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Die Verbrechen des Weihnachtsmanns
Das
ist ein Krimi, wie ein Krimi sein muss! Spannend, flüssig,
schnell und - darauf kommt es am meisten an - witzig
und intelligent. Viele Leute vergessen, dass gerade
die sogenannte Gebrauchs- und Trivialliteratur, die
leichte Literatur, zu welcher der Krimi noch immer oft
fälschlicherweise gezählt wird, nur dann funktionieren
kann, wenn sie witzig und intelligent gemacht ist, inhaltliche
Tiefe hinter der leichten Fassade aufweist. Diese beiden
Komponenten ersetzen die Originalität, die man
von der ernsten Belletristik erwartet, denn im Krimi
gibt es Originalität fast nicht mehr, statt dessen
muss er originell sein. Fredric Browns Buch hat alles!
Das wird schon an der einprägsamen
Eingangsszene deutlich, die eine massige Gestalt in
dickem Weihnachtsmannkostüm über den sommerlichen
Broadway mit festem Schritt gehen sieht: kaum jemand
beachtet ihn, denn Amerika ist das Land der unbegrenzten
Möglichkeiten, Amerikaner sind alles gewohnt und
halten alles für möglich. "Die Orthodoxen
beschreiben ihn später als dick und untersetzt,
die Agnostiker, die wenigen, als groß und schlank,
ohne Kopfkissen auf dem Bauch" (8). Dieser Mann
wird wenig später, noch immer in seine lächerlichen
Kleider gehüllt, ein Büro betreten, die Sekretärin
problemlos passieren und den Chef eines Radiosenders
kaltblütig ermorden. Bill Tracy ist Mitarbeiter
des Senders, er verdient sich seine Brötchen durch
das Schreiben von "Millies Millionen" einer
erfolgreichen soap opera, in der selbst er heute noch
nicht weiß, was übermorgen geschehen wird.
Dies alles geschieht im Jahre 1948.
Bill Tracy erschrickt doppelt über
den Mord an seinem Vorgesetzten: "Die Lust sich
zu besaufen, war keine Konsequenz seiner nahen Bekanntschaft
mit dem Opfer des Verbrechens, sondern viel mehr dem
vollkommen unglaublichen Umstand geschuldet, dass er,
Bill Tracy, das Projekt des Mordes entworfen hat. Eine
einfach verrückte Geschichte" (13). Tracy
hatte das Verbrechen wenige Tage zuvor in einer Kriminalskizze
mit dem Titel "Morden kann Spaß machen"
erfunden. Niemand wusste davon. Ein Zufall? Spätestens,
als Frank Hrdlicka, ein guter Freund Tracys und Hausmeister
in der Mietskaserne, tot in der Zentralheizung gefunden
wird, erweist sich diese rettende Hypothese als unhaltbar,
denn auch dieses Delikt entstammt Tracys Feder. Es beginnt
der Spießrutenlauf durch die polizeilichen Verdächtigungen,
zahlreichen Besäufnissen, diversen verzweifelten
Frauengeschichten; Tracy verliert schließlich
seine Kreativität, gewinnt Distanz zu seiner Profession,
er leidet, denkt, säuft, grübelt und säuft
erneut, begibt sich in Gefahr und erst als schließlich
ein dritter Mord nach seinen phantastischen Ideen geschieht,
kommt er zur Lösung aller Rätsel, die sich
in einem dramatischen Finale aufklären. Alles steht
ihm plötzlich klar und deutlich vor Augen: "Es
musste wahr sein, weil es keine andere mögliche
Antwort gab. Es war wie ein Schachproblem. Es gab nur
einen einzigen Schlüsselzug, und wenn dieser gemacht
war, dann nahm jedes Ding seinen entsprechenden Platz
ein und man verstand, weshalb jede einzelne Figur exakt
diese Position einnahm und keine andere" (221).
