... und noch ein Schachbuch
oder: Die Ware Lüge
"Aber meine
Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß bisher die Lüge
Wahrheit."
Nietzsche
Karl Popper, der Philosoph, wurde in
jungen Jahren Gegner des Marxismus, als er während
einer proletarischen Demonstration Zeuge einer Schießerei
wurde [1], bei der die Polizei einen jungen Arbeiter erschoss.
Aus diesem Schockerlebnis schloss er gänzlich unphilosophisch
auf den doktrinären Charakter der marxistischen
Theorie, den nachzuweisen er fortan viel Liebesmühe
verschwendete.
Wie Popper gegen den Marxismus kam, so
kam Comas Fabregó gegen die klassische Schachtheorie:
indem praktische Negativerlebnisse auf theoretische
Maximen ungerechtfertigter Weise übertragen werden.
Im konkreten Fall zeigt die Partie Spassky-Geller, Sarajevo
1986, die Relativität von Nimzowitschs Diktum auf,
man solle in dieser Art Ruy-Lopez-Stellung den Zug Bauer
d4-d5 meiden, woraus Comas apodiktisch und popperianisch
schließt: "White ended up winning easily.
That was enough for me to lose faith in the classics!"
Ein starker Grund? Weil es immer auch Gegenbeispiele
gegen einen Lehrsatz gibt, sei dieser an sich schon
falsch, soll das sagen. Dabei kann es durchaus hilfreich
sein anzunehmen, Kindern etwa zu lehren, dass Schwäne
weiß sind, auch wenn es eine klitzekleine Anzahl
schwarzer Schwäne gibt. Hat man deswegen schon
gelogen?
Vieles stimmt an diesem Buche nicht,
noch nicht einmal der Titel, denn was sich im spanischen
Original wie "Riskante Lügen im Schach"[2]
anhört, wird in der kommerziellen englischen Übersetzung
zum zweideutigen und knalligen "Wahre Lügen
im Schach". "Nicht stimmen", heißt
hier und in zahlreichen anderen Fällen einfach:
falsch! Aber noch mehr muss man es im Sinne von "nicht
stimmig" begreifen. Was sich der spanische Großmeister
mit seinem Erstling vornahm, hält in vielerlei
Beziehung einer genaueren Analyse nicht stand. Dabei
sind die eigentlichen Analysen wohl noch das Beste,
ihre Intention jedoch ist fraglich. Lluìs Comas
Fabrego nimmt sich nämlich vor, die Schachliteratur
von Oberflächlichkeit, Inkonsistenz und eben Lügen
zu befreien. Zumindest im dritten Fall, vergreift er
sich dabei im Ton, beginnt zu moralisieren, und da hilft
auch alles Bedauern nichts, dass man Tarrasch, Nimzowitsch,
Euwe, Botwinnik, Pachmann und andere Giganten der Schachgeschichte
als Spieler und Künstler verehrt; wenn man deren
vermeintliche Fehler derart kritisiert, dann wird schlechthin
Absicht unterstellt. Und was ist der Gewinn bei alledem?
Man erfährt, dass Menschen Fehler machen –
wer wüsste das nicht besser als jeder Schachspieler?
Kann man denn nicht ewig über Schach
palavern, sogar über jede beliebige Partie? Natürlich,
denn das Schach ist in seinen Möglichkeiten unendlich!
Aber irgendwann muss jede Analyse mal ihr Ende haben
und es wird immer Varianten geben, die nicht bis an
ihr logisches Ende ausdiskutiert wurden. Wo andere sich
vielleicht kurz fassen wollen, dort hakt der giftige
Analysator kraft seiner Wassersuppe Fritz und der Strategieweisheit
vergangener Jahrzehnte ein und unterstellt Manipulationsversuche,
nicht sehen wollend, dass auch seine etwas beliebig
wirkenden Versuche – so verdienstvoll sie sein
mögen – nicht der Weisheit letzter Schluss
sein werden.
Dies alles kommt in ganz unterschiedlicher
Qualität. Mal wird bis in die fünfte Dimension
(Variante "a324") hineinanalysiert und dann
werden nicht minder komplexe Beispiele mit ein paar
Strategiehinweisen abgetan; mal werden Partiediagramme
nach einem einzigen Doppelzug geboten und ein andermal
darf man die wirrsten Stellungen über 25 Züge
im Kopf oder eben am eigenen Brett verfolgen etc.
Wenn man schon offene Türen einrennt,
dann doch bitte mit Stil! Man kann sich des Eindrucks
nicht erwehren, dass das Ego – was Ich alles
sehe – eine gewisse Rolle gespielt hat. Dementsprechend
wirkt auch das Englisch oft gestelzt.
Das soll nicht heißen, die Analysen
wären nicht nachdenkenswert, keinesfalls; kein
Buch ist so schlecht, dass man nichts daraus lernen
könnte. Es gleicht nur ein wenig dem Zwerg auf
den Schultern des Riesen, der mit der Gerte nach jenem
schlägt, weil er so winzig sei. Besonders im zweiten
Teil widmet sich Comas auch mehr den Partien als den
Spielern und für Freunde der Königs-Indischen
Verteidigung mag Kapitel 5 manche interessante Nebenvariante
enthalten.
Insgesamt aber wird man den Eindruck
nicht los, ein rein kommerzielles Unternehmen, ein Schachbuch
um seiner selbst willen vor sich zu haben, eben noch
ein Schachbuch, von einem, der auch mal auf den Tisch
hauen und was sagen wollte.
PS: Auch über dieses Buch könnte
man noch viele Dinge schreiben, aber man muss sich aus
objektiven Gründen beschränken. Wird einem
das als Oberflächlichkeit angerechnet?
(Lluís Comas Fabregó: True
Lies in Chess. Think for yourself. Glasgow 2007)
--- Jörg Seidel, 22.11.2007 ---
[1]
Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle
Entwicklung. Hamburg 1994. S. 38ff.
[2] "Mentiras Arriesagdas
en Ajedrez" (arriesgado = riskant, gewagt, waghalsig,
gefährlich etc.)
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