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LITERATUR
20. November 2002

Schachbotschafter II:
Henry Thomas Buckle -
unvollendetes Porträt eines Dilettanten

[…]

Anders liegt der Fall beim zweiten Bändchen der Reihe. Schon die ersten Zeilen machen deutlich, dass der Historiker Venanzio Laudi, ebenfalls aus Turin, ein begnadeterer Autor ist, jemand, der einen elegischen Stil überzeugend schreiben kann und der ist seinem Gegenstand kongenial angepasst: Henry Thomas Buckle. In Schachkreisen wird die Nennung dieses Namens voraussichtlich auf vergleichsweise geringe wiedererkennende Resonanz stoßen, Buckle ist ein weitgehend Unbekannter und das, obwohl er eine wahrlich schillernde Figur gewesen ist. Dies alles, die Vielfältigkeit und die relative Neuheit des Gegenstandes erleichtern es Laudi, zumal es ihm gelingt, den Leser mit wenigen Worten in eine atmosphärisch fremde, vergangene Welt zu entführen, die man nicht mehr verklären muss, denn sie mutet den Heutigen zwangsläufig fast märchenhaft an. Es ist die Welt der alten Clubs und Schachcafès, von denen es allein in London drei wirklich bedeutende gab: den London Chess Club in "Tom’s Coffee House", den Westminster Chess Club in "Huttmans Coffee House" und schließlich den St. Georges Club, der im "Simpson’s Cigar Divan", kurz "Divan" oder "Simpsons", logierte; in allen dreien war Englands Schachlegende Howard Staunton nacheinander Mitglied. Es ist auch die verrückte Zeit, in der führende Schachspieler noch Parlamentsmitglied sein konnten, wie Marmaduk Wyvill, Anderssens Finalgegner in London ´51, als führende Schachgrößen noch kritische Shakespeareausgaben herausgeben wollten, wie Staunton höchstpersönlich, oder als sie, wie eben dieser Buckle, bahnbrechende Geschichtswerke verfassten. Seine "History of Civilization in England" von 1857, der zuerst unsere Aufmerksamkeit gelten soll, denn sie stellt den Lebensmittelpunkt des Meisters dar, war lange Zeit ein vieldiskutiertes und lebhaft umstrittenes Grundlagenwerk, an dem eine ernsthafte Forschung nicht vorbei konnte.

"Simpson’s Cigar Divan", kurz "Divan" oder "Simpsons" genannt

 

Die Rezeption Buckles: Mill, Marx, Nietzsche u.a.

 

So wurde es von den bedeutendsten Denkern und Künstlern gelesen und diskutiert.

John Stuart Mill, Gründervater des Utilitarismus und Positivismus, einer der wichtigsten modernen Philosophen und Nationalökonomen, von dessen Denkart Buckles Geschichte wesentlich beeinflusst war, hielt es umgekehrt für das entscheidende Werk, welches den neuen Standpunkt, dass "der Gang der Geschichte allgemeinen Gesetzen unterworfen" sei, verbreitete und allgemeinverständlich darlegte, ihn somit in den Wissenschaftsdiskurs einführte, ihn "in einer höchst klaren und erfolgreichen Weise ans Licht gebracht hat" [1]. Buckle vertrat in seinem umfänglichen Werk einen wesentlich materialistischen Standpunkt, es wundert also nicht, dass vor allem materialistische Denker oder deren erklärte Widersacher sich mit dem Opus beschäftigten und die namhafte Liste ist lang.

Karl Marx etwa informierte in seiner typisch lakonischen, fast zynischen Art, verbunden mit einem Seitenhieb auf den ehemaligen Jugendfreund und Übersetzer Buckles, Arnold Ruge, in einem Brief an Engels vom 18. Juni 1862 über das Ableben des Historikers: "Buckle hat dem Ruge den Streich gespielt zu sterben … poor Buckle" [2] und Engels selbst, schon bestrebt die internationale revolutionäre Bewegung zu koordinieren, bemühte sich neun Jahre später, die "Hist. of Civilization wenigstens für 10 sh. zu bekommen" [3], um sie dem russischen Revolutionär Lawrow zukommen zu lassen, verzichtete aber später darauf, weil: "Buckle – 3 Bände – kostet in der billigsten Ausgabe 24 sh. Und da ich nicht daran zweifle, dass sie dieses Werk in Paris finden können, habe ich es nicht geschickt" [4].