Tatsächlich ist Browns Kriminalroman wie ein Problem
aufgebaut, ein Matt in drei, vier undurchsichtigen,
ungewöhnlichen Zügen, zwingend, aber vage,
von denen der erste immer der ungewöhnliche ist.
In einer noch bildschirmfreien Zeit nimmt das Spiel
im sozialen Leben dieses Buches eine dominante Rolle
ein, man spielt selbst im schon reizüberfluteten
New York alles mögliche: Billard, Schafskopf, Rommee,
Poker, cribbage und und und, vor allem aber Schach.
Und es sind die zum Teil äußerst originellen
Aussagen zum Schach, die uns hier besonders interessieren.
Dass es als Metapher alle anderen Spiele an Möglichkeiten
übersteigt, wurde schon in Tracys hellstem Moment
deutlich, aber es bekommt in diesem Ausnahmekrimi auch
anderweitig eine tragende Rolle, jenseits der Symbolik
und jenseits der tagtäglichen Präsenz. Es
wird zum Indiz: nach Hrdlickas Ermordung treibt es Tracy
in dessen Kellerwohnung, wo ihn bereits der leitende
Kommissar Bates, ohnehin mit reichlich Misstrauen versehen,
erwartet. Immerhin sieht Bates in ihm den Mann, der
zwei Morde "voraussah". Noch steht auf dem
Tisch des Ermordeten eine angefangene Partie: "Genauso
standen die Figuren: es scheint die Stellung eines Problems
zu sein. Für das Ende einer Partie ist die Stellung
zu unwahrscheinlich. Vermutlich ein Problem in zwei
Zügen. Aber ich habe die Lösung noch nicht
gefunden. Tracy antwortete: - Es ist ein Problem in
zwei Zügen: ich habe es gelöst. Der Schlüssel....
oder wollen Sie, dass ich es nicht sage? - Vorwärts,
Sie befreien mein Hirn von einem Gewicht. Ich müsste
an andere Dinge denken. - Springer c4 - Hab' ich probiert.
Aber macht der Bauernzug nicht alles zunichte? Wie soll
Weiß Schachmatt setzen, wenn Schwarz den Bauern
zieht? - Schwarz kann den Bauern nicht ziehen. ... Es
ist ein Abzugsschach. - Bates schnalzte mit dem Finger.
- Blind - sagte er - Blinder als eine Fledermaus"
(118). Da es sich um eine erst wenige Stunden in der
Zeitung zuvor veröffentlichte Aufgabe handelt,
ließ sich nebenbei der Zeitpunkt des Todes sicher
ermitteln, denn Frank musste sie unmittelbar vor seinem
gewaltsamen Tode noch aufgebaut haben. Es ist dieser
Frank, dem die vielleicht wichtigsten Gedanken des Buches
in den Mund gelegt werden und es ist zu bedauern, dass
er sein Vorhaben, ein Buch zu schreiben nun nicht mehr
verwirklichen konnte, denn diesem ungewöhnlich
empfindsamen Kopf war viel zuzutrauen. Davon zeugt Tracys
letztes Gespräch mit ihm, an das er sich erinnert
und das schließlich für die Lösung des
Falles nicht ganz unbedeutend bleibt:
"Frank war so ein anständiger Junge. Er sprach
nicht viel, aber Tracy erinnerte sich daran, dass er
vergangenen Sonntag gerade soviel getrunken hat, um
ihm die Zunge zu lösen. Gerade an diesem Tag hatten
Dick Kreburn und Frank Schafskopf zusammen gespielt
und Frank hatte sich zurückgehalten bis Dick gegangen
war. Er hatte sich ans Fenster gestellt und hinaus geschaut.
Tracy bot ihm eine Partie Schach an, und ohne sich herumzudrehen,
hat Frank den Kopf geschüttelt.
Es macht zuviel Krach, Tracy.'
Zuviel Krach?'
Mein Gott, ja, zuviel Krach', hatte Frank erwidert.
Hörst du nicht, wenn du spielst, den Zusammenstoß
der Kräfte? Ein Höllenlärm.'
