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Christian Hesse:
Expeditionen in die Schachwelt
Neueste Forschungen bestätigen [1]:
je kürzer eine Buchbesprechung, umso öfter
wird sie gelesen, umso mehr beeinflusst sie. Im Nachfolgenden
wird gegen diese Regel verstoßen; wer aber trotzdem
mitreden will, ohne die Analyse zu lesen, der wird wie
immer auf http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=6125
schnell bedient und muss auf unserer Seite mit der enigmatischen
Formel – Das Beste ist nicht immer gut – vorlieb
nehmen.
Jemand, der die aktuelle Bücherflut
nur selektiv betrachtet, könnte leicht versucht
sein, Christian Hesses Buch "Expeditionen in die
Schachwelt" zum Buch des Jahres zu küren –
des gekommenen oder gegangenen, sei dahingestellt. Man
hat sich ganz offensichtlich viel Mühe damit gegeben,
das sieht man schon, bevor man die erste Seite gelesen
hat. Eilige Besprechungen und Empfehlungen sind schnell
zur Hand, sagen leider wenig Substantielles und erreichen
nichts anderes, als ein bibliophiles Ereignis in Alltagsbrei
zu verwandeln. So ein Buch, kein Allerweltsbuch, will
diskutiert und kritisch besprochen werden –
nur so kann man Autor, Verlag und Werk gerecht werden.
Ungewöhnlich gewichtig kommt der
Band daher, nicht nur im wörtlichen Sinne, mit
seinen fast zwei Pfund. Solide gearbeitet, hochwertiges
Material, mit einer Empfehlung vom Schachweltmeister
höchstpersönlich, mit einem griffigen Motto,
das auf breite Masse zielt (Chess is a very sexy game),
mit beeindruckender Literaturliste, sogar Personen-
und Sachregister und nicht zuletzt mit einem echten
Professor als Verfasser, noch dazu für das kryptische
Fach Stochastik, die "Kunst des Mutmaßens"
– das alles ist im schnelllebigen, oft oberflächlichen
Schachmarkt keine Selbstverständlichkeit. Hesse,
der seine Bücher augenscheinlich nicht auf Papier
schreibt, sondern auf meterhohe Wandtafeln, posiert
vor einer solchen – voll geschrieben mit Formeln,
Diagrammen, Notationen, Tabellen, als wäre man
bei Albert E. zu Hause – jung, dynamisch, lässig,
Turnschuhe und doch den Laptop zärtlich im Schoß.
Nichts wurde da dem Zufall überlassen, oder doch?
Auch das Inhaltsverzeichnis beeindruckt:
92 Kapitel mit mehr als ansprechenden, durchaus schachuntypischen
Überschriften wie: "E = m c2
im Schach" oder "Quantenlogik im Schach"
oder sogar "Ockhams Messer und Schach-Shindogu"
und dergleichen mehr, aber auch das klassische "Patt",
"Rochaden" und "Stellungsbeurteilung".
Was man vor allem für seine 28,80
Euro bekommt, ist eine schier unerschöpfliche Fundgrube
an fantastischen, genialen, einmaligen, unglaublichen,
außergewöhnlichen Partien, Stellungen, Kombinationen
und Kompositionen, die fast magischerweise zum Nachspielen,
Grübeln, Kontrollieren oder einfach nur zum Genießen,
Schmunzeln und manchmal sogar zum lauten Lachen anregen.
Vielleicht sind die ausgewählten Beispiele exzentrischer
als in vergleichbaren Sammlungen. Das macht das Buch
unterhaltsam und angenehm, wichtig wird es dort, wo
der Mathematikprofessor mit der Kenntnis seines Faches
die Materie durchleuchtet, wo er selber denkt statt
zitiert. Allerdings geschieht das seltener, als man
erwarten dürfte, und konzentriert sich hauptsächlich
um die Anfangskapitel. "Geometrie des Schachbretts",
das "Fischerbezwinger-Bezwinger"- Kapitel,
das späte dialektische Kapitel, das sind Augenöffner,
dort liest man Originelles, dort findet man debattierbare
Aussagen (siehe unten). Hesse argumentiert mit sprachlicher
Verve und scheut auch nicht davor zurück, die Schachsprache
durch Wortschöpfungen zu bereichern: "der
blonde Läufer", die "mattoide Stellung",
der "Opferflitter" – das klingt gekonnt;
"wohltemperierter Echtzeithechtsprung" oder
"Finisher-Qualitäten" (wie überhaupt
die zahlreichen als "Neuhochdeutsch" bezeichneten
Anglizismen oder Halbanglizismen) sind dagegen Geschmackssache.
