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Schachbotschafter II:
Henry Thomas Buckle -
unvollendetes Porträt eines Dilettanten
[
]
Anders liegt der Fall beim zweiten Bändchen
der Reihe. Schon die ersten Zeilen machen deutlich,
dass der Historiker Venanzio Laudi, ebenfalls aus Turin,
ein begnadeterer Autor ist, jemand, der einen elegischen
Stil überzeugend schreiben kann und der ist seinem
Gegenstand kongenial angepasst: Henry Thomas Buckle.
In Schachkreisen wird die Nennung dieses Namens voraussichtlich
auf vergleichsweise geringe wiedererkennende Resonanz
stoßen, Buckle ist ein weitgehend Unbekannter
und das, obwohl er eine wahrlich schillernde Figur gewesen
ist. Dies alles, die Vielfältigkeit und die relative
Neuheit des Gegenstandes erleichtern es Laudi, zumal
es ihm gelingt, den Leser mit wenigen Worten in eine
atmosphärisch fremde, vergangene Welt zu entführen,
die man nicht mehr verklären muss, denn sie mutet
den Heutigen zwangsläufig fast märchenhaft
an. Es ist die Welt der alten Clubs und Schachcafès,
von denen es allein in London drei wirklich bedeutende
gab: den London Chess Club in "Toms Coffee
House", den Westminster Chess Club in "Huttmans
Coffee House" und schließlich den St. Georges
Club, der im "Simpsons Cigar Divan",
kurz "Divan" oder "Simpsons", logierte;
in allen dreien war Englands Schachlegende Howard Staunton
nacheinander Mitglied. Es ist auch die verrückte
Zeit, in der führende Schachspieler noch Parlamentsmitglied
sein konnten, wie Marmaduk Wyvill, Anderssens Finalgegner
in London ´51, als führende Schachgrößen
noch kritische Shakespeareausgaben herausgeben wollten,
wie Staunton höchstpersönlich, oder als sie,
wie eben dieser Buckle, bahnbrechende Geschichtswerke
verfassten. Seine "History of Civilization in England"
von 1857, der zuerst unsere Aufmerksamkeit gelten soll,
denn sie stellt den Lebensmittelpunkt des Meisters dar,
war lange Zeit ein vieldiskutiertes und lebhaft umstrittenes
Grundlagenwerk, an dem eine ernsthafte Forschung nicht
vorbei konnte.
"Simpsons Cigar Divan",
kurz "Divan" oder "Simpsons" genannt
Die Rezeption
Buckles: Mill, Marx, Nietzsche u.a.
So wurde es von
den bedeutendsten Denkern und Künstlern gelesen
und diskutiert.
John Stuart
Mill, Gründervater des Utilitarismus und Positivismus,
einer der wichtigsten modernen Philosophen und Nationalökonomen,
von dessen Denkart Buckles Geschichte wesentlich beeinflusst
war, hielt es umgekehrt für das entscheidende Werk,
welches den neuen Standpunkt, dass "der Gang der
Geschichte allgemeinen Gesetzen unterworfen" sei,
verbreitete und allgemeinverständlich darlegte,
ihn somit in den Wissenschaftsdiskurs einführte,
ihn "in einer höchst klaren und erfolgreichen
Weise ans Licht gebracht hat" [1].
Buckle vertrat in seinem umfänglichen Werk einen
wesentlich materialistischen Standpunkt, es wundert
also nicht, dass vor allem materialistische Denker oder
deren erklärte Widersacher sich mit dem Opus beschäftigten
und die namhafte Liste ist lang.
Karl Marx
etwa informierte in seiner typisch lakonischen, fast
zynischen Art, verbunden mit einem Seitenhieb auf den
ehemaligen Jugendfreund und Übersetzer Buckles,
Arnold Ruge, in einem Brief an Engels vom 18. Juni 1862
über das Ableben des Historikers: "Buckle
hat dem Ruge den Streich gespielt zu sterben
poor Buckle" [2] und
Engels selbst, schon bestrebt die internationale
revolutionäre Bewegung zu koordinieren, bemühte
sich neun Jahre später, die "Hist. of Civilization
wenigstens für 10 sh. zu bekommen" [3],
um sie dem russischen Revolutionär Lawrow zukommen
zu lassen, verzichtete aber später darauf, weil:
"Buckle – 3 Bände – kostet in der
billigsten Ausgabe 24 sh. Und da ich nicht daran zweifle,
dass sie dieses Werk in Paris finden können, habe
ich es nicht geschickt" [4].