Auch Georgi Plechanow, bedeutender marxistischer Geschichtsphilosoph und späterer Parteigegner Lenins - beide übrigens begeisterte Schachspieler - setzte sich nachweislich schon während der Studienzeit mit Buckle auseinander [5], ging in seinen späteren Werken aber schon auffällig auf Distanz [6].

Dass Buckles Werk vor allem in Russland breite Diskussion fand, zeigt neben Lawrows und Plechanows Interesse auch Dostojewski, der in seinen "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" folgende Überlegung anstellt: "Denn diese Theorie der Erneuerung der ganzen Menschheit mittels des Systems der eigenen Vorteile bejahen, das ist doch, scheint mir, fast dasselbe, wie … nun, wie zum Beispiel nach Buckle behaupten, der Mensch werde durch die Kultur milder, folglich weniger blutdürstig und immer unfähiger zum Kriege" [7].

"Buckle hat die interessante Bemerkung gemacht", schrieb F. A. Lange in seinem geschichtsphilosophischen Kompendium, "dass die Revolutionszeit, und namentlich die mächtigen politischen und sozialen Stürme der ersten Revolution in England einen großen und durchgreifenden Einfluss auf die Gesinnung der Schriftsteller geübt haben, namentlich durch Erschütterung der Autoritäten und Weckung des skeptischen Geistes" [8], und bezieht sich verschiedentlich, wenn auch aus kritischer Distanz auf Buckle und dessen "geistvolle Studien" [9].

Selbst Nietzsche, Spengler und Dilthey schließlich, vor vollkommen diversen Hintergründen und um die exemplarische Reihe allerbedeutendster Denker abzuschließen, kamen an Buckles Werk nicht vorbei. Freilich ändert sich das Urteil radikal, was zumindest bei Nietzsche niemanden verwundern kann: "Autoren, an denen heute noch Wohlgefallen zu haben", schreibt er um die Jahreswende 1887/88 in sein Tagebuch und fabriziert eine illustre Reihe, der anzugehören, bei aller Kritik, keine Schande sein kann, "Autoren, an denen heute noch Wohlgefallen zu haben, ein für alle mal compromittiert: Rousseau, Schiller, George Sand, Michelet, Buckle, Carlyle" [10] und im darauffolgenden Sommer diese allgemein interessante Äußerung: "Bis zu welchem Grade die Unfähigkeit eines pöbelhaften Agitators der Menge geht, sich dem Begriff der ‚höheren Natur’ klar zu machen, dafür giebt Buckle das beste Beispiel ab. Die Meinung, welche er so leidenschaftlich bekämpft - dass ‚große Männer’, Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn die Hebel und Ursachen aller großen Bewegung sind - wird von ihm instinktiv dahin mißverstanden, als ob mit ihr behauptet würde, das Wesentliche und Werthvolle an einem solchen ‚höheren Menschen’ liege eben in der Fähigkeit, Massen in Bewegung zu setzen, kurz in ihrer Wirkung … Aber die ‚höhere Natur’ des großen Mannes liegt im Anderssein, in der Unmittheilbarkeit, in der Rangdistanz – nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschüttere" [11]. Dabei lässt sich Nietzsches Buckle–Erlebnis chronologisch sehr gut nachvollziehen, erst wenige Wochen zuvor nämlich kam ihm das Werk zu Gesicht. In einem Brief an Peter Gast vom Mai 1887 schreibt er: "Die Bibliothek in Chur, ca. 20000 Bände, giebt mir dies und jenes, das mich belehrt. Zum erstenmal sah ich das vielberühmte Buch von Buckle ‚Geschichte der Civilisation in England’ – und sonderbar!", so wird ihm klar, "es ergab sich, dass Buckle einer meiner stärksten Antagonisten ist" [12]. Eingang in Nietzsches veröffentlichtes Werk fand Buckle zwei Mal und beide Male hält er es nicht für notwendig, die Kritik sachlich zu vertiefen und beide Male verbindet er sie mit seinen anti-englischen Ressentiments: "Welchen Unfug aber dieses Vorurteil, einmal bis zum Haß entzügelt, insonderheit für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der berüchtigte Fall Buckles; der Plebejismus des modernen Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben" [13]. Und in der "Götzendämmerung": "Dem Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit dem Genie und »großen Manne« abzufinden: entweder demokratisch in der Art Buckles oder religiös in der Art Carlyles" [14].

