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Action und Geschichte
oder:
Schach dem Mörder
"Lassen
Sie mich mit ihrem Scheißschach zufrieden, Singer,
und hören Sie zu"
Neil Postman hatte in seinem populärphilosophischen
Bestseller "Wir amüsieren uns zu Tode"
das Medien- und Fernsehzeitalter als Dekadenz diagnostiziert,
weil es, ganz im Gegenteil zum Buchzeitalter, diskontinuierlich
und ohne Kohärenzerwartung sei. Ereignisse werden
getrennt von Geschichte und Zukunft, von Grund und Ursache,
von strukturellen Bezügen betrachtet, sie verlieren
in der medialen Darstellung ihren Kontext, sie werden
im "und jetzt"-Modus vorgetragen und entbehren
sinnstiftender Ordnung und Bedeutung, sie sind zudem
gekennzeichnet von Belanglosigkeit und Unabänderlichkeit.
Demgegenüber vertrete das Buch den rationalistischen
Diskurs schlechthin, das zu begrifflichem, folgerichtigem,
widerspruchsfreiem, objektivem, sprich: vernünftigem
und ordentlichem Denken anrege; sämtlich Attribute,
die man vor den Bildschirmen vergeblich sucht. Was Postman
freilich nicht ahnte – wahrscheinlich weil der
ausgewählte Lesekanon des glücklichen Mannes
ihn vor dieser Erkenntnis bewahrte – ist die Möglichkeit
von Büchern, die im TV-Stil verfasst und offensichtlich
auch von geBildeten Lesern goutiert werden. Ein
paradigmatisches Beispiel dafür ist Lee R. Bobkers
Best-Thriller "The Unicorn Group",
was eine vollkommen indisponierte Übersetzerin
mit "Schach dem Mörder" wiedergab.
Die Kerngeschichte ist schnell erzählt.
Unicorn ist eine Spezialeinheit des CIA, in der nur
Supermänner und -frauen dienen, die denn auch,
hinter den Kulissen und auf allen Erdteilen, in der
Weltpolitik mitmischen, und das heißt in erster
Linie, den Gegner ausschalten. Doch gibt es neuerdings
zu viele eigene Verluste, ja, von einst mehr als dreißig
Mann sind nur noch ganze sieben am Leben. Das geht nicht
mit rechten Dingen zu. Jemand oder etwas scheint die
Agentengarde systematisch auslöschen zu wollen.
Morton Singer ist der geeignete Mann, das Mysterium
zu lösen. Eine nicht ganz ungefährliche Aufgabe,
wie man sich denken kann, umso mehr, als nur ein internes
Mitglied der streng geheimen Truppe für die Morde
in Frage kommt. Tatsächlich löst Singer den
Fall: Man hätte von einem passionierten Schachspieler,
der zudem seine Mitarbeiter als Figuren und das Geschehen
als Spiel betrachtet und auch immer wieder zu Schachanalogien
greift um den Überblick zu wahren, auch nichts
anderes erwartet; schließlich gibt es doch keine
bessere Strategie als die des Schachs. Freilich war
die Auswahl letztendlich nicht mehr groß, denn
von den sieben Recken verbleibt am Ende nur einer (und
der muss es doch wohl sein, oder?). Dass es um allerhöchste
Einsätze geht – das Fortbestehen des CIA,
den US-Präsidenten, den Weltfrieden usw. –
versteht sich von selbst.
So wundert es auch nicht, wenn alle Beteiligten,
solange sie eben noch nicht Schachmatt sind, unglaublich
wichtige, im Jargon des Krimis, "total wichtige",
"total bedeutende", "total geheime"
Informationen mitzuteilen, zu entdecken oder zu verheimlichen
haben. Das Problem an diesen Geheiminformationen und
an dem Roman: sie bleiben auch dem Leser geheim, man
erfährt nicht, worum es geht, alles geschieht zusammenhanglos,
ohne Grund und Ziel – wir sind wieder bei Postmans
Analyse. Oder bei Kafka. Denn was hier im Kleinen geschieht,
das hat Kafka in seinen nachgelassenen Aphorismen hellsichtig
im Großen schon literarisch vorweggenommen. "Es
wurde ihnen die Wahl gestellt Könige oder der Könige
Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle
Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen
durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt,
einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu.
Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen,
aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides".
