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LITERATUR
16. Januar 2008

Arne Danielsen: Grundreihe (Åttenderaden)

Schon weit in meinem zweiten Halbenliter blieb ich sitzen und dachte an die Bauern, die erbärmlichsten Steine auf dem Brett. Nur der Traum von der Grundreihe, dort wo sich Frösche in Prinzen verwandeln, lässt sie ihre langsame Fahrt gen Untergang fortsetzen. Die meisten landen in der Schachtel, aber einige wenige kämpfen sich weiter durch und liquidieren alle, die ihnen im Weg stehen, denn des Freibauern Kraft wächst, je weniger Rivalen zurück bleiben.

Arne Danielsen hat Norwegens großen Schachroman geschrieben, behauptet ein begeisterter Rezensent, und man könnte ihn der Untertreibung bezichtigen, denn dieser Roman ist nicht nur größer als Norwegen, es gibt wohl auch in anderen Nationalliteraturen nichts Vergleichbares. Tatsächlich handelt es sich um den Roman einer Generation, den Schachroman, wohlgemerkt. Es handelt es sich um die Generation der heute 50-jährigen, die mit Drogen, Sex und Rock’n’Roll aufgewachsen sind, nur dass die spezielle Droge ("Schach befindet sich in einer Linie mit Rausch, Geschlechtstrieb, Ritterlichkeit und kulinarischen Genüssen") in diesem Falle ausgerechnet das Schach darstellt – von Bier in Strömen und dem einen oder anderen Zug ganz zu schweigen.

Der wohl autobiographische Roman stellt keine künstlerischen Anforderungen; eine direkte, unprätentiöse Sprache, vorangetrieben von kraftvollen, derben und witzigen Dialogen, macht das Buch hochgradig lesbar. Locker, fast lässig fließt der Erzählstrom dahin, da gibt es nichts Geziertes, die Dinge werden beim Namen genannt, man merkt dem gelernten Journalisten, der hier seinen Erstling vorlegte und der im proletarischen Osloer Vorstadtmilieu aufwuchs, an, dass er einer ist, der mitdenkt: kein tiefer Denker, aber ein aufmerksamer Beobachter. Schon als Kind, körperlich nicht gerade bevorzugt, lernt er das harte und doch geborgene Leben auf den Vorortstraßen kennen, den anfangs mangelnden Selbstrespekt holt er sich durch das Schachspiel, dem er mehr Passion entgegenbringt als irgendeiner. Die Gang wird bald zu "Schachgöttin Caïssas Glaubensgemeinde", eine "mystische Bruderschaft", für die die nächste WM wichtiger wird als die Mondlandung der Amis; immerhin wurden über Schach mehr Bücher geschrieben als über Jesus. Solche frechen Sätze sind da zu lesen.

Das Schach wird in seiner vollen psychologischen Breite gezeigt; es kann Projektion werden, Flucht, Phantasiewelt fürs Kind, es wird Kriegsspiel, besitzt identifikatorische Macht, kann Selbstbewusstsein aufbauen und zerstören, "Schach ist das Spiel der tausend Sorgen", das Hoch- und Tiefpunkte liefert und in wenigen geheiligten Momenten sogar die vollkommene Ekstase. Danielsen feuert fast das gesamte schachkulturelle Arsenal ab, um dies zu untermauern, fast keine der althergebrachten Anekdoten fehlt, vom Automat bis Duchamp, von Ströbeck bis zur Musik, von James Bond bis zu den Frauen. Nicht zuletzt ist es auch das Buch einer unerfüllten Liebe, um deren Willen erst der Wunsch entsteht, Großmeister zu werden und doch verfehlen sich die beiden wie zwei ungleichfarbige Läufer, auf ewig verurteilt, aneinander vorbeizuziehen. Die Liebe zum Mädchen, zur Musik, zu Led Zeppelin – "sjakk og Zep … og her kom nordmannen med syntesen" – und zum Schach, das sind die drei Hauptelemente des jungen Lebens. In einem geglückten, aber imaginären Moment verfließen sie ineinander. Aufgehen konnten sie nie, denn das Schach wurde zu sehr zur Obsession und doch nie genug, um es nach ganz oben zu schaffen.

En passant läuft die neuere Schachgeschichte an uns vorüber, vor allem die denkwürdige Fischer-Ära, die Kämpfe mit Petrosjan, Taimanow, Larsen und die einzigartige WM in Reykjavik, mit der der Roman in furiosem Finale endet. Phantasie und Realität verschwimmen; der Erzähler nimmt selbst am begleitenden Turnier teil und während auf der Bühne sich die Genies messen, muss er sich seine Mittelmäßigkeit eingestehen, darf jedoch immer noch die Genugtuung erleben, in der dritten Partie den Meister der Meister höchstselbst die eigene Variante spielen zu sehen, die er einst zwar einem Fingerfehler zu verdanken hatte, die aber doch die Runde in diversen Zeitungen machte. Fischer nahm sie auf und brachte damit Spassky aus dem Konzept. Schließlich darf Danielsens alter Ego die Variante sogar mit dem Champion diskutieren, nur um zu begreifen, dass er nichts davon begriff: Triumph und Demütigung vereinen sich.

Das Buch dürfte das satteste Schachbuch der letzten Jahrzehnte sein, es wimmelt von authentischen Typen und Originalen, wie sie nur die Schachwelt hervorbringt (für Plauener: Rolf Smith ist auf verblüffende Art und Weise die Reinkarnation von Stefan Melnyk), von originellen Geschichten, wie sie nur das Schach schreiben kann, aber es zeigt auch eine harte Welt des Wettbewerbs, sicher eingebettet in die Geschichte des Schachs, Norwegens und der ganzen Welt.

Arne Danielsen: Åttenderaden. Oslo 2002 (Cappelen)
Das Buch ist im Buchhandel z. T. vergriffen, kann aber beim Norwegischen Schachverlag zum halben Preis noch erworben werden:
http://www.sjakkbutikken.no/languages.html?lang=nor
http://www.norli.no/NORLI_HTML/ibeCCtpItmDspRte.jsp?item=1611973
http://www.arnedanielsen.com/

 

--- Jörg Seidel, 16.01.2008 ---


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