Spenglers "Untergang des Abendlandes" ist vor allem, wie er einleitend bekennt, Goethe und Nietzsche geschuldet, stellt nicht zuletzt aber eine heimliche Auseinandersetzung mit Marx dar. Beide, Marx und Nietzsche, rechnete Spengler kurioserweise zu "den Jüngern von Malthus [15]" und er schreibt in diesem Zusammenhang: "Malthus hatte die Fabrikindustrie von Lancaster studiert, und man findet das ganze System, statt auf Tiere auf Menschen angewendet, schon in Buckles Geschichte der englischen Zivilisation" [16].

 

Diese etwas ausführlich geratene philosophiegeschichtliche Entgleisung sollte, neben der indirekten Bekanntmachung einiger seiner Gedanken, vor allem einem Ziele dienen: zu zeigen, dass man es bei Buckle, dem alten englischen Schachmeister, mit einer überreichen Zentralgestalt der Geschichtswissenschaft und Philosophie des vorigen Jahrhunderts zu tun hat, mit einer reichen und vollen Persönlichkeit, der man weder mit einem so schmalen Büchlein wie dem Laudis gerecht werden kann noch, wenn man sie auf das Schachliche beschränkt. Ganz im Gegenteil, verstehen wird man diesen Menschen nur, wenn man akzeptiert, dass das Schach für ihn nur eine sekundäre Rolle spielte. Laudi macht dies durchaus deutlich, auch wenn er den eben angedeuteten Teil weitestgehend verschweigt, aber auch damit ist Buckles Gestalt längst noch nicht umfassend beschrieben. Seine Lebensgeschichte gibt weiteren Grund zur Bewunderung, denn sie ist so einmalig, wie der Mensch selbst.

 

Buckles Leben

 

1821, als Sohn eines Londoner Reeders und einer streng calvinistischen Mutter geboren, verlebte er eine von Krankheit und Spätentwicklung geprägte Kindheit, die er, so wird berichtet, fast ohne Schulunterricht verbrachte. Nietzsches Bild vom Vulkan war treffend: Alles an diesem Menschen geschah eruptiv. Konnte er als Kind kaum seinen Namen buchstabieren, so gewann er als Jüngling schon mathematische Wettkämpfe und galt als Erwachsener als einer der führenden Bibliophilen Englands mit einer auf 22000 Bände geschätzten Bibliothek, die er innerhalb von nur 20 Jahren zusammengetragen hatte und mehr noch, er schien, wie kein Geringerer als Charles Dickens bezeugt, der Buckles Charakter in seinem gelungensten Werk "Great Expectations" als Nebenfigur verewigt haben soll [17], auch alles gelesen zu haben. Die Initialzündung für diesen steilen Aufstieg muss wohl der Tod des Vaters gewesen sein; obwohl der junge Buckle unter dem Verlust litt, so vollzog sich seine Entwicklung von nun an im Siebenmeilentempo. Um den Schmerz zu verwinden, beginnt er Europa zu bereisen und Sprachen zu studieren, und irgendwie schafft er es, wenig später, sieben Sprachen zu sprechen und 12 weitere fließend lesen zu können. Wie dies alles vonstatten ging, weiß niemand so recht zu sagen, Buckle fiel immer erst mit dem außergewöhnlichen Resultat seiner Bemühungen auf. "Fast nichts wissen wir über seine Annäherung an das Schach" (11), nur, dass er in Paris ernsthaft zu spielen begann, und schon 1843 konnte er es wagen, den großen Staunton herauszufordern. "Im Jahre 1843 fühlte er sich stark genug, um seine eigene Reputation zu riskieren; Buckle hat seine erste und wirkliche Feuertaufe auf schachlichem Gebiet erhalten, und was für eine Taufe. Er schlug tatsächlich den großen Staunton" (11), für den das Jahr `43 den großen Durchbruch zur unangefochtenen Nr.1 brachte, nachdem er im Rückkampf St. Amant deutlich (+11-6=4) besiegen konnte.