Alle Personen in diesem Buch wollen Kuriere
spielen, aber niemand hat eine Botschaft. Worum es eigentlich
geht, erfährt der Leser nicht. Immer wieder werden
leere Botschaften ausgetauscht: die Chinesen wissen
etwas, die Japaner haben damit zu tun, der französische
Untergrund steckt drin, in Washington ist was passiert
derart sind die Mitteilungen, die sich die geheimen
und total wichtigen Kuriere überbringen; man trifft
sich heimlich mit totalem Aufwand um sich zu sagen:
damit muss Schluss sein. Aber offenbar spielt es gar
keine Rolle, zu wissen, was "damit" und "etwas"
bedeuten, entscheidend ist, dass die Maschine rollt
und immer neue Bilder, Szenen, Schnitte produziert.
Die Sendung selbst wird zur Botschaft. Man könnte
das den Hollywood-Effekt nennen: Erfinde eine absurde
Ausgangssituation (ein Terminator taucht auf oder ein
Asteroid oder Riesenspinnen oder Dinosaurier oder Gremlins
); niemand wird sich darüber wundern, wird
nach Sinn, Zweck, Herkommen, Wahrscheinlichkeit und
Logik fragen, wenn sich daraus überzeugend und
schnell, sehr schnell, grelle Szenen entwickeln und
überschlagen. Action ist stärker als Geschichte!
Zeit spielt daher keine Rolle, ein Zeitkontinuum gibt
es nicht mehr, mit einem Schnitt vergehen drei Monate
wie drei Sekunden, Actionszenen werden durch Zeitbrücken
verbunden. Widersprüche spielen auch keine Rolle
mehr; wen kümmert es wenn die schöne blonde
Frau plötzlich dunkelbraune Haare hat, solange
sie gut aussieht und es ordentlich besorgt, oder wenn
sie als jemand beschrieben wird "der jegliche erkennbare
Art menschlichen Gefühls abgehe, Wut inbegriffen"
um nur wenige Zeilen später als "fanatische
und gefährliche Frau" dazustehen, "mit
ausgeprägter Tendenz zu Gewalttätigkeit und
Jähzorn"? Und wenn es nicht die Action ist,
so ist es die Logik der Soap, in der es bekanntlich
keine langfristige Planung gibt, sondern sich eine Begebenheit
aus der anderen ergibt, wo lediglich ein vager Personen-,
Orts- und Budgetrahmen existiert, der Rest folgt –
na, wir werden schon sehen – irgendwie. Damit sind
die beiden Wirkmechanismen von Bobkers Buch aufgedeckt.
Wers durchschaut, auf den wirkt es natürlich
abschreckend. Trotzdem: was das Buch überhaupt
lesbar macht (und den Hollywood-Film ansehenswert) ist
exakt dieser dauernde Szenenwechsel, sind die schnellen
Schnitte mit den zahllosen Toten. Zwar versucht Bobker
auch "psychologisch" zu sein, aber hier dilettiert
er, wie in allen höheren Ansprüchen, total.
Zu allem Überfluss gesellt sich eine plumpe und
ungelenke Übersetzung, teils in unerträglichem
Bürokraten- und Oberlehrerdeutsch, teils total
cool, teils - so die Vermutung – einfach falsch
und schlecht.
Um diesem schwachsinnigen Gebilde einen
intellektuellen Touch zu verleihen, dafür
muss das Schach herhalten. Am auffälligsten geschieht
dies mithilfe von leitmotivisch eingesetzten Schachzitaten,
die jedes Kapitel eröffnen. Dabei handelt es sich
um längere abgepinselte Passagen aus Reinfelds
"In zwei Wochen zum Erfolgsschach", Saidys
"Der Kampf der Schachideen", Byrnes "Schach"
und Horowitz "Schach schnell erlernt",
die mitunter das Geschehen vorwegnehmen – "Caissa,
die Göttin des Schachspiels, ist nicht nur die
Tochter des Mars, sondern auch der Aphrodite";
da weiß man: jetzt wird gepoppt – oder aber
aus banalen allgemeinen Lebensregeln bestehen –
"Der Spieler, der in einer frühen Phase einer
Partie ins Hintertreffen gerät, tut gut daran,
alles zu unternehmen, um so schnell wie möglich
den verlorenen Boden wieder gut zu machen".
