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Fischer, Byrne und
ewiges Remis
- der neue Roman von Roberto Cotroneo
Anche quella
era una storia di specchi e di legami, e di riflessi.
Gli scacchi sono
una specie di romanzo dove una persona puņ far credere
di essere qualcosa d'altro.
Roberto Cotroneo
"Für einen unermesslichen Augenblick,
habe ich meinen Namen vergessen. Ich stieg die Stufen
hinab, eine nach der anderen, die Stufen der Treppe,
wohl wissend, dass ich niemandem etwas zu sagen hatte,
und dass ich keinen Ort hatte hinzugehen, und keinen
von dem ich zurückkehre" (13).
(Per un attimo immenso ho dimenticato
il mio nome. Scendevo i gradini a uno a uno, i gradini
delle scale
, sapendo bene che non avevo parole
da dire a nessuno, e che non avevo nessun posto dove
andare, nessun luogo da cui ripartire.)
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Diesen ominösen Augenblick, diesen
melancholischen Abstieg, füllt der Ich-Erzähler
Luis – obwohl er vorgibt, nichts zu sagen zu haben
– mit einem Buch, mit einem fragmentarisch erzählten
Leben oder – was das selbe ist und sich nachfolgend
erklärt – mit Nichts, er lässt ihn in
Tempestad, einem Ort, "den keine geografische Karte
verzeichnet", beginnen und enden. Es ist der Ort
seiner Kindheit, wo sich die Fragen, auch die Frage,
auftun und (keine – aber das ist sie schon) Antwort
erhalten. Tempestad [1]
kann man nur in der Erinnerung erreichen. Alle seine
Einwohner spielen Geige und Schach, alle leben davon,
aus einem seltenen Holz nach Zimt duftende Schachfiguren
zu fertigen.
"Aber niemand in Tempestad gewann
und niemand verlor" (15).
Luis muss diesen Ort frühzeitig
verlassen, er tritt ins gewöhnliche Leben ein,
wird Violinist mit unentdecktem Talent. Es ist die geheimnisvolle
Chiara, die ihn in einem Caféorchester entdeckt
und ihn aufnimmt ins auserlesene Quartett, das sich
vornimmt, Beethovens "Grande Fuga" [2]
– eine nahezu unspielbare Musik – aufzuführen.
Vier eigensinnige Charaktere vereinen sich da, jeder
spiegelt sich im andern und bleibt doch in seiner autistischen
Welt. Nur ein einziges Mal gelingt es ihnen, das Stück
zu spielen, ohne Zuhörer, danach zerbricht die
Gruppe und Luis flieht mit vielen offenen Fragen auf
das Kreuzfahrtschiff "Scirocco". Dort lernt
er Donald Byrne kennen. Aber auch Byrne ist ein Getriebener,
einer, der die entscheidende Niederlage seines Lebens
nicht verwinden kann, die Niederlage gegen Bobby Fischer.
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Byrne - Fischer; New York 1956.
Spätestens mit dieser Partie, die um die Welt ging,
machte sich Fischer einen Namen. Mit seinem letzten
Zug 17
Le6 opfert er die Dame (18.Lxb6) zugunsten
eines unwiderstehlichen Mattangriffs.
"Bobby Fischer war gerade mal 13
Jahre alt, als er gegen ihn gewann. In einer unbotmäßigen
(fuori luogo) Partie, wie Byrne ständig wiederholte.
Unbotmäßig, weil Bobby auf unvorhersehbare
Art und Weise spielte: Keine Regel hätte das Damenopfer
gerechtfertigt. Donald sagte, dass er das Schachspielen
seit diesem Tage aufgegeben habe" (28).
Jahre danach zieht sich Byrne auf die
"Scirocco zurück, ohne je wieder Land
unter den Füssen zu haben, um immer und immer wieder
diese eine schicksalhafte Partie zu spielen, zu durchdenken,
über sie zu sprechen oder aber am Computer gegen
einen anonymen Gegner mit den Initialen BF zu spielen
und stets zu verlieren. Und ohne Unterlass die alte
und neue Frage:
"Kann man gewinnen, wenn man eine
Figur wie die Dame opfert?"
Dabei gelangt der gealterte Meister bei
seinen Selbstzerfleischungen zu seltsamen Gedanken.