 

Buckle (ca. 1843)
und "der große Staunton"

 

 

Zwar spielte Buckle mit Vorgabe eines Bauern und Anzugsrecht, aber sechs Siege und nur eine Niederlage waren trotzdem eine Sensation, zumal in London, wo der Kampf als "Divan" (Buckle) gegen "Westminster" (Staunton) extra Furore machte. Daraufhin reiste er nach Deutschland um gegen die aufstrebenden Meister der "Plejade" zu spielen, "schließlich sind wir im Jahre 1844; für Buckle bedeuteten diese 4 Jahre nach dem Tod seines Vaters eine wahre intellektuelle Explosion seiner Fähigkeiten; er studiert, er spielt ernsthaft und vertieft Schach, liest begeistert die Bücher, die er anzuhäufen fortsetzte, er beginnt die Augen zu öffnen und auf die ihn umgebende Umwelt zu richten. Um diese tiefgreifende Veränderung, die sein Leben durcheinander bringt, besser beschreiben zu können, haben wir zu wenig Material. Am Ende des Berichtes über die zweite Reise schreibt Alfred Henry Huth, sein Biograph und Freund der letzten Jahre, lapidar: ‚Er kommt zurück nach Hause als freier und radikaler Denker’" (18). Eine Aussage, die nichts erklärt und der Phantasie freien Lauf lässt.

 

Der Schachspieler

 

Auch seine Beziehung zum Schach ist von dieser Unstetigkeit gekennzeichnet. Phasen des exzessiven wissenschaftlichen Studiums wechseln mit Phasen des exzessiven Spiels. "Im Jahre 1847 entscheidet Buckle, dass es der Mühe wert sei, sich beharrlicher dem Schach zu widmen. Insbesondere im ‚Divan’, wo er seine kämpferischen Talente entwickeln kann" (24). Schließlich kommt es 1849 zum "Divan Turnier", dem ersten modernen Schachturnier der Geschichte, das Buckle gewinnt und dabei nationale Größen wie Bird, Williams und Boden hinter sich lässt. Doch litt er unter den noch offenen Zeitregelungen, insbesondere unter der langsamen Spielweise Williams, der oft Stunden saß, um einen Zug zustande zu bringen. "Die Langsamkeit eines Genies ist schwer zu ertragen, die eines mittelmäßigen Spielers ist allerdings unerträglich", soll er gesagt haben (28). So zieht er sich danach wieder vom Schach zurück und muss 1851 die Schmach erleben, trotzdem als Nr. 2 nach Staunton gehandelt, nicht zum ersten internationalen Turnier nach London eingeladen zu werden, welches überraschenderweise und sehr zum Unmute Stauntons, der Deutsche Adolf Anderssen gewann. Buckles spätere Äußerungen zum Turnier mögen teilweise einer durch Kränkung verursachten Rationalisierung geschuldet sein, aber die sich dahinter verbergende Einstellung war Voraussetzung für sein Lebenswerk, die "Geschichte der Zivilisation". "Es wird jedenfalls gesagt, dass Buckle nichts unternahm, um den ihm rechtmäßig zustehenden Platz zu beanspruchen. Vielmehr erklärte er öffentlich, dass er das Schach auf hohem Niveau als zu anstrengend betrachte und es bevorzuge, stattdessen Vorgabepartien in der bequemen Ruhe des ‚Divan’ zu spielen. Die Vorbereitung auf einen solch wichtigen Kampf hätte ihm außerdem zu viel Zeit, die er für seine Studien bräuchte, geraubt. England verlor so den einzigen Meister, der, zusammen mit Staunton, dem späteren Sieger Anderssen hätte Paroli bieten können" (33).