Von welchem Lärm sprichst du, Frank?'
Frank hatte sich vom Fenster entfernt. Er hatte ein
wenig gelacht, um die Bedeutung seiner Worte etwas zu
verringern und hatte angefügt: Unsinn'.
Er hatte noch immer das leere Glas in der Hand. Tracy
nahm es und hatte es wieder gefüllt, dann hatte
er gesagt: Es gefällt mir. Sprich weiter'.
Ich glaube, dass der größte Teil der
Leute das nicht empfindet. Vielleicht höre noch
nicht mal ich es wirklich. Aber mir scheint, dass ich
es höre. Da, Tracy, nimm diesen Turm .. er steht
ruhig auf seinem Posten, ist dir nicht wie ... und doch
sind da, wie sagt man? ... die von dieser Figur abgehen.'
Linien? ...'
Ja, Linien, Kraftlinien. Gerade Linien gehen von
dem Turm aus, vorwärts, rückwärts und
an den Seiten. Sie stoßen gegen jede andere Figur,
die sie treffen. Es ist.... eine Art Summen, wie es
ein Dynamo oder ein Motor macht. Die Läufer stoßen
in Diagonalen, ein verschiedener Klang, ein anderer
Ton. Die Springer ... verdammt, ich rede Unsinn.'
Fahr fort. Es interessiert mich.'
Ein seltsames Geräusch, Tracy, ein konkaves
Geräusch. Und die Bauern. Hast du nie gehört,
wie ein Bauer schreit, wenn er gefangen wird?'
Tracy hatte einen seltsamen Schauder
seinen Rücken hinuntergleiten gefühlt. ...
An dieses Gespräch zurückdenkend,
versuchte Tracy zu entdecken, ob es etwas enthielt,
was er Bates mitteilen könnte. Nein, da war nichts,
dass man mit dem Mord hätte in Verbindung bringen
können" (100f.). Dass Tracy sich damit geirrt
haben sollte, beweist nur, welche zentrale Rolle auch
der Autor diesem Gespräch zudachte.
"Aber es ging ihm erneut im Kopfe
herum, was Frank über den Bauern gesagt hat: Hast
du nie einen Bauern schreien hören, wenn er gefangen
wird'? Auch diesmal, wieder also, fühlte Tracy
den Schauder über den Rücken schlängeln.
War Frank ein Bauer für jemanden? Hatte er geschrien,
als sich das Messer in seinen Rücken pflanzte,
da unten in dem Zimmer der Heizungsanlage, wo ihn niemand
hatte hören können mit Ausnahme des Mörders?"
(101f.)
Noch Tage später beschäftigen
Tracy die enigmatischen Worte des Freundes so sehr,
dass er sie zum Anlass nimmt, sie in einem Selbstversuch
zu testen, in einer Phase, als es ihm einfach nicht
mehr gelingen will, an seinem Radioschinken weiter zu
schreiben: "In diesem Moment kam ihm eine Sache
in den Sinn, die er schon seit letztem Sonntag machen
wollte... Es war eine Verrücktheit, aber er wollte
es machen. Er holte das Schachbrett heraus und stellte
die Steine für eine Partie auf. Abwechselnd zog
er die weißen und die schwarzen Figuren. Die übliche
Eröffnung mit vier Läufern, nach vorn, bis
zur Mitte der Partie, mit den beiden Parteien in ausgeglichener
Stellung und der Mehrzahl der Figuren im Spiel. Dann
blieb er so sitzen, das Schachbrett anzuschauen, nachdenkend
und die Kräfte der Steine fühlend, der Schachfiguren,
die Drohungen, das Gleichgewicht der Parteien. Der weiße
König bedroht durch einen schwarzen Läufer
und einen Springer, geschützt von der Dame und
einem weißen Turm. Nein, bei ihm funktionierte
es nicht. Er konnte sich sehr gut jene Kräfte vorstellen;
er konnte sich selbst dazu überzeugen, sie zu sehen,
figürlich, die Kraftlinien, vom Turm ausgestrahlt
und in der Diagonale von den Läufern. Aber hören,
nein. Seltsam wie unterschiedlich das Gehirn agiert
von einer Person zur anderen. Vermutlich auch die Sinne.