Schließlich sieht Luis den Meister vorm Spiegel
Schach gegen sich selber spielen.
"Der Spiegel verkehrt (capovolge
[3]) das Spiel. So wie
dieses Schiff die Welt verkehrt" (83).
"Wenn du eine Schachpartie im
Spiegel beobachtest, dann verstehst du die tiefe Bedeutung
dieses Spiels. Alles ist umgekehrt (inverto). Es ist,
als ob man die Welt mithilfe einer verkehrten Logik
betrachtet. Nein, der Spiegel ist eine Art, mit den
Figuren einen Dialog zu führen. Selbst sie wissen
es. Selbst sie spiegeln sich (89).
"Byrne, sagte ich
zu ihm verwundert, aber Sie spielen doch gegen
sich selbst.
Diesmal drehte er sich um: Nein, ich spiele
gegen einen Schatten (ombra). Aber Du, Luis, bist
kein guter Beobachter.
Warum?, fragte ich.
Schau genau hin, erscheint Dir das wie die gleiche
Partie? Der Springer auf c3 wird im Spiegel dort ein
Springer auf f6; verstehst Du, was das heißt?
Er ist verkehrt (capovolto).
Ja, fügte Byrne hinzu. Nur
dass das Schach ein symmetrisches Spiel ist. Die Türme,
die Springer und die Läufer haben eine symmetrische
Position. Nur die Königin und der König
durchbrechen die Symmetrie. Der Springer, den Du jetzt
im Spiegel siehst, ist nicht einfach derselbe Springer
nur gespiegelt (capovolto), es ist der andere Springer.
Wenn ich es Dir in der Schachsprache sagen müsste,
dann ist es der Springer auf f, nicht der auf c, verstehst
Du? Noch nicht mal die Hand ist dieselbe. Die, die
sich im Spiegel bewegt, ist die linke, während
ich die Figuren doch mit der rechten verrücke.
Was bedeutete das? Es bedeutete vor allem, dass Byrne
ein gespiegeltes Selbst spielte (giocava un se stesso
capovolto): und dass die Spiegel sich im Schach
nicht wie zu den anderen Gegenständen verhalten.
Sie verleihen ihnen einen Wert (valore). Es ist nicht
mehr dieselbe Figur, Luis, es ist eine andere Figur.
Die Figuren erhalten eine andere Bedeutung
und wechseln die Identität. Während in allen
andern Fällen es den Spiegeln lediglich gelingt,
die Position der Gegenstände zu verändern"
(90).
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Byrne - Fischer: Schwarz am Zug setzt
in 7 Zügen Matt
Vater dieser "bahnbrechenden"
Gedanken ist ein gewisser Milo Temesvar, mysteriöser
albanischer Schachmeister, in einem unauffindbaren Buch
"Über den Gebrauch der Spiegel im Schachspiel".
Später erfährt Luis, dass Byrne
einst auf der Suche nach diesem Temesvar war und dass
er ihn fand. Wo? In Tempestad natürlich. Und wer
ist das? Luis Vater! Und wer ist der namenlose Gegenspieler
am Computer? Bobby Fischer oder Temesvar? Am Ende wird
es Byrne gelingen, ihm ein einziges Mal ein Remis abzuringen.
"Er sagte nur: "Ein Unentschieden,
die Ausgeglichenheit eines Unentschieden
Eine
vollkommene Partie" (233).
Danach verlässt er Schiff und Schach.
Für Luis hingegen wird diese Reise
eine in die eigene Vergangenheit – er findet in
sich Mutter und Vater wieder -, das eigene Innere; der
Rückzug wird zur Flucht ins Unergründliche
des "Ich". Des eigenen und des der anderen.
Seine unaufgelöste Vergangenheit heißt Tempestad,
wo alle Schach spielen.
"Nur, dass man die Partien in Tempestad
nicht gewann und nicht verlor: man remisierte. Denn
die vollkommene Partie, jene, die auf keiner Seite Fehler
aufweist, wird Unentschieden" (159).
"
dass der Untergang Tempestads
begonnen hätte, wenn die Spieler aufgehört
hätten, ihre Schachpartien zu remisieren; wenn
der Fortschritt (cammino) begonnen hätte, der sie
dazu führen würde, einer gegen den anderen
zu gewinnen, Fehler zu machen" (168f.).