 

Laudi macht in einem interessanten Exkurs noch eine zweite Begründung geltend, die auf einer politischen Einschätzung beruht. "Der Erfolg eines Deutschen verletzte nicht nur den Stolz Stauntons, sondern der gesamten englischen Schachwelt, auch mit politischen Konnotationen. England durchlebte einen Moment großer Expansion. Es begann sich der endgültige Umriss seines kolonialen Imperiums abzuzeichnen. Aber auch Deutschland war im Begriff zu einer starken kontinentalen Macht aufzusteigen. Und das Schach fand sich verwickelt in diese anwachsende anglo-deutsche Rivalität, so wie es zuvor in den politisch-militärischen Konflikt zwischen Frankreich und England verwickelt war" (35). So gesehen, kann man insbesondere im Zweikampf zwischen Staunton und Anderssen, mehr als hundertzwanzig Jahre vor dem legendären WM-Kampf (Spassky – Fischer), den ersten Kampf der politischen Systeme ausmachen. Allerdings scheint Buckles kultureller Horizont zu weit gewesen zu sein, um sich einer solch plakativen Einschätzung anzuschließen: "Man kann beim besten Willen nicht glauben, dass sich Buckle derartigen Argumenten nationalistischen Charakters angeschlossen hätte; sicher ist, dass seine Erscheinung als Studierender außerhalb der ‚offiziellen’ Kultur, dass sein unabhängiger neugieriger und kosmopolitischer Geist, zum Großteil ausgebildet während seiner Reisen nach Europa, auch die Tatsache, dass er das Schach als ein Spiel mit tiefen intellektuellen Implikationen betrachtete…", dieser Einschätzung deutlich widerspricht. "Es ist eher wahrscheinlich, dass das große Zusammentreffen der Nationen, um sich auf intellektueller Ebene zu messen und zu herrschen … Buckle eher gleichgültig gelassen habe" (35f.).

Vom professionellen Schach hielt er nicht viel und auch wenn er sich in seiner prophetischen Einschätzung irrte, so ist sie doch wert, zitiert und bedacht zu werden und es gibt gute Gründe, das prophetische Versagen zu bedauern. "Das Schach war noch nie und, solange die Gesellschaft existieren wird, wird auch nie eine Profession sein. Es kann sehr dazu beitragen, den Geist eines Menschen zu stärken, der einem Beruf nachgeht, aber es wird nie der Gegenstand seines Lebens sein." (39).

 

Buckles Lebenswerk

 

Von nun an gilt seine Aufmerksamkeit dem Riesenprojekt der "Geschichte der Zivilisation", die nicht nur durch ihre enorme Wissensfülle beeindruckt, sondern vor allem einen bislang neuen geschichtsphilosophischen Weg geht, den, die Geschichte nach inneren Gesetzmäßigkeiten abzusuchen. Der erste Band erschien 1857, zwei Jahre darauf verstirbt Buckles Mutter, was ihn erneut dazu bewegt, auf Reisen den Schmerz zu verwinden. Doch dienten diese späten Reisen auch dem Bildungszweck, Laudi geht sogar so weit, ihn als einen ersten Vertreter der Touristenklasse zu betrachten: "Buckle ist einer der ersten unter den zahlreichen Engländern aus gutbürgerlichen Kreisen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts ein bisschen überall verstreut finden, in Italien, in Frankreich, in Indien oder Lateinamerika, wo sie sich für Malerei und Bildhauerei interessieren, für Archäologie, in einem Wort nicht nur zu Studienzwecken unterwegs sind, sondern auch als Touristen" (48). Fakt ist, dass er diese Reisen dazu nutzte, um seine historischen Kenntnisse zu erweitern, aber sie werden ihm auch zum Verhängnis, denn 1862 erkrankt er an einem Typhus-Fieber, an dem er am 29. Mai selben Jahres in Damaskus stirbt.

