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Peter Dürrfeld: Victor
sætter mat.
Aus Dänemark kommt mehr als dünnes
Bier, dicke Butter und zweifelhafte Karikaturen. Auch
als Schachland hat es sich seit Bent Larssen einen Namen
gemacht; es versorgt die erweiterte Weltspitze noch
immer mit Spielern. Auf dem Schachbuchmarkt allerdings
nimmt sich sein Einfluß bescheiden aus, doch das
müsste nicht sein, denn mit "Victor sætter
mat" hat Peter Dürrfeld das – wie ich
ganz persönlich finde – beste Kinderschachbuch
geschrieben, das derzeit erhältlich ist.
Dabei dürfte der Markt halbwegs
gesättigt sein – durchaus mit ansprechenden
Büchern. War Kolma Maier-Puschis "Schachlehrbuch
für Kinder" noch recht oberflächlich
und William Lombardys "So lernen Kinder spielend
Schach" furztrocken, so haben Bodo Stark ("Schach
macht Spaß"), Günter Sobeck ("Heiner
und die 64 Felder") und Markus Spindler ("Schachlehrbuch
für Kinder") technisch sehr ansprechende Werke
verfasst, Meilensteine gesetzt. Selbst die Weltmeister
Karpow ("Disneys Schachbuch") und Kasparow
("Schachmatt. Mein erstes Schachbuch") gaben
ihre Namen für entsprechende Titel her, ohne ihre
Vorgänger aber erreichen zu können. Alle diese
Bücher leiden an der Saftlosigkeit der Materie,
sie wollen nicht überzeugen und begeistern, sie
wollen lehren und haben daher nur dasjenige Kind zur
Zielgruppe, das sich bewusst fürs Schach entschieden
hat oder das – wie leider in den meisten Fällen
– dafür entschieden wurde. Lediglich Sobeck
versucht, das Material durch nette Schüler- und
Vereinsgeschichten aufzulockern, die selbstmotivierend
wirken sollen, aber dem Buch fehlt trotzdem die ausgleichende
Balance. Diese Bücher sind Diagrammbücher,
schon fast reine Schachbücher und können beim
Anfänger mehr Aversion als Begeisterung auslösen.
Sie betrachten das Spiel zumeist aus technischer und
also aus Erwachsenensicht, sie sind überdies nur
in Begleitung eines kundigen Schachspielers lesbar.
Man kann mit ihnen hervorragend in der Übungsgruppe
arbeiten.
Andere didaktische Wege ging insbesondere
Esme Lammers ("Lang lebe die Königin"),
die auf eine narrative Einbindung setzt, um das Interesse
zu wecken. Dieser Umweg scheint der kürzere Weg
zum Ziel zu sein, er darf nur nicht zu direkt oder zu
ausschweifend (Lammers) ausfallen. Und genau das richtige
Maß scheint mir Dürrfeld getroffen zu haben.
Aber das ist nicht der einzige Vorteil seines Buches.
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Erzählt wird die Geschichte Victors,
eines ganz normalem Jungen, der nach einem Unfall im
Krankenhaus landet. Nichts jedoch ist so schlimm, dass
es nicht für etwas gut wäre, belehrt ihn sein
blinder Großvater, von dem er ein Schachspiel
geschenkt bekommt. Victor kann seine Enttäuschung
nicht verbergen, merkt aber bald, dass er hier etwas
Besonderes, etwas Magisches in den Händen hält.
Der innere Zauber des Spiels wird ihm vom Großvater
vermittelt und erhält zusätzliche Nahrung
durch seinen Zimmergenossen Tom, einem etwas verwöhnten,
streitsüchtigen, besserwisserischen Jungen, der
zu allem Überfluss auch noch die falsche Fußballmannschaft
unterstützt. Zwischen den beiden entsteht eine
Rivalität, die auch auf dem Brett ausgetragen werden
wird.
Jeden Tag besucht ihn der Großvater,
um Victor das Schachspiel zu lehren: Nicht nur die Figuren
und deren Bewegungen, die ersten Eröffnungsregeln,
Eröffnungsfallen, die Notation und grundlegenden
taktischen und strategischen Elemente, sondern darüber
hinaus das Schach als Kulturgut. All das wird unauffällig
mit verschiedenen Denkanstößen, Lebensweisheiten,
mit Witz und Wortspielereien vermischt, die aus diesem
Büchlein mehr als nur eine Anleitung zum Schach
machen. Und dass der Großvater blind und alt ist,
lässt die Sache noch geheimnisvoller erscheinen.