Auch Georgi
Plechanow, bedeutender marxistischer Geschichtsphilosoph
und späterer Parteigegner Lenins - beide übrigens
begeisterte Schachspieler - setzte sich nachweislich
schon während der Studienzeit mit Buckle auseinander
[5], ging in seinen späteren
Werken aber schon auffällig auf Distanz [6].
Dass Buckles Werk
vor allem in Russland breite Diskussion fand, zeigt
neben Lawrows und Plechanows Interesse auch Dostojewski,
der in seinen "Aufzeichnungen aus dem Untergrund"
folgende Überlegung anstellt: "Denn diese
Theorie der Erneuerung der ganzen Menschheit mittels
des Systems der eigenen Vorteile bejahen, das ist doch,
scheint mir, fast dasselbe, wie
nun, wie zum
Beispiel nach Buckle behaupten, der Mensch werde durch
die Kultur milder, folglich weniger blutdürstig
und immer unfähiger zum Kriege" [7].
"Buckle hat
die interessante Bemerkung gemacht", schrieb F.
A. Lange in seinem geschichtsphilosophischen Kompendium,
"dass die Revolutionszeit, und namentlich die mächtigen
politischen und sozialen Stürme der ersten Revolution
in England einen großen und durchgreifenden Einfluss
auf die Gesinnung der Schriftsteller geübt haben,
namentlich durch Erschütterung der Autoritäten
und Weckung des skeptischen Geistes" [8],
und bezieht sich verschiedentlich, wenn auch aus kritischer
Distanz auf Buckle und dessen "geistvolle Studien"
[9].
Selbst Nietzsche,
Spengler und Dilthey schließlich, vor vollkommen
diversen Hintergründen und um die exemplarische
Reihe allerbedeutendster Denker abzuschließen,
kamen an Buckles Werk nicht vorbei. Freilich ändert
sich das Urteil radikal, was zumindest bei Nietzsche
niemanden verwundern kann: "Autoren, an denen heute
noch Wohlgefallen zu haben", schreibt er um die
Jahreswende 1887/88 in sein Tagebuch und fabriziert
eine illustre Reihe, der anzugehören, bei aller
Kritik, keine Schande sein kann, "Autoren, an denen
heute noch Wohlgefallen zu haben, ein für alle
mal compromittiert: Rousseau, Schiller, George Sand,
Michelet, Buckle, Carlyle" [10]
und im darauffolgenden Sommer diese allgemein interessante
Äußerung: "Bis zu welchem Grade die
Unfähigkeit eines pöbelhaften Agitators der
Menge geht, sich dem Begriff der höheren
Natur klar zu machen, dafür giebt Buckle
das beste Beispiel ab. Die Meinung, welche er so leidenschaftlich
bekämpft - dass große Männer,
Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn
die Hebel und Ursachen aller großen Bewegung sind
- wird von ihm instinktiv dahin mißverstanden,
als ob mit ihr behauptet würde, das Wesentliche
und Werthvolle an einem solchen höheren Menschen
liege eben in der Fähigkeit, Massen in Bewegung
zu setzen, kurz in ihrer Wirkung
Aber die höhere
Natur des großen Mannes liegt im Anderssein,
in der Unmittheilbarkeit, in der Rangdistanz –
nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch den
Erdball erschüttere" [11].
Dabei lässt sich Nietzsches Buckle–Erlebnis
chronologisch sehr gut nachvollziehen, erst wenige Wochen
zuvor nämlich kam ihm das Werk zu Gesicht. In einem
Brief an Peter Gast vom Mai 1887 schreibt er: "Die
Bibliothek in Chur, ca. 20000 Bände, giebt mir
dies und jenes, das mich belehrt. Zum erstenmal sah
ich das vielberühmte Buch von Buckle Geschichte
der Civilisation in England – und sonderbar!",
so wird ihm klar, "es ergab sich, dass Buckle einer
meiner stärksten Antagonisten ist" [12].