Buckle zur Erscheinungszeit seines Lebenswerkes

Weder als Schachspieler noch als Historiker ist er heute einer breiten Öffentlichkeit bekannt, wiewohl er auf beiden Gebieten Herausragendes leistete. Man kann dies nur übersehen, wenn man den alten Fehler begeht, Leistung an ihrer Leistungsfähigkeit zu messen und diese wiederum vom jeweiligen Zeitbezug abkoppelt. Und dass ein überdurchschnittlich begabter Mensch sich den vorgezeichneten Bahnen einer akademischen Karriere ebenso widersetzt wie der eines professionellen Schachspielers, macht ihn in unseren Augen nur interessanter. Insofern ist Laudis Einschätzung unbedingt positiv zu verstehen: "Die Tatsache, dass sein Name verkannt ist, kann man in erster Linie seiner freien Wahl, ausgerechnet in einer Epoche, in der der Professionalismus stark seinen ersten Einzug in die Schachwelt hielt, nicht Schachprofi zu werden, zurechnen. Im Gegenteil, Buckle verkörpert auf ausgezeichnete Weise den Prototyp des Dilettanten, so überreich an herausragenden natürlichen Begabungen, wie störrisch in der Entscheidung, das Schach nicht zu seinem Lebensinhalt zu machen" (7f.).

(Venanzio Laudi: Buckle: ritratto inedito di un dilettante. Brescia 1994)

 

Anhang: einige Webseiten, Leben und Werk Buckles gewidmet:

http://195.12.26.123/economics/buckle.htm
http://www.perceptions.couk.com/Buckle.html
http://www.dailyobjectivist.com/Heroes/HenryThomasBuckle.asp
http://www.unifi.it/riviste/cromohs/2_97/hinde.html
http://www.astercity.net/~vistula/buckle.htm
http://www.chesscafe.com/text/buckle1.txt

 

--- Jörg Seidel, 20.11.2002 ---


[1] John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Braunschweig1868, S. 558 und 560
[2] Marx Engels Werke (MEW) Bd. 30, S. 249
[3] MEW 33, S. 275
[4] MEW 33, S. 283
[5] vgl. Michail Jowtschuk/Irina Kurbatowa: Georgi Plechanow. Eine Biographie. Berlin 1983; S. 16
[6] vgl. etwa Plechanow: Grundprobleme des Marxismus. Berlin 1958, S. 53
[7] Fjodor M. Dostojewski: Werke in zehn Bänden. Bd. 10 , Frankfurt 1992, S. 455
[8] Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866). Frankfurt . 1974, S. 280
[9] ebd. S. 846
[10] Nachgelassene Fragmente. Kritische Studienausgabe (KSA). Bd. 13, S. 189
[11] ebd. S. 497f.
[12] Sämtliche Briefe. Bd. 8., S. 79
[13] KSA 5 (Zur Genealogie der Moral), S. 262
[14] KSA 6, S. 145
[15] Malthus war ein englischer Nationalökonom, der eine naive Bevölkerungswachstumsidee vertrat und eine sich daraus entwickelnde Pauperisierung prophezeite; beides wurde sowohl von Marx als auch von Nietzsche scharf kritisiert. Aus heutiger Sicht könnte man Malthus als eine Art Vorreiter der ökologischen Bewegung betrachten.
[16] Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. (1922) Frankfurt 1992 S. 477
[17] Laudi. Seite 41 - Leider verschweigt Laudi, um welche dickenssche Figur es sich dabei handeln soll; bei meiner Lektüre ist mir keine bewusst geworden, die sich klar auf Buckle bezöge.


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