Ein "Stickmatt" als ersticktes Matt will aber
nicht recht gefallen; sein Äquivalent wäre
das "Strickmatt" oder ein "Häkelmatt"
etc.
Fast alle Artikel beginnen mit einer
Explikation eines abstrakten Begriffes und werden dann
mit Schachbezügen gefüllt – eine gewisse
Monotonie nach ein paar Dutzend Abschnitten lässt
sich nicht vermeiden; sie sind in der Regel klimaktisch
organisiert, wandern also vom beeindruckenden zum beeindruckendsten
Beispiel; die Einleitungen wirken mitunter wie ein Alibi,
schöne Partien zeigen zu können und der obligatorische,
oft moralisierende Schlusssatz nimmt den Leser ans Gängelband.
Manche Überschrift erweist sich als Umbenennung
längst bekannter Tatsachen: "Drohungen n-ter
Ordnung" z. B. ist alter Wein in neuen Schläuchen,
denn schließlich handelt es sich um nichts anderes
als ein paar Kombinationen. Wäre das alles, an
dem man Rumnörgeln könnte, dann müsste
man das Werk unbedingt zu den wesentlichen Veröffentlichungen
zählen, wie sie nur alle paar Jahre auftauchen.
Leider, leider hat es aber auch seine
dunklen Seiten, viele davon, sowohl formaler als auch
inhaltlicher Art. Dabei hätten beide durch einen
guten Lektor leicht eliminiert werden können, einen,
der mehr als nur Diagramme und Züge kontrolliert
– wie mutmaßlich Christopher Lutz, der sich
als Lektor verantwortlich zeichnet.
Form:
Bedauerlicherweise wird der Lesegenuss
durch Myriaden von Uneinheitlichkeiten getrübt,
als hätte Hesse noch nie ein Buch geschrieben.
Kaum eine Seite, auf der nicht einer oder mehrere dieser
und anderer Layout-Sünden den Lesegenuss beeinträchtigen.
- Die obligatorischen Eingangszitate reichen vom
minimalistischen Einzeiler bis hin zum aus zehn Teilen
bestehenden, ganzseitigen, mehrzeiligen Zitatensturm,
der anderthalb Seiten frisst. (Der Sinn eines Eingangszitats
ist gewöhnlich, den folgenden Abschnitt inhaltlich
prägnant zu orchestrieren oder zu paraphrasieren,
sie sollten nicht dazu dienen, Belesenheit zu demonstrieren.)
- Die Eingangszitate sind unterschiedlich zentriert:
mal rechtsseitig, mal eher mittig, mal ganzseitig.
- Die jeweiligen Autoren werden entweder mit oder
ohne Angabe des Buchtitels zitiert, zum Teil sogar
in einem Abschnitt (189).
- Hegel z. B. (193) wird mit Ersterscheinungsjahr,
vollem Titel, Paragraph, Zusatz, Seitenangabe, Verlag
und Erscheinungsjahr zitiert, während man bei
Nietzsche (und vielen anderen) nur den Titel für
erwähnenswürdig hielt oder aber auch nicht.
- Einige Autoren werden mit verschiedenen Schreibweisen
gebraucht (z. B. Watzlawick, Watzlawik).
- Dieselben Autoren werden mit oder ohne Vornamen
zitiert (z. B. F. Nietzsche und Nietzsche).
- Der eine ist eines Vornamens würdig, der andere
nicht (z. B. W. Heisenberg und Niels Bohr).
- Dieselben Autoren werden in verschiedenen Sprachen
zitiert.
- Banale Aussagen im Eingangszitat, wie z. B. "Chess
is a very sexy game", erhalten nur durch die
Bekanntheit und Bedeutung ihres Verfassers Signifikanz;
ein nichts sagender Satz von Sally Beauman wird nur
noch nichts sagender. Viele Zitate stammen von –
das mag an meiner Kulturlosigkeit liegen – weitgehend
unbekannten Verfassern, was umso schwerwiegender ist,
da die Sentenzen an Banalität oft kaum zu überbieten
sind. (Ich kenne jedenfalls die Herren oder Damen
oder Vereinigungen oder Computer, Schach- oder Schauspieler,
Firmen oder was immer sie sein mögen, diese Entitäten,
nicht und möchte zumindest im Literaturverzeichnis
über sie aufgeklärt werden: Codespoti, Bose,
Fenton, R. K. Sprenger, Gamasutra, G. N. Treysman,
Sid Lazarow, Piccoli etc.)
