|
Arne Danielsen: Grundreihe
(Åttenderaden)
Schon weit in
meinem zweiten Halbenliter blieb ich sitzen und dachte
an die Bauern, die erbärmlichsten Steine auf dem
Brett. Nur der Traum von der Grundreihe, dort wo sich
Frösche in Prinzen verwandeln, lässt sie ihre
langsame Fahrt gen Untergang fortsetzen. Die meisten
landen in der Schachtel, aber einige wenige kämpfen
sich weiter durch und liquidieren alle, die ihnen im
Weg stehen, denn des Freibauern Kraft wächst, je
weniger Rivalen zurück bleiben.
Arne Danielsen hat Norwegens großen
Schachroman geschrieben, behauptet ein begeisterter
Rezensent, und man könnte ihn der Untertreibung
bezichtigen, denn dieser Roman ist nicht nur größer
als Norwegen, es gibt wohl auch in anderen Nationalliteraturen
nichts Vergleichbares. Tatsächlich handelt es sich
um den Roman einer Generation, den Schachroman, wohlgemerkt.
Es handelt es sich um die Generation der heute 50-jährigen,
die mit Drogen, Sex und RocknRoll aufgewachsen
sind, nur dass die spezielle Droge ("Schach befindet
sich in einer Linie mit Rausch, Geschlechtstrieb, Ritterlichkeit
und kulinarischen Genüssen") in diesem Falle
ausgerechnet das Schach darstellt – von Bier in
Strömen und dem einen oder anderen Zug ganz zu
schweigen.
Der wohl autobiographische Roman stellt
keine künstlerischen Anforderungen; eine direkte,
unprätentiöse Sprache, vorangetrieben von
kraftvollen, derben und witzigen Dialogen, macht das
Buch hochgradig lesbar. Locker, fast lässig fließt
der Erzählstrom dahin, da gibt es nichts Geziertes,
die Dinge werden beim Namen genannt, man merkt dem gelernten
Journalisten, der hier seinen Erstling vorlegte und
der im proletarischen Osloer Vorstadtmilieu aufwuchs,
an, dass er einer ist, der mitdenkt: kein tiefer Denker,
aber ein aufmerksamer Beobachter. Schon als Kind, körperlich
nicht gerade bevorzugt, lernt er das harte und doch
geborgene Leben auf den Vorortstraßen kennen,
den anfangs mangelnden Selbstrespekt holt er sich durch
das Schachspiel, dem er mehr Passion entgegenbringt
als irgendeiner. Die Gang wird bald zu "Schachgöttin
Caïssas Glaubensgemeinde", eine "mystische
Bruderschaft", für die die nächste WM
wichtiger wird als die Mondlandung der Amis; immerhin
wurden über Schach mehr Bücher geschrieben
als über Jesus. Solche frechen Sätze sind
da zu lesen.
Das Schach wird in seiner vollen psychologischen
Breite gezeigt; es kann Projektion werden, Flucht, Phantasiewelt
fürs Kind, es wird Kriegsspiel, besitzt identifikatorische
Macht, kann Selbstbewusstsein aufbauen und zerstören,
"Schach ist das Spiel der tausend Sorgen",
das Hoch- und Tiefpunkte liefert und in wenigen geheiligten
Momenten sogar die vollkommene Ekstase. Danielsen feuert
fast das gesamte schachkulturelle Arsenal ab, um dies
zu untermauern, fast keine der althergebrachten Anekdoten
fehlt, vom Automat bis Duchamp, von Ströbeck bis
zur Musik, von James Bond bis zu den Frauen. Nicht zuletzt
ist es auch das Buch einer unerfüllten Liebe, um
deren Willen erst der Wunsch entsteht, Großmeister
zu werden und doch verfehlen sich die beiden wie zwei
ungleichfarbige Läufer, auf ewig verurteilt, aneinander
vorbeizuziehen. Die Liebe zum Mädchen, zur Musik,
zu Led Zeppelin – "sjakk og Zep
og
her kom nordmannen med syntesen" – und zum
Schach, das sind die drei Hauptelemente des jungen Lebens.
In einem geglückten, aber imaginären Moment
verfließen sie ineinander. Aufgehen konnten sie
nie, denn das Schach wurde zu sehr zur Obsession und
doch nie genug, um es nach ganz oben zu schaffen.
En passant läuft die neuere Schachgeschichte
an uns vorüber, vor allem die denkwürdige
Fischer-Ära, die Kämpfe mit Petrosjan, Taimanow,
Larsen und die einzigartige WM in Reykjavik, mit der
der Roman in furiosem Finale endet. Phantasie und Realität
verschwimmen; der Erzähler nimmt selbst am begleitenden
Turnier teil und während auf der Bühne sich
die Genies messen, muss er sich seine Mittelmäßigkeit
eingestehen, darf jedoch immer noch die Genugtuung erleben,
in der dritten Partie den Meister der Meister höchstselbst
die eigene Variante spielen zu sehen, die er einst zwar
einem Fingerfehler zu verdanken hatte, die aber doch
die Runde in diversen Zeitungen machte. Fischer nahm
sie auf und brachte damit Spassky aus dem Konzept. Schließlich
darf Danielsens alter Ego die Variante sogar mit dem
Champion diskutieren, nur um zu begreifen, dass er nichts
davon begriff: Triumph und Demütigung vereinen
sich.
Das Buch dürfte das satteste Schachbuch
der letzten Jahrzehnte sein, es wimmelt von authentischen
Typen und Originalen, wie sie nur die Schachwelt hervorbringt
(für Plauener: Rolf Smith ist auf verblüffende
Art und Weise die Reinkarnation von Stefan Melnyk),
von originellen Geschichten, wie sie nur das Schach
schreiben kann, aber es zeigt auch eine harte Welt des
Wettbewerbs, sicher eingebettet in die Geschichte des
Schachs, Norwegens und der ganzen Welt.
Arne Danielsen: Åttenderaden.
Oslo 2002 (Cappelen)
Das Buch ist im Buchhandel z. T. vergriffen, kann aber
beim Norwegischen Schachverlag zum halben Preis noch
erworben werden:
http://www.sjakkbutikken.no/languages.html?lang=nor
http://www.norli.no/NORLI_HTML/ibeCCtpItmDspRte.jsp?item=1611973
http://www.arnedanielsen.com/
--- Jörg Seidel, 16.01.2008 ---
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.
|
|