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John Brunner: The Squares
of the City
Vados, die bestdurchplanteste Stadt
der Welt, könnte das Schachspielerparadies
sein. An allen Ecken und Enden begegnet man dem Spiel,
der Präsident des Landes frönt ihm ebenso
wie der letzte Holzschnitzer, Kellner servieren Schachbretter
wie edle Desserts, die lokalen Schachmeisterschaften
werden vom staatlichen Fernsehen live übertragen
und massenweise gesehen, der Landesmeister wird wie
ein Volksheld gefeiert, wo er auftritt, kommt die Menge,
wie zu einem sportlichen Großereignis, selbst
in ihren architektonischen Mustern weist die Stadt Schachbezüge
auf. Schach ist unangefochten das Nationalspiel, "the
great national institution", Ja, in Vados müsste
man leben!
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Doch leider existiert diese Stadt nur
in einem Buch, einem Science Fiction und ihre politische
Realität hält auch mit dem Ideal nicht stand.
Sie sollte die Vorzeigestadt eines kleinen lateinamerikanischen
Staates sein, sie sollte beweisen, dass Schönheit,
Reichtum und soziale Gerechtigkeit zusammengehen können.
So zumindest lauteten die guten Absichten des Präsidenten
Vados und seines Beraters Mayors. Tatsächlich wurde
ein vollkommen durchkomponiertes Kunstwerk innerhalb
von zehn Jahren aus dem Urwald gestampft - so klar wie
eine Steinitz-Partie und so schön wie ein Rätsel
Loyds - und alles schien gut zu gehen. Dass man aber
den Australier Hakluyt, einen der führenden Stadtplaner
und Verkehrsexperten zu Hilfe rufen muss, deutet schon
auf erste Schwierigkeiten hin. In den dunklen Ecken
des Traumortes haben sich Problemzonen gebildet, verarmte
Bauern wohnen in menschenunwürdigen Slums; ihnen
wurde einst die Lebensgrundlage zerstört, als der
Stadtbau alle natürlichen Ressourcen verschlang.
Hakluyt, der Ich-Erzähler, solls nun richten.
Ungewollt, aber unaufhaltbar wird er so in die inneren
Zwistigkeiten verstrickt; was sich anfangs nur als moralisches
Problem zeigt – die Zerstörung des Lebensraums
tausender verarmter Menschen – entpuppt sich mehr
und mehr als eine politische Frage. Denn Vados ist auch
politisch in Weiß und Schwarz geteilt und Hakluyt
steht zwischen den Stühlen. Hinter der glänzenden
Fassade muss er diktatorische und demagogische Züge
wahrnehmen; schließlich wird ihm in einem schmerzhaften
Prozess bewusst, dass auch er in den politischen Intrigen
eine Rolle spielt. Er entdeckt sich als Bauer im Schachspiel
um die Macht. Zu diesem Zeitpunkt mussten einige seiner
Bekannten schon ins Gras beißen, denn das Klima
spitzt sich immer mehr zu, scheint auf einen Bürgerkrieg
hinzulaufen. Aber sind wir nicht alle nur Bauern in
einem großen Spiel?
"Look, the man in the subway going
to work of a morning has no more real control over his
own activities than – well, than a piece on a chessboard"
(269).
Doch selbst dabei bleibt der Erkenntnisprozess
nicht stehen; was wie eine Metapher klingt, entpuppt
sich bald als ganz reales Spiel. Hakluyt ist eine Figur
im Spiel um die Macht, eine Figur im erbitterten Schachkampf
des Präsidenten gegen seinen politischen Widersacher.
Um das Schlimmste zu verhindern, wählen sie diese
ritterlich gemeinte, aber zutiefst zynische Form des
Kampfes:
"So we agreed, and we took our solemn
oath upon it: we would fight out our battle on the squares
of the city, serving us for a chessboard, with no man
knowing such a game was being played" (303).
Sie können aber die historischen
Gesetze damit nicht außer Kraft setzen, im Gegenteil,
was kommen muss, kommt umso eher. Das Leben ist einfach
zu komplex, um auf eine Schachpartie reduziert zu werden.
"
this attempt to reduce the
realities of life to a game of chess would still have
failed.
Maybe were all nothing but bits
of complex machinery responding to stimuli on a totally
determinate basis; often it seems to me in my job that
we are. But that applies to all of us, and none of us
can claim what you called the powers of God to dictate
the thoughts and emotions of others (308f.).