- "Goethe, auf Englisch"
- Nach welchem Algorithmus werden englische Zitate
übersetzt oder im Original wiedergegeben?
- Man findet deutsche Zitate aus englischsprachigen
Büchern und umgekehrt
-
oder deutsche und englische Übersetzungen
aus anderen Sprachen (z. B. wird Lao Tze auf S. 329
englisch zitiert, mit Kapitelnummer [obwohl
sowohl die Schwarz- als auch die Wilhelm-Übertragung
Laotses Intention wesentlich prononcierter herausarbeiten]
und nur neun Seiten später mit Kapitelnamen
(!) und auf Deutsch).
- Es finden sich deutschsprachige Titelangaben englischer
Titel.
- Es werden sowohl die im Englischen gebräuchliche
Umschrift als auch die Transliteration nach DIN genutzt
(z. B. Michail Tal und Mikhail Tal).
- Spielernamen werden uneinheitlich verwandt (z.
B. figuriert Kasparow unter Garri, Garry, G. oder
einfach nur Kasparow; Emanuel Lasker unter Emanuel,
Em. oder einfach nur Lasker – in der Partie Janowski
- Lasker ist gar nicht ersichtlich, ob es sich um
Emanuel, Em., Eduard oder Ed. handelt, vermutlich
aber um E. Lasker).
- Zahlenverhältnisse werden als solche oder
in Prozent angegeben (z. B. "holte Weiß
52,1 % der Punkte", während auf der selben
Seite 245, von 85 Partien 51,5 Punkte geholt wurden)
- Diagrammverweise finden sich sowohl fett gedruckt,
normal gedruckt oder aber vom Text abgesetzt
- Eine ganze Reihe von im Text erwähnten Quellen
finden sich nicht im Literaturverzeichnis
-
während umgekehrt eine ganze Reihe von
im Literaturverzeichnis aufgenommenen Titeln keinen
offensichtlichen Bezug zum Inhalt des Buches haben
(z. B. 2x Sloterdijk, 2x E. T. Hall, 1x Blumenberg
oder 4x Marquard, obwohl nur eine seiner Wortschöpfungen
aus einem seiner Bücher verwendet wurde
etc.)
- Der hintere Vorsatz wurde bedruckt.
- Angst vor der weißen Fläche: Wenn die
Spalten nicht gleich lang sind, wird immer mit irgendwelchen
Grafiken aufgefüllt. Das mag bei zärtlichen
Konfigurationen aus Schachfiguren noch Geschmackssache
sein, aber wenn Escher-Figuren, Leonardozeichnungen,
Buddhagestalten, seltsame Rasterbilder, vollkommen
verschnörkelte Schachfiguren oder ein verfremdetes
Kramnik-Portrait herhalten müssen, überschreitet
es wohl diese Grenze.
- Partienotationen beginnen mit der tatsächlich
gespielten Zugnummer oder fangen eben mit 1. an
- Bei einigen Partien wird "aus Gründen
der Vollständigkeit" der Restverlauf geboten,
bei den meisten jedoch nicht.
- Außerdem, aber das nur nebenbei: Vidmar war
Slowene, nicht Österreicher, Evelyn Waugh ein
Mann und keine Frau, und f4 war f5 (361).
- Dass Kramnik das Buch vorbehaltlos empfiehlt, bestätigt
nur den Verdacht, dass er es gar nicht gelesen hat,
lesen konnte, weil er der deutschen Sprache (so weit)
gar nicht mächtig ist. Sein Vorwort wiederholt
nahezu wörtlich Hesses Äußerungen
und klingt daher wie in die Feder diktiert. Auch das
hätte man cleverer machen können
Alles Krümelkackerei? Möglich,
aber ich bin davon überzeugt, dass Schach- und
Buchkunst im ästhetischen Anspruch – den Christian
Hesse so oft und vollkommen zu Recht geltend macht –
brothers in arms sind (um es Neuhochdeutsch auszudrücken).
Hier schlagen, ganz im Sinne Hegels, den Hesse mit selbiger
Aussage auch noch irgendwo zitiert, Quantität in
Qualität um. (Leider finde ich die Stelle im Buch
nicht mehr, denn Hegel gehört zu den armen Tröpfen,
die es weder ins Literaturverzeichnis noch den Autorenindex
geschafft haben.)