Eingang in Nietzsches veröffentlichtes Werk fand
Buckle zwei Mal und beide Male hält er es nicht
für notwendig, die Kritik sachlich zu vertiefen
und beide Male verbindet er sie mit seinen anti-englischen
Ressentiments: "Welchen Unfug aber dieses Vorurteil,
einmal bis zum Haß entzügelt, insonderheit
für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der
berüchtigte Fall Buckles; der Plebejismus des modernen
Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da einmal
wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie
ein schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten,
gemeinen Beredsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet
haben" [13]. Und
in der "Götzendämmerung": "Dem
Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit
dem Genie und »großen Manne« abzufinden:
entweder demokratisch in der Art Buckles oder religiös
in der Art Carlyles" [14].
Spenglers
"Untergang des Abendlandes" ist vor allem,
wie er einleitend bekennt, Goethe und Nietzsche geschuldet,
stellt nicht zuletzt aber eine heimliche Auseinandersetzung
mit Marx dar. Beide, Marx und Nietzsche, rechnete Spengler
kurioserweise zu "den Jüngern von Malthus
[15]" und er schreibt
in diesem Zusammenhang: "Malthus hatte die Fabrikindustrie
von Lancaster studiert, und man findet das ganze System,
statt auf Tiere auf Menschen angewendet, schon in Buckles
Geschichte der englischen Zivilisation" [16].
Diese etwas ausführlich geratene
philosophiegeschichtliche Entgleisung sollte, neben
der indirekten Bekanntmachung einiger seiner Gedanken,
vor allem einem Ziele dienen: zu zeigen, dass man es
bei Buckle, dem alten englischen Schachmeister, mit
einer überreichen Zentralgestalt der Geschichtswissenschaft
und Philosophie des vorigen Jahrhunderts zu tun hat,
mit einer reichen und vollen Persönlichkeit, der
man weder mit einem so schmalen Büchlein wie dem
Laudis gerecht werden kann noch, wenn man sie auf das
Schachliche beschränkt. Ganz im Gegenteil, verstehen
wird man diesen Menschen nur, wenn man akzeptiert, dass
das Schach für ihn nur eine sekundäre Rolle
spielte. Laudi macht dies durchaus deutlich, auch wenn
er den eben angedeuteten Teil weitestgehend verschweigt,
aber auch damit ist Buckles Gestalt längst noch
nicht umfassend beschrieben. Seine Lebensgeschichte
gibt weiteren Grund zur Bewunderung, denn sie ist so
einmalig, wie der Mensch selbst.
Buckles Leben
1821, als Sohn eines Londoner Reeders
und einer streng calvinistischen Mutter geboren, verlebte
er eine von Krankheit und Spätentwicklung geprägte
Kindheit, die er, so wird berichtet, fast ohne Schulunterricht
verbrachte. Nietzsches Bild vom Vulkan war treffend:
Alles an diesem Menschen geschah eruptiv. Konnte er
als Kind kaum seinen Namen buchstabieren, so gewann
er als Jüngling schon mathematische Wettkämpfe
und galt als Erwachsener als einer der führenden
Bibliophilen Englands mit einer auf 22000 Bände
geschätzten Bibliothek, die er innerhalb von nur
20 Jahren zusammengetragen hatte und mehr noch, er schien,
wie kein Geringerer als Charles Dickens bezeugt, der
Buckles Charakter in seinem gelungensten Werk "Great
Expectations" als Nebenfigur verewigt haben soll
[17], auch alles gelesen
zu haben. Die Initialzündung für diesen steilen
Aufstieg muss wohl der Tod des Vaters gewesen sein;
obwohl der junge Buckle unter dem Verlust litt, so vollzog
sich seine Entwicklung von nun an im Siebenmeilentempo.