Auch wenn das Schach im Zentrum steht, kommt es doch
so nebensächlich daher, als schönste Nebensache,
dass dem jugendlichen Leser gar nicht bewusst sein muss,
was er gerade lernt. Er wird nicht belehrt, er lernt
es im Vorübergehen, spielerisch. Drei tatsächlich
gespielte Partien dienen dazu, Spannung und Entspannung
sich abwechseln zu lassen. In der ersten Partie fällt
Victor noch auf Toms gemeines Narrenmatt herein und
auch in der zweiten wird der Pfleger Mikkel durch hinterlistige
Schauspielerei Opfer des Schäfermatts (das im Dänischen
übrigens "Schustermatt" heißt),
in der dritten Partie jedoch traut sich Tom zu viel
zu. Die so einfach erscheinende Partie gegen den blinden
alten Mann endet nach bösartiger Freude über
den Damengewinn im peinlichen Seekadettenmatt. Da begreift
Tom, und mit ihm ahnt es der Leser, dass er das schönste
Spiel der Welt kennen gelernt hat. Begeisterung heißt
das Zauberwort, nicht Können oder Wissen. Die Begeisterung
trägt und von nun an bekommt Victor Oberwasser,
kann in einer abschließenden Partie den Leidensgefährten
höchstselbst schlagen.
Nach und nach lernt er die inneren und
äußeren Schönheiten des Schachspiels
kennen und vor allem darauf kommt es an. Im Gegensatz
zu den meisten anderen Kinderbüchern, legt Dürrfeld
großen Wert darauf, das kulturelle Umfeld des
Schachs zu beleuchten, seine Geschichte, seine einzigartigen
Charaktere und Typen, seine inhärente Ethik und
vor allem seine Fähigkeit ein ganz persönliches
Leben über viele Jahrzehnte lang zu bereichern.
Victor hat hier kein neues Computerspiel entdeckt, etwas,
das ihn nur für ein paar Stunden begeistern kann,
sondern ein Lebensspiel, und diesen unglaublichen Gedanken
macht Dürrfeld dem Leser einsichtig. Kein Wunder,
dass Namen berühmter Spieler wie Zauberworte ausgesprochen
werden, kein Wunder, dass es selbst den nationalen Stolz
zu erwecken vermag, kein Wunder, dass es einem die ganze
Welt eröffnen kann, denn im Schach, wie es dem
jungen Victor von seinem weisen alten Großvater
beigebracht wird, ist die Fülle seiner grenzenlosen
Möglichkeiten erhalten, wird es aus allen Richtungen
beleuchtet. Der Leser bekommt mehr als einen Zeitvertreib
geschenkt, mehr als eine weitere Unterhaltung. Das alles,
ich wiederhole es, ganz einfach und ohne didaktische
Aufdringlichkeit.
Alles an diesem Buch ist stimmig und
wohl abgewogen, nichts zu viel und nichts zu wenig.
Nur weil das so ist, kann das Buch vollständig
auf Bilder verzichten. Lediglich die Stellungsdiagramme
sind Zug für Zug abgebildet, und sie wirken wie
spannende Karikaturen. Selbst für den unerfahrenen
Anfänger ist das Buch einwandfrei ohne Brett les-
und spielbar. Es braucht nicht den begleitenden Erwachsenen,
aber es eignet sich trotzdem hervorragend als Gute-Nacht-Lektüre.
Sein Konzept ist so einfach, dass man sich wundern muss,
wieso bislang noch niemand darauf gekommen ist.
Nun lässt sich nur hoffen, dass
sich ein deutscher Verlag finden wird, es in entsprechender
Aufmachung und vielleicht zu einem günstigeren
Preis zu übernehmen, denn dieses Kleinod verdient
mehr als nur dänische Leser.
Peter
Dürrfeld: Victor sætter mat. København
2003. 172 Seiten
--- Jörg Seidel, 07.03.2006 ---
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