In der Autoindustrie würde man bei
so zahlreichen Sicherheitsmängeln eine Rückrufaktion
nicht scheuen – deswegen muss es kein schlechtes
Auto sein.
Inhalt
Nachfolgend werden einige Beispiele
problematischer oder (m. E.) voreiliger Aussagen diskutiert
und vorgestellt. Dass sie zur Diskussion anregen, kann
nur im Sinne des Verfassers sein, dem es offenbar darum
ging, den engen Schachrahmen zu transzendieren, das
Schach als Kulturträger und philosophisches Ereignis
zu betrachten. Allein das Ansinnen ist mehr als bemerkenswert,
es verdient ernst, beim Wort genommen zu werden –
am besten wohl in Form von Kritik. Selbstverständlich
handelt es sich nicht nur um schachrelevante Themen,
vielmehr scheint der Gebrauch philosophischer Konzepte
und metaphysischen Vokabulars – im weitesten Sinne
– mitunter bedenklich.
1. Kapitel "Schmetterlingseffekt":
Hesse zitiert – hier durchaus im
Sinne der Botschaft – eingangs die mittlerweile
sprichwörtlich gewordene Sentenz/Frage: "Kann
der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien
einen Wirbelsturm in Texas auslösen?". Kleine
Ursachen können, so wird unterstellt, in der Unübersichtlichkeit
der Wetterphänomene große Wirkungen zeigen.
Hesse ist nicht der erste, der diese fragliche Feststellung
auf andere Gebiete überträgt, das Fragezeichen
der Sentenz nonchalant ignorierend: "Dieser Effekt
tritt nicht nur in der Wetterdynamik, sondern auch beim
Gang der Geschichte auf. Als 1914 der Chauffeur des
österreichischen Kronprinzen (sic!) falsch abbog,
geriet dieser in einen Hinterhalt und wurde ermordet.
Nach einer fatalen Kettenreaktion führte dieses
Ereignis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges" (41).
Und schließlich könne man auch beim Schachspiel
den Schmetterlingseffekt antreffen; es folgen Partiebeispiele.
Bei diesem Argument ist folgendes zu bedenken: auf der
einen Seite wollen derartige Begründungen einen
Holismus nachweisen – alles hängt (irgendwie)
mit allem zusammen – kommen aber nicht weiter,
als einen ausgesprochenen Determinismus beispielhaft
anzuführen; auf der anderen Seite soll der Determinismus
damit relativiert werden, dass man einer beliebigen
Größe, einer Nullgröße, absoluten
Wirkungsstatus zuschreibt. Selbst wenn man dem sprichwörtlichen
Schmetterling diese hypothetische Macht zuschriebe,
so wäre sie doch nie nachweisbar, ergo wissenschaftlich
belanglos. Das Schmetterlingsapercu beweist das Gegenteil
dessen, was es aussagt. Und was fürs Wetter schon
unsinnig ist, kann für die Geschichte noch weniger
Bedeutung haben. Die Ermordung des Erzherzogs (habsburgischer
Kronprinz war Rudolf, der 1889 Selbstmord beging, wonach
die Erbfolge auf Franz Ferdinand überging) führte
1914 eben nicht "in einer fatalen Kettenreaktion"
zum Ersten Weltkrieg und erst recht nicht der Fahrfehler
eines Chauffeurs; das zu behaupten wäre tatsächlich
nichts anderes als – Fatalismus. Solch eine Argumentation
könnte unendlich weitergeführt werden, denn
hätte der Chauffeur seine Brille aufgehabt
und wäre die nicht am Tag zuvor vom Tisch gefallen
und zerbrochen
wäre der Tisch nicht so glatt
gewesen
hätte der Schreiner weniger perfekt
gearbeitet
ad infinitum. Zum Ersten Weltkrieg
wäre es auch ohne Fahrfehler gekommen und sicher
auch ohne die Ermordung des Erzherzogs. Es wäre
anders gekommen, zu anderen Zeiten und unter leicht
veränderten Bedingungen etc., aber die Ursachen
der Konfrontation waren eben gesellschaftliche und nicht
zufällige. Im Übrigen war das Attentat noch
nicht mal Anlass des Krieges, es wurde lediglich als
Anlass genommen, es bedurfte eines menschlichen
Willens, die historische Determination herzustellen,
so wie der "Angriff" auf den Sender Gleiwitz
nicht Anlass des Zweiten Weltkrieges war.