Außerdem verpasst Singer keine
Gelegenheit, sich als Schachspieler, nein, als Schachdenker
zu outen, ja, er wird uns regelrecht als solcher einführend
vorgestellt. Am Brett hat er wohl seine "einzigartige
Fähigkeit" erlangt, "unter der Oberfläche
scheinbar normaler Verhaltensweisen betrügerische
Absichten zu erkennen", und schon der Eingangs
zitierte Emanuel Lasker wusste, dass "Lüge
und Heuchelei beim Schach kurzlebig sind. Die kreative
Kombination legt das Mutmaßen eines Lebens bloß;
diese gnadenlose, in einem Schachmatt kulminierende
Tatsache ist unvereinbar mit Heuchelei" [1]. So ist
der Leitfaden schnell gesponnen. Vielleicht ist es nicht
mal der größte Triumph Singers, das Komplott
aufgeklärt zu haben, sondern den US-Präsidenten
dahin zu bringen: "Mr. Singer, Cy hat mir erzählt,
dass sie ein erstklassiger Schachspieler sind. Vielleicht
bringen sie es mir irgendwann bei. Ich glaube, ich hätte
Lust, es zu lernen". Aber nur niedere Intelligenzen
wie US-Präsidenten [2] (die natürlich nicht Schach
spielen können!), fallen auf Singers Schaumschlägereien
herein.
Man sieht leicht, das alles ist aufgesetzt,
erwächst durchaus nicht organisch aus der Handlung
und ist auch nicht wirklich in sie verflochten. Singer
kann noch so oft bekennen, der "Spielleiter"
zu sein, das "Spiel in der Hand" oder einen
"Spielplan" zu haben, die "Geschichte
wie eine Schachpartie zu begreifen", er kann noch
so oft auf die Schachanalogie verweisen, von "Figuren",
"Opfern" und "Zügen" sprechen,
strukturell ist das Schach ebenso abwesend wie eine
– gelungene Struktur. Wo das Schach wirklich zum
Lesegenuss beiträgt, dort sind es Stilblüten:
"Haben sie je einen Läufer oder einen Springer
ungedeckt auf einem falschen Feld stehen sehen? Er sticht
einem wie eine Neonreklame ins Auge". "West
(ein schwarzer Agent) bezieht unter der Annahme, dass
ein schwarzer Stein auf einem schwarzen Feld am besten
aufgehoben ist, in Nairobi Stellung". "Dame
und Springer operieren gemeinsam. Alle Felder und Linien
sind gedeckt. Sie werden bald rochieren".
Eine Weisheit freilich muss man ihm zugestehen,
nicht die geringste Differenz zur Geheimdienstarbeit
und zu Bobkers Buch: "Das Schöne am Schach
ist, dass niemand Schaden dabei nimmt".
Nur einmal erlangt das Schachspiel wesentliche
Bedeutung, wenn auch unbeabsichtigt. Als alle schon
tot sind und nur noch einer der Superagenten lebt (und
die Wahrscheinlichkeit, dass dies der Täter sei,
zu Gewissheit wird), kommen Singer folgenschwere Gedanken:
"Ohne sich dessen bewusst zu sein, genoss er inzwischen
die Anforderungen, die dieses Spiel an ihn stellte.
Zum erstenmal seit Beginn sah er den gesamten Aufbau.
Es war immer einfacher, zwischen Zweck und Motiv zu
unterscheiden, wenn auch nur wenige Figuren auf dem
Brett standen. Das war schließlich das Schöne
des Endspiels, das Singer schon immer fabelhaft beherrschte".
Auch aus schachtheoretischer Sicht hat das Morden also
Sinn. Daran sieht man, wie gefährlich es ist, sich
unüberlegt auf Metaphern zu verlassen: die Bilder
enden schnell im Absurden.
(Lee R. Bobker: Schach dem Mörder.
Playboy Band 6151. Rastatt 1984. 255 Seiten)
--- Jörg Seidel, 18.02.2004 ---
[1]
Das Originalzitat lautet wie folgt: "Auf dem Schachbrett
der Meister gilt Lüge und Heuchelei nicht lange.
Sie werden vom Wetterstrahl der schöpferischen
Kombination getroffen, irgendwann einmal, und können
die Tatsache nicht wegdeuteln, wenigstens nicht für
lange, und die Sonne der Gerechtigkeit leuchtet hell
in den Kämpfen der Schachmeister". Dass im
Buch so ein Wortsalat erscheint, liegt an der deutschen
Übersetzung der englischen Übersetzung des
deutschen Originals.
[2] Siehe: Neil Postman:
Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter
der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt 1985. S. 62f.
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