen, Wahrscheinlichkeit und Logik fragen, wenn sich daraus überzeugend und schnell, sehr schnell, grelle Szenen entwickeln und überschlagen. Action ist stärker als Geschichte! Zeit spielt daher keine Rolle, ein Zeitkontinuum gibt es nicht mehr, mit einem Schnitt vergehen drei Monate wie drei Sekunden, Actionszenen werden durch Zeitbrücken verbunden. Widersprüche spielen auch keine Rolle mehr; wen kümmert es wenn die schöne blonde Frau plötzlich dunkelbraune Haare hat, solange sie gut aussieht und es ordentlich besorgt, oder wenn sie als jemand beschrieben wird "der jegliche erkennbare Art menschlichen Gefühls abgehe, Wut inbegriffen" um nur wenige Zeilen später als "fanatische und gefährliche Frau" dazustehen, "mit ausgeprägter Tendenz zu Gewalttätigkeit und Jähzorn"? Und wenn es nicht die Action ist, so ist es die Logik der Soap, in der es bekanntlich keine langfristige Planung gibt, sondern sich eine Begebenheit aus der anderen ergibt, wo lediglich ein vager Personen-, Orts- und Budgetrahmen existiert, der Rest folgt – na, wir werden schon sehen – irgendwie. Damit sind die beiden Wirkmechanismen von Bobkers Buch aufgedeckt. Wer’s durchschaut, auf den wirkt es natürlich abschreckend. Trotzdem: was das Buch überhaupt lesbar macht (und den Hollywood-Film ansehenswert) ist exakt dieser dauernde Szenenwechsel, sind die schnellen Schnitte mit den zahllosen Toten. Zwar versucht Bobker auch "psychologisch" zu sein, aber hier dilettiert er, wie in allen höheren Ansprüchen, total. Zu allem Überfluss gesellt sich eine plumpe und ungelenke Übersetzung, teils in unerträglichem Bürokraten- und Oberlehrerdeutsch, teils total cool, teils - so die Vermutung – einfach falsch und schlecht.

Um diesem schwachsinnigen Gebilde einen intellektuellen Touch zu verleihen, dafür muss das Schach herhalten. Am auffälligsten geschieht dies mithilfe von leitmotivisch eingesetzten Schachzitaten, die jedes Kapitel eröffnen. Dabei handelt es sich um längere abgepinselte Passagen aus Reinfelds "In zwei Wochen zum Erfolgsschach", Saidys "Der Kampf der Schachideen", Byrnes "Schach" und Horowitz’ "Schach schnell erlernt", die mitunter das Geschehen vorwegnehmen – "Caissa, die Göttin des Schachspiels, ist nicht nur die Tochter des Mars, sondern auch der Aphrodite"; da weiß man: jetzt wird gepoppt – oder aber aus banalen allgemeinen Lebensregeln bestehen – "Der Spieler, der in einer frühen Phase einer Partie ins Hintertreffen gerät, tut gut daran, alles zu unternehmen, um so schnell wie möglich den verlorenen Boden wieder gut zu machen".

Außerdem verpasst Singer keine Gelegenheit, sich als Schachspieler, nein, als Schachdenker zu outen, ja, er wird uns regelrecht als solcher einführend vorgestellt. Am Brett hat er wohl seine "einzigartige Fähigkeit" erlangt, "unter der Oberfläche scheinbar normaler Verhaltensweisen betrügerische Absichten zu erkennen", und schon der Eingangs zitierte Emanuel Lasker wusste, dass "Lüge und Heuchelei beim Schach kurzlebig sind. Die kreative Kombination legt das Mutmaßen eines Lebens bloß; diese gnadenlose, in einem Schachmatt kulminierende Tatsache ist unvereinbar mit Heuchelei" [1]. So ist der Leitfaden schnell gesponnen. Vielleicht ist es nicht mal der größte Triumph Singers, das Komplott aufgeklärt zu haben, sondern den US-Präsidenten dahin zu bringen: "Mr. Singer, Cy hat mir erzählt, dass sie ein erstklassiger Schachspieler sind. Vielleicht bringen sie es mir irgendwann bei. Ich glaube, ich hätte Lust, es zu lernen". Aber nur niedere Intelligenzen wie US-Präsidenten [2] (die natürlich nicht Schach spielen können!), fallen auf Singers Schaumschlägereien herein.

Man sieht leicht, das alles ist aufgesetzt, erwächst durchaus nicht organisch aus der Handlung und ist auch nicht wirklich in sie verflochten. Singer kann noch so oft bekennen, der "Spielleiter" zu sein, das "Spiel in der Hand" oder einen "Spielplan" zu haben, die "Geschichte wie eine Schachpartie zu begreifen", er kann noch so oft auf die Schachanalogie verweisen, von "Figuren", "Opfern" und "Zügen" sprechen, strukturell ist das Schach ebenso abwesend wie eine – gelungene Struktur. Wo das Schach wirklich zum Lesegenuss beiträgt, dort sind es Stilblüten: "Haben sie je einen Läufer oder einen Springer ungedeckt auf einem falschen Feld stehen sehen? Er sticht einem wie eine Neonreklame ins Auge". "West (ein schwarzer Agent) bezieht unter der Annahme, dass ein schwarzer Stein auf einem schwarzen Feld am besten aufgehoben ist, in Nairobi Stellung". "Dame und Springer operieren gemeinsam. Alle Felder und Linien sind gedeckt. Sie werden bald rochieren".

Eine Weisheit freilich muss man ihm zugestehen, nicht die geringste Differenz zur Geheimdienstarbeit und zu Bobkers Buch: "Das Schöne am Schach ist, dass niemand Schaden dabei nimmt".

Nur einmal erlangt das Schachspiel wesentliche Bedeutung, wenn auch unbeabsichtigt. Als alle schon tot sind und nur noch einer der Superagenten lebt (und die Wahrscheinlichkeit, dass dies der Täter sei, zu Gewissheit wird), kommen Singer folgenschwere Gedanken: "Ohne sich dessen bewusst zu sein, genoss er inzwischen die Anforderungen, die dieses Spiel an ihn stellte. Zum erstenmal seit Beginn sah er den gesamten Aufbau. Es war immer einfacher, zwischen Zweck und Motiv zu unterscheiden, wenn auch nur wenige Figuren auf dem Brett standen. Das war schließlich das Schöne des Endspiels, das Singer schon immer fabelhaft beherrschte". Auch aus schachtheoretischer Sicht hat das Morden also Sinn. Daran sieht man, wie gefährlich es ist, sich unüberlegt auf Metaphern zu verlassen: die Bilder enden schnell im Absurden.

(Lee R. Bobker: Schach dem Mörder. Playboy Band 6151. Rastatt 1984. 255 Seiten)

 

 

--- Jörg Seidel, 18.02.2004 ---


[1] Das Originalzitat lautet wie folgt: "Auf dem Schachbrett der Meister gilt Lüge und Heuchelei nicht lange. Sie werden vom Wetterstrahl der schöpferischen Kombination getroffen, irgendwann einmal, und können die Tatsache nicht wegdeuteln, wenigstens nicht für lange, und die Sonne der Gerechtigkeit leuchtet hell in den Kämpfen der Schachmeister". Dass im Buch so ein Wortsalat erscheint, liegt an der deutschen Übersetzung der englischen Übersetzung des deutschen Originals.
[2] Siehe: Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt 1985. S. 62f.


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