"Es war eine Form der Meditation.
Die Spieler wussten, dass es die höchste aller
Künste war, mit dem anderen in Harmonie zu spielen,
ohne Unterbrechungen, ohne ehrgeizige Züge, die
dazu geführt hätten den Gegner zu schwächen"
(171).
Natürlich macht auch vor Tempestad
der Fortschritt nicht halt. Was Luis später vorfinden
wird, sind nur noch Ruinen. Irgendwann begann der erste,
auf Gewinn zu spielen
Schließlich wird Luis klar, dass
selbst die Kabinen der "Scirocco" wie auf
einem Schachbrett angeordnet sind, nur das Feld d1,
das der weißen Königin, fehlt. Um es zu finden,
muss er tief in den dunklen Bauch des Kreuzers steigen.
Von ihr, Maria, der Königin, hört er das entscheidende
Wort:
"So wie dieses Leben nichts anderes
ist als eine Schachpartie, die niemand gewinnen kann" (298).
Dreihundert Seiten muss der Leser bewältigen
um die banale Weisheit zu erfahren, dass das Leben ein
Schachspiel ist, das niemand gewinnen kann. Dreihundert
ereignisarme Seiten voller Anspielungen, voller rätsel-
und orakelhafter Andeutungen, voller sinntriefender
Lehr- und Leersätze oder sinnfreier Phantasien.
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Cotroneo, vielgelesener und -übersetzter
Vertreter der neuen italienischen Literaturavantgarde
hat offensichtlich versucht, ein tiefes Buch zu schreiben.
Wie viele seiner Generation kann er dabei seine Bildung
nicht abschütteln. Sie haben einfach zu viel gelesen,
diese Autoren, zu viel Nietzsche und Schopenhauer und
Kierkegaard, zu viel "Pessimismus", zu viel
Sartre und Camus und Heidegger, zu viel "Existentialismus",
vor allem zu viel Freud und Jung und Lacan (und Reuben
Fine), zu viel Psychoanalyse und zuviel Kafka und Beckett
und Joyce, und zu wenig davon verkraftet. Um die psychologische
Tiefe eines Hamsun oder Svevo oder Kafka zu erreichen,
ist nicht Wissen, sondern Weisheit gefragt. So erklärt
sich das Zuviel an Bedeutungen, Symbolen und Problemen,
an "Welt mit verlorenen Menschen" (29), an
"Leere" (18), an Flucht, an "Blicken,
die den Schmerz nicht verstecken können" (17),
an "antiken Träumen", an Heimatlosigkeit
und abwärtsführenden Stufen usw., zuviel an
geheimnisvollen Aussagen, an Symbolen, an Spiegeln und
Spiegelbildern, zu viele "Ich". Tiefe bedeutet
dann Schwere und Länge: Langeweile. Leider werden
durch den gekünstelten Intellektualismus viele
gute Ansätze und Ideen, nicht zuletzt hinsichtlich
des Schachs oder der Musik, von Unerträglichkeit
verschüttet. Es gehört zu jenem Typus androgyner
Bücher, dass man schwerlich sagen kann, ob sie
ge- oder misslungen sind, denn ein objektives Kriterium
kann es kaum noch geben; es wird durch Geschmack ersetzt.
Der eine Leser mag tränengerührt sein Innerstes
offenbart sehen, der andere unmutig oder gähnend
aber vergeblich darauf warten, dass "endlich was
passiert".
Mir zumindest wurde einmal mehr die wahre
Bedeutung von Nietzsches scharfem Aphorismus bewusst:
Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos:
sie beuten sie aus. |
(Jenseits von Gut und Böse
IV, 161)
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Cotroneo, Roberto: Per un attimo
immenso ho dimenticato il mio nome. Milano 2002. Mondatori.
322 Seiten. € 16.40 http://www.robertocotroneo.com/
--- Jörg Seidel, 09.04.2003 ---
[1]
Tempesta = Sturm; Unwetter, Aufruhr
[2] Fuga im Italienischen
bedeutet Fuge und Flucht
[3] im Sinne von: umdrehen,
auf den Kopf stellen, umstülpen, umkehren und auch
widerspiegeln
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
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