Um den Schmerz zu verwinden, beginnt er Europa zu bereisen
und Sprachen zu studieren, und irgendwie schafft er
es, wenig später, sieben Sprachen zu sprechen und
12 weitere fließend lesen zu können. Wie
dies alles vonstatten ging, weiß niemand so recht
zu sagen, Buckle fiel immer erst mit dem außergewöhnlichen
Resultat seiner Bemühungen auf. "Fast nichts
wissen wir über seine Annäherung an das Schach"
(11), nur, dass er in Paris ernsthaft zu spielen begann,
und schon 1843 konnte er es wagen, den großen
Staunton herauszufordern. "Im Jahre 1843 fühlte
er sich stark genug, um seine eigene Reputation zu riskieren;
Buckle hat seine erste und wirkliche Feuertaufe auf
schachlichem Gebiet erhalten, und was für eine
Taufe. Er schlug tatsächlich den großen Staunton"
(11), für den das Jahr `43 den großen Durchbruch
zur unangefochtenen Nr.1 brachte, nachdem er im Rückkampf
St. Amant deutlich (+11-6=4) besiegen konnte.
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Buckle (ca. 1843)
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und "der große
Staunton"
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Zwar spielte Buckle mit Vorgabe eines
Bauern und Anzugsrecht, aber sechs Siege und nur eine
Niederlage waren trotzdem eine Sensation, zumal in London,
wo der Kampf als "Divan" (Buckle) gegen "Westminster"
(Staunton) extra Furore machte. Daraufhin reiste er
nach Deutschland um gegen die aufstrebenden Meister
der "Plejade" zu spielen, "schließlich
sind wir im Jahre 1844; für Buckle bedeuteten diese
4 Jahre nach dem Tod seines Vaters eine wahre intellektuelle
Explosion seiner Fähigkeiten; er studiert, er spielt
ernsthaft und vertieft Schach, liest begeistert die
Bücher, die er anzuhäufen fortsetzte, er beginnt
die Augen zu öffnen und auf die ihn umgebende Umwelt
zu richten. Um diese tiefgreifende Veränderung,
die sein Leben durcheinander bringt, besser beschreiben
zu können, haben wir zu wenig Material. Am Ende
des Berichtes über die zweite Reise schreibt Alfred
Henry Huth, sein Biograph und Freund der letzten Jahre,
lapidar: Er kommt zurück nach Hause als freier
und radikaler Denker" (18). Eine Aussage,
die nichts erklärt und der Phantasie freien Lauf
lässt.
Der Schachspieler
Auch seine Beziehung zum Schach ist von
dieser Unstetigkeit gekennzeichnet. Phasen des exzessiven
wissenschaftlichen Studiums wechseln mit Phasen des
exzessiven Spiels. "Im Jahre 1847 entscheidet Buckle,
dass es der Mühe wert sei, sich beharrlicher dem
Schach zu widmen. Insbesondere im Divan,
wo er seine kämpferischen Talente entwickeln kann"
(24). Schließlich kommt es 1849 zum "Divan
Turnier", dem ersten modernen Schachturnier der
Geschichte, das Buckle gewinnt und dabei nationale Größen
wie Bird, Williams und Boden hinter sich lässt.
Doch litt er unter den noch offenen Zeitregelungen,
insbesondere unter der langsamen Spielweise Williams,
der oft Stunden saß, um einen Zug zustande zu
bringen. "Die Langsamkeit eines Genies ist schwer
zu ertragen, die eines mittelmäßigen Spielers
ist allerdings unerträglich", soll er gesagt
haben (28). So zieht er sich danach wieder vom Schach
zurück und muss 1851 die Schmach erleben, trotzdem
als Nr. 2 nach Staunton gehandelt, nicht zum ersten
internationalen Turnier nach London eingeladen zu werden,
welches überraschenderweise und sehr zum Unmute
Stauntons, der Deutsche Adolf Anderssen gewann. Buckles
spätere Äußerungen zum Turnier mögen
teilweise einer durch Kränkung verursachten Rationalisierung
geschuldet sein, aber die sich dahinter verbergende
Einstellung war Voraussetzung für sein Lebenswerk,
die "Geschichte der Zivilisation". "Es
wird jedenfalls gesagt, dass Buckle nichts unternahm,
um den ihm rechtmäßig zustehenden Platz zu
beanspruchen. Vielmehr erklärte er öffentlich,
dass er das Schach auf hohem Niveau als zu anstrengend
betrachte und es bevorzuge, stattdessen Vorgabepartien
in der bequemen Ruhe des Divan zu spielen.