Und auch im Schach gibt es keine Schmetterlinge
– nur im Bauch, und die können tatsächlich
über den Ausgang einer Partie entscheiden. Das
Problem des Schmetterlings ist gerade, dass man das
Gesetz nie auf ihn zurückführen könnte:
Diagramm S. 42:
Wenn Weiß definitiv nach Kh7 gewinnt,
so ist es eben kein Schmetterling, es ist eine Vitalentscheidung.
Das alles erinnert an Maos Spatzenschießen, der,
ausgerüstet mit einer Primitivdialektik und nachdem
er errechnete, wie viele Körner ein Spatz pro Tag
frisst, glaubte, die Kornernte steigern zu können,
indem er kornfressende Spatzen millionenfach abschießen
oder vertreiben ließ. Die Ernte wurde dann von
Insekten vernichtet, denen der Futterfeind fehlte.
2. Kapitel "Geschichte wiederholt
sich":
Professor Hesse schreibt: "Die Zahl
der möglichen Schachstellungen übersteigt
die Zahl der Atome im Universum um ein Vielfaches. Schachpartien
sind deshalb Unikate. Umso erstaunlicher ist es, dass
dennoch selbst im Endspiel oder tiefen Mittelspiel Stellungsübereinstimmungen
zwischen Partien beobachtet werden" (46).
Erstens sind viele Partien keine Unikate,
und zweitens hat die Zahl der möglichen Schachstellungen
mit den tatsächlich möglichen (man sollte
zwischen Schachstellungen und Figurenkonfigurationen
trennen) nichts zu tun, da großteils sinnlos.
Wenn nämlich Menschen gegeneinander spielen, dann
gelten Humangesetze und keine "universellen";
die Schachregeln sind aber von Menschen eingeführte
Regeln. Sieht man das Schach also als menschliche Auseinandersetzung,
dann ist es maximal erstaunlich, dass es nur so wenige
Stellungsübereinstimmungen gibt. Aber auch das
nur zum Teil, weil selbst die größte Datenbank
nur einen klitzekleinen Bruchteil aller gespielten Partien
enthält; im Buch wird von 200 Millionen derzeit
aktiven Schachspielern gesprochen, die jeweils ein
paar dutzend Partien pro Jahr
spielen dürften,
von Maschinen ganz zu schweigen (die Zahl ist also noch
immer sehr gering), wohingegen die größten
Sammlungen lediglich acht bis zehn Millionen Partien
enthalten. Drittens sind sie nicht deshalb Unikate,
nicht aus ihren numerischen Möglichkeiten heraus,
sondern weil die kaum quantifizierbaren geistigen Kräfte
sich ihrer bedienen. Andernfalls müssten wir alles
Materielle, sofern es aus Atomen besteht, zum Unikat
küren oder uns wundern, dass aus Mann und Frau
wieder Mann und Frau werden
Geboten werden uns schließlich
Eröffnungsfallen, in die man eben immer wieder
tappen kann, als wäre das der Beweis der obigen
Aussage und nicht deren Widerlegung.
Schachpartien entfalten auch keine Geschichte
– sie sind höchstens Teil davon – wohl
aber Geschichten. Überschrift und Konzept
wären also nur sinnreich, wenn man auf den Kollektivsingular
zugunsten des ordinären Plurals verzichtete. Voilà,
Entzauberung. Es wiederholt sich nicht die Geschichte,
es wiederholen sich (strukturell) nur die sie konstituierenden
Geschichten.
3. Kapitel "Schach und Psychologie":
Obwohl Robert Hübners gute Gründe,
bei der Zugwahl besser nicht von Psychologie zu sprechen,
erwähnt werden, bleiben sie doch unbedacht. Tatsächlich
betrifft die Psychologie im Schach das Psychische und
nicht das Schachliche. Dieser fast banale Sachverhalt
scheint seine hundertjährige Zeit in der Dunkelkammer
noch immer nicht überstanden zu haben. Psychologie
im Schach spielt sich außerschachlich ab; Motivation,
Ausdauer, Kreativität, Wille, Konzentration
das sind psychologische Begriffe; dies alles wendet
sich an die Persönlichkeit, nicht an die Stellung.