Man wird nie sagen können, wie sich eine Sache
dem Takt eines anderen offenbart, dem Geruch, dem Geschmack."
(105f.)
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Ugo Dossi:
Fischer - Byrne;
ein synästhetischer Versuch?
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Von diesem seltsamen Schacherlebnis ausgehend,
gelangt Tracy zu Ansätzen einer fast existentialistischen
Erkenntnistheorie, die sich in Sartres programmatischen
Worten: "Die Hölle, das sind die anderen"
[1] aussprach und Ende der
50er Jahre regelrecht in der Luft lag. Daher ist sie
auch weniger interessant, weniger zumindest als die
synästhetischen Empfindungen Hrdlickas, die freilich,
ob ihrer Andersheit, wesenhaft rätselhaft bleiben.
Dem Leser wird es nicht anders als Tracy ergehen: man
mag sich die Kraftlinien visuell vorstellen können
- und in der Tat kennt die Schachliteratur verwandte
Beispiele - aber nur wenige werden das auditive Erlebnis
nachempfinden können, wenngleich selbst dies empfindsamen
Geistern möglich sein mag. Aber ein konkaves Geräusch
schließlich, das kann man bedenkenlos behaupten,
wird in diesem Zusammenhang nie wieder auf Vergleichbarkeit
hoffen können. Man müsste, um sich ihm anzunähern,
den Schachbereich sicher verlassen und sich bestimmten
experimentellen schwarzen und weißen Künsten
verschreiben. Hier hat man es mit einem Beispiel sehr
fortgeschrittener Synästhesie - der Fähigkeit,
die Erregung eines Sinnesorgans mit Empfindungen eines
anderen zu koppeln - zu tun, wie man sie sonst nur von
übersinnlichen Phänomenen her kennt; Hexen
verfügten nicht selten über diese Anomalie.
Fasst man nun alle Fäden zusammen, so erscheint
vor dem geistigen Auge ein angedeutetes Projekt, dass
Schach und Kunst in ganz anderer als gewöhnlicher
Weise miteinander verbindet, da es selbst weniger Kunst
ist, denn als Komposition dieser dient. Es war von Schachkompositionen
hier schon die Rede und allein der Begriff weist auf
die künstlerische, bildnerische, besonders musikalische
Ebene hin. Könnte man ein Schachspiel hörbar
machen, welche "Musik" wäre zu hören?
Könnte man seine Dynamik sichtbar machen, was wäre
zu sehen? Könnte man gar beides miteinander verbinden,
wäre dieses Gesamtkunstwerk nicht einmalig? Und
möglicherweise wäre auch die Umkehrung möglich:
ein Kunstwerk in eine Partie rückübersetzen?
Hrdlickas Äußerungen jedenfalls lassen wenig
Hoffnung für eine klassische Symphonie zu, viel
mehr sind Experimentalmusiken oder "sphärische
Klänge" zu erwarten, etwas, was wir heute
schon alles gehört zu haben glauben, vor mehr als
50 Jahren jedoch kaum bekannt gewesen sein dürfte,
wenngleich Schönberg, Webern und andere Vorreiter
moderner Musik bereits den Höhepunkt ihrer Karriere
überschritten hatten.
(Fredric Brown: "I delitti
di Babbo Natale" (Originaltitel: "Murder can
be fun" 1948) Milano 2000. 236 Seiten)
Informationen zu Fredric Brown
(1906-1972) unter:
http://www.thrillingdetective.com/trivia/brown.html
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Robert Miklos: Zufall
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--- Jörg Seidel, 20.12.2001 ---
[1]
Jean Paul Sartre: Geschlossene Gesellschaft. Reinbek
1994 (1944). S. 59
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