Die Vorbereitung auf einen solch wichtigen Kampf hätte
ihm außerdem zu viel Zeit, die er für seine
Studien bräuchte, geraubt. England verlor so den
einzigen Meister, der, zusammen mit Staunton, dem späteren
Sieger Anderssen hätte Paroli bieten können"
(33).
Laudi macht in einem interessanten Exkurs
noch eine zweite Begründung geltend, die auf einer
politischen Einschätzung beruht. "Der Erfolg
eines Deutschen verletzte nicht nur den Stolz Stauntons,
sondern der gesamten englischen Schachwelt, auch mit
politischen Konnotationen. England durchlebte einen
Moment großer Expansion. Es begann sich der endgültige
Umriss seines kolonialen Imperiums abzuzeichnen. Aber
auch Deutschland war im Begriff zu einer starken kontinentalen
Macht aufzusteigen. Und das Schach fand sich verwickelt
in diese anwachsende anglo-deutsche Rivalität,
so wie es zuvor in den politisch-militärischen
Konflikt zwischen Frankreich und England verwickelt
war" (35). So gesehen, kann man insbesondere im
Zweikampf zwischen Staunton und Anderssen, mehr als
hundertzwanzig Jahre vor dem legendären WM-Kampf
(Spassky – Fischer), den ersten Kampf der politischen
Systeme ausmachen. Allerdings scheint Buckles kultureller
Horizont zu weit gewesen zu sein, um sich einer solch
plakativen Einschätzung anzuschließen: "Man
kann beim besten Willen nicht glauben, dass sich Buckle
derartigen Argumenten nationalistischen Charakters angeschlossen
hätte; sicher ist, dass seine Erscheinung als Studierender
außerhalb der offiziellen Kultur,
dass sein unabhängiger neugieriger und kosmopolitischer
Geist, zum Großteil ausgebildet während seiner
Reisen nach Europa, auch die Tatsache, dass er das Schach
als ein Spiel mit tiefen intellektuellen Implikationen
betrachtete
", dieser Einschätzung deutlich
widerspricht. "Es ist eher wahrscheinlich, dass
das große Zusammentreffen der Nationen, um sich
auf intellektueller Ebene zu messen und zu herrschen
Buckle eher gleichgültig gelassen habe"
(35f.).
Vom professionellen Schach hielt er nicht
viel und auch wenn er sich in seiner prophetischen Einschätzung
irrte, so ist sie doch wert, zitiert und bedacht zu
werden und es gibt gute Gründe, das prophetische
Versagen zu bedauern. "Das Schach war noch nie
und, solange die Gesellschaft existieren wird, wird
auch nie eine Profession sein. Es kann sehr dazu beitragen,
den Geist eines Menschen zu stärken, der einem
Beruf nachgeht, aber es wird nie der Gegenstand seines
Lebens sein." (39).
Buckles Lebenswerk
Von nun an gilt seine Aufmerksamkeit
dem Riesenprojekt der "Geschichte der Zivilisation",
die nicht nur durch ihre enorme Wissensfülle beeindruckt,
sondern vor allem einen bislang neuen geschichtsphilosophischen
Weg geht, den, die Geschichte nach inneren Gesetzmäßigkeiten
abzusuchen. Der erste Band erschien 1857, zwei Jahre
darauf verstirbt Buckles Mutter, was ihn erneut dazu
bewegt, auf Reisen den Schmerz zu verwinden. Doch dienten
diese späten Reisen auch dem Bildungszweck, Laudi
geht sogar so weit, ihn als einen ersten Vertreter der
Touristenklasse zu betrachten: "Buckle ist einer
der ersten unter den zahlreichen Engländern aus
gutbürgerlichen Kreisen, die sich Ende des 19.