Was noch immer als Psychologie im Schach figuriert und
noch immer den Buchmarkt beschäftigt (von Benkö
und Hochberg, Hartston, Holloway bis Avni und Dunnington,
aber nicht Krogius! Der alte Marxist und Leninist –
er hat von seinen Lehrmeistern noch das gründliche
analytische Arbeiten gelernt – ist weit und breit
der einzige, der in der Mainstreamschachpsychologie
vom korrekten Psychologiebegriff ausgeht; Fine zwar
auch, aber seine Untersuchungen haben nichts mit dem
Schach zu tun) gehört in den Bereich des gamesmenship,
des Fallenstellens, der Trickserei u.ä. Natürlich
kann ich einen Zug wählen, von dem ich annehme,
dass er meinem Gegner Schwierigkeiten bereiten wird,
aber in der Regel ziele ich damit auf seine technischen
Fähigkeiten und nicht mentalen Verhältnisse.
Wenn ich z. B. eine Eröffnung wähle, mit der
mein Gegner schlechte Erfahrung hat, die ihn meinetwegen
an vergangene schmerzhafte Niederlagen erinnert, dann
aktualisiere ich, im geglückten Fall, entweder
seine technischen Grenzen (etwa mit diesem Stellungstyp
zu Rande zu kommen) oder aber an seine Erinnerung. Im
zweiten Fall ist das psychologische Element eben in
der Erinnerung (als psychische Kategorie, wo sonst?),
aber nicht in der Stellung.
4. Kapitel "Träume und Traumkombinationen":
"Träume (sind)", steht
da geschrieben, "von jedweden Einschränkungen,
Begrenzungen und Zwängen befreit" (116). Diese
Aussage ist falsch oder zumindest nicht verifizierbar,
letztlich zu absolut. Träume oder Trauminhalte
mögen (oder mögen auch nicht) freier
(Komparativ) von Zwängen sein, aber nicht frei.
Zumindest nicht, solange man sich, wie hier geschehen,
auf Traumdeutungen (von Aristoteles bis Freud und darüber
hinaus) oder Trauminformationen beruft. Die Traumanalyse
mit ihren festen Kategorien, Symbolen und Deutungen
beruht gerade auf der "Unfreiheit" der Träume,
auf der Regelmäßigkeit, Wiederholbarkeit,
auf archetypischen oder kulturellen
Gesetzmäßigkeiten.
Wären Träume im absoluten Sinne frei, sie
wären bedeutungslos.
5. Überlastete Begriffe:
"Auto-Aggression":
Weiß ist am Zug, es geschieht 30.
Txc3, er schlägt also seinen eigenen Läufer.
Dieser einfache "Aussetzer", der psychologisch
ganz einfach zu erklären ist (Weiß antizipiert
Lxc3), wird als "Auto-Aggression" vorgestellt.
Autoaggressionen sind in der Psychologie aber Verhaltensweisen
der absichtlichen Selbstverletzung oder Schmerzzufügung.
"Paradox":
Auf Seite 134 werden fünf Studien
als "fünf paradoxe Studien" vorgestellt,
aber sie sind nicht paradox, im Gegenteil, sie bestechen
durch eiserne Logik, die freilich paradox, besser: unmöglich,
erscheinen mag.
Seite 196: "Ein schlechter Zug ist
niemals schön." Tatsächlich?
"Postmoderne":
"In der Zeit der frühen Postmoderne
im Schach
" lautet ein Satz (186), der den
Leser sich wundern lässt, was er wohl bedeuten
soll. Später wird von einem "wahrhaft postmodernen
Schlagabtausch gesprochen" (308) und schließlich
taucht das schwergewichtige, aber doch an dieser Stelle
nichts sagende Wort ein drittes Mal auf: "Eine
postmoderne Unsterbliche mit romantischem Touch"
(390).
"Stellungsarchäologie":
Dieses Kapitel widmet sich der Springergabel, hat mit
Archäologie also nichts zu tun, so schön die
Kombinationen auch sind, die hier ausgegraben wurden.
Gemeint ist damit zwar die Suche in der Tiefe, aber
doch wohl der Tiefe der Zukunft (Varianten), von mir
aus auch im "sequentiell tieferliegenden Stratagem
der Springergabel", jedenfalls nicht in den stratigrafischen
Zuordnungen der Erdschichten oder der historischen Tiefe,
wie es für die "Altertumskunde", auch
als "Archäologie" bekannt, definitorisch
vorgeschrieben ist. Ein weiteres Beispiel eines gewissen
Begriffs- und Titelfetischismus.