Derartige Sätze wird man nicht oft
in literarischen Werken finden, die sich des Schachs
bedienen. Da ragt John Brunners Werk deutlich heraus.
Auch in anderer Hinsicht ist es einmalig:
Es versucht eine tatsächlich gespielte Partie direkt
in Handlung umzusetzen. Unter denjenigen Büchern,
die sich soweit ins Schachliche hinauswagten, mag es
– wie Brunner glaubt – das beste, das gelungenste
sein, aber ist es an sich gelungen? Zwei Gründe
sprechen noch immer dagegen.
Zum einen ist, man kann das nicht oft
genug wiederholen, das Leben tatsächlich zu kompliziert,
um auf eine Partie reduziert werden zu können.
Für den Schriftsteller steht damit die schier unlösbare
Aufgabe, die doch eher statischen Bewegungen des Schachs
in lebensechte Motivationen umzuwandeln.
"But the moves", schreibt der
Autor im Nachwort, "are all there, in their correct
order and – so far as possible – in precise
correspondence with their effect on the original game.
That is to say, support of one piece by another on its
own side, threatening of one or more pieces by a piece
on the other side, indirect threats and the actual taking
of pieces, are all as closely represented as possible
in the development of the action (316).
Das unterstreicht nur, wie weit Brunner
sein Experiment getrieben hat, mit welchen Ambitionen
und wie akkurat er arbeitete. Und trotzdem wirkt es,
auch bei einem bewiesenermaßen fähigen Autor,
immer noch hölzern.
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Zum anderen ist aber auch das Schachspiel
zu kompliziert, um in lebendige Beschreibung umgesetzt
werden zu können. Allein der Fakt der 32 Figuren
(von denen ohnehin nur 16 handlungsrelevant sind), vor
allem aber der unzähligen Varianten und Möglichkeiten,
sprengt den Rahmen der Literatur. Das lässt sich
an jenem Selbstgeständnis am einfachsten nachweisen:
"The flow of names was beginning to make me dizzy"
(118), bekennt Huklyat und genauso fühlt der Leser,
zumal die alle Diaz, Ruiz, Cruz, Cortes, Gonzales oder
ähnlich heißen. Man verliert einfach den
Überblick und es kann keinem Künstler gelingen,
all diesen Figuren wirklich Farbe zu verleihen. Sie
sind dann eben wie hölzerne Bauern des Schachspiels,
nicht mehr auseinander zu halten.
In gewisser Weise beruht sogar die Zuordnung
zum Science Fiction auf einer Verwechslung, denn Brunner
leistet mehr, er hat mit "The Squares of the City"
eine negative Utopie geschrieben und muss sich nun an
Orwell, Samjatin und Huxley messen lassen. Auch wenn
er da nicht ganz heranreicht, so wird das Werk in diesem
neuen Kontext aufgewertet. Das Schach dient ihm mehr
als Matrix denn als Metapher – damit hat er es
weiter exponiert als Zweig, Nabokov und viele andere.
Als Partie gibt Brunner Steinitz gegen
Tschigorin (Havanna 1892) an, offensichtlich in Unkenntnis,
dass es sich um einen Weltmeisterschaftskampf handelte.
Vermutlich meint er die 16. Partie:
Steinitz - Chigorin
Havanna, 07.02.1892
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.d3 Lc5 6.c3 b5
7.Lc2 d5 8.De2 0-0 9.Lg5 dxe4 10.dxe4 h6 11.Lh4 Dd6
12.0-0 Sh5 13.Lg3 Lg4 14.b4 Lb6 15.a4 bxa4 16.Sbd2 Df6
17.Lxa4 Se7 18.Dc4 Le6 19.Lxe5 Lxc4 20.Lxf6 Sxf6 21.Sxc4
Sxe4 22.Sxb6
22...cxb6 23.Tfe1 f5 24.Se5 Tfc8 25.c4 Ta7 26.f3 Sf6
27.Lb3 Kf8 28.b5 a5 29.Ted1 Te8 30.c5 bxc5 31.Td6 Tb8
32.Tad1 Taa8 33.b6 a4 34.Lxa4 Kg8 35.Sc6 (Sxc6 36.Lxc6
Se8 37.b7 Ta7 38.Td8) 1-0
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Vermutliche Endstellung
des Romans nach dem 35. Zug
--- Jörg Seidel, 31.12.2005 ---
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
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