Jahrhunderts ein bisschen überall verstreut finden,
in Italien, in Frankreich, in Indien oder Lateinamerika,
wo sie sich für Malerei und Bildhauerei interessieren,
für Archäologie, in einem Wort nicht nur zu
Studienzwecken unterwegs sind, sondern auch als Touristen"
(48). Fakt ist, dass er diese Reisen dazu nutzte, um
seine historischen Kenntnisse zu erweitern, aber sie
werden ihm auch zum Verhängnis, denn 1862 erkrankt
er an einem Typhus-Fieber, an dem er am 29. Mai selben
Jahres in Damaskus stirbt.
Buckle zur Erscheinungszeit seines
Lebenswerkes
Weder als Schachspieler noch als Historiker
ist er heute einer breiten Öffentlichkeit bekannt,
wiewohl er auf beiden Gebieten Herausragendes leistete.
Man kann dies nur übersehen, wenn man den alten
Fehler begeht, Leistung an ihrer Leistungsfähigkeit
zu messen und diese wiederum vom jeweiligen Zeitbezug
abkoppelt. Und dass ein überdurchschnittlich begabter
Mensch sich den vorgezeichneten Bahnen einer akademischen
Karriere ebenso widersetzt wie der eines professionellen
Schachspielers, macht ihn in unseren Augen nur interessanter.
Insofern ist Laudis Einschätzung unbedingt positiv
zu verstehen: "Die Tatsache, dass sein Name verkannt
ist, kann man in erster Linie seiner freien Wahl, ausgerechnet
in einer Epoche, in der der Professionalismus stark
seinen ersten Einzug in die Schachwelt hielt, nicht
Schachprofi zu werden, zurechnen. Im Gegenteil, Buckle
verkörpert auf ausgezeichnete Weise den Prototyp
des Dilettanten, so überreich an herausragenden
natürlichen Begabungen, wie störrisch in der
Entscheidung, das Schach nicht zu seinem Lebensinhalt
zu machen" (7f.).
(Venanzio Laudi: Buckle: ritratto inedito
di un dilettante. Brescia 1994)
Anhang: einige Webseiten, Leben und Werk
Buckles gewidmet:
http://195.12.26.123/economics/buckle.htm
http://www.perceptions.couk.com/Buckle.html
http://www.dailyobjectivist.com/Heroes/HenryThomasBuckle.asp
http://www.unifi.it/riviste/cromohs/2_97/hinde.html
http://www.astercity.net/~vistula/buckle.htm
http://www.chesscafe.com/text/buckle1.txt
--- Jörg Seidel, 20.11.2002 ---
[1]
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven
Logik. Braunschweig1868, S. 558 und 560
[2] Marx Engels Werke (MEW)
Bd. 30, S. 249
[3] MEW 33, S. 275
[4] MEW 33, S. 283
[5] vgl. Michail Jowtschuk/Irina
Kurbatowa: Georgi Plechanow. Eine Biographie. Berlin
1983; S. 16
[6] vgl. etwa Plechanow:
Grundprobleme des Marxismus. Berlin 1958, S. 53
[7] Fjodor M. Dostojewski:
Werke in zehn Bänden. Bd. 10 , Frankfurt 1992,
S. 455
[8] Friedrich Albert Lange:
Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung
in der Gegenwart (1866). Frankfurt . 1974, S. 280
[9] ebd. S. 846
[10] Nachgelassene Fragmente.
Kritische Studienausgabe (KSA). Bd. 13, S. 189
[11] ebd. S. 497f.
[12] Sämtliche Briefe.
Bd. 8., S. 79
[13] KSA 5 (Zur Genealogie
der Moral), S. 262
[14] KSA 6, S. 145
[15] Malthus war ein englischer
Nationalökonom, der eine naive Bevölkerungswachstumsidee
vertrat und eine sich daraus entwickelnde Pauperisierung
prophezeite; beides wurde sowohl von Marx als auch von
Nietzsche scharf kritisiert. Aus heutiger Sicht könnte
man Malthus als eine Art Vorreiter der ökologischen
Bewegung betrachten.
[16] Der Untergang des
Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.
(1922) Frankfurt 1992 S. 477
[17] Laudi. Seite 41 -
Leider verschweigt Laudi, um welche dickenssche Figur
es sich dabei handeln soll; bei meiner Lektüre
ist mir keine bewusst geworden, die sich klar auf Buckle
bezöge.
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Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
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