"Visuelle (Optische) Täuschung":
Bei den gegebenen Beispielen (227 ff.)
handelt es sich nicht um optische Täuschungen.
Eine optische Täuschung ist an den menschlichen
Sinnesapparat gebunden, sie basiert auf einer inkorrekten
Beurteilung des retinalen Bildes durch das Gehirn und
ist daher für alle Menschen bzw. alle Mitglieder
einer bestimmten kulturellen Gruppe gleich geltend und
wiederholbar. Sie kann naturphysikalisch (Fata Morgana),
sehorganisch (blinder Fleck) oder, wenn man den Begriff
sehr weit fast, wunsch- und bedürfnisbedingt sein
(Hungerbilder, Pilzsuche). Sie kann künstlich durch
so genannte Vexierbilder erzeugt werden, in Abhängigkeit
vom kulturellen Hintergrund. Weder basiert Amaurosis
scacchistica, die Schachblindheit auf optischer
Täuschung noch kann man ein schachliches Übersehen
– darum handelt es sich bei den gegebenen Beispielen
– darauf zurückführen. Viel mehr dürften
Konzentrationsschwächen oder die von Krogius analysierten
Abbilder eine Rolle spielen.
"Mustererkennung":
ist nicht gleich Erfahrung und
auch nicht "schablonenfreie Schachphantasie".
Wenn Petrosjan (240 ff.) scheinbar gegen alle Schachgesetze
verstößt, dann beruft er sich auf sein Regelwissen
(Erfahrung) bzw. die Fähigkeit, im entscheidenden
Moment davon abzuweichen. Das macht das "Genie"
aus: die Ausnahme der Regeln kreativ aufzuspüren,
"traditionelle Schachprinzipien über Bord
werfend" (243). Das umschreibt das Gegenteil der
Mustererkennung, denn das Muster ist doch das Wiederkehrende.
"Schachdoktrin":
"Doch heute, nach mehr als einem
Jahrtausend der Beschäftigung mit dem Spiel in
moderner Fassung, ist es eher unwahrscheinlich, dass
eine ganz neue Schachdoktrin von ähnlich revolutionärem
Charakter entsteht wie etwa die Hypermoderne Schule
"
(270). Das mag sein oder nicht, aber mit Zeit ist das
nicht zu begründen, sondern nur immanent. Auch
die gegenteilige Aussage wäre möglich: Doch
heute, nach mehr als einem Jahrtausend der Beschäftigung
mit dem Spiel in moderner Fassung, ist es eher wahrscheinlich,
dass eine ganz neue Schachdoktrin von ähnlich revolutionärem
Charakter entsteht
, nachdem riesige Mengen an
Wissen akkumuliert wurden.
"Time und Tempo" (sic!): (363)
Schwarz am Zug gewinnt, Weiß am
Zug gewinnt aber auch. Daraus schließt Hesse für
diese weit fortgeschrittene Partie: "In der Bildstellung
ist also der Anzugsvorteil des Weißen konserviert
", will sagen, Weiß ist noch immer
einen Halbzug voraus (im Vorteil). Das wäre aber
nur der Fall, wenn beide Seiten bis hierher optimal
gespielt hätten, da jeder noch so kleine Fehler
das relative Ausgangsgleichgewicht (+ 0,5 t für
W, - 0,5 t für S) stört, oder wenn beide Seiten
die quantitativ gleiche Fehlermenge begangen hätten.
In diesen Fällen allerdings müsste nach heutigem
Schachwissen die Partie Remis enden. Könnte Weiß
nämlich seinen Anzugsvorteil gesetzmäßig,
quasi kombinatorisch durchsetzen – was Hesses Äußerung
in der Konsequenz behauptet – gäbe es kein
Schach mehr. Davor bewahre uns Gott!
Zu guter Letzt scheint selbst der Schach-Begriff
Hesses uneindeutig. Die "schachliche Unschärferelation"
z. B. die im Kapitel "Eine Unbestimmtheitsrelation"
behandelt wird, gibt es vermutlich nur im Problemschach,
nicht im eigentlichen Schach-Spiel. Wie überhaupt
die "Schachwelt" im erweiterten Sinne verstanden
werden muss,; nahezu die Hälfte (über den
Daumen gepeilt) der angeführten Beispiele stammen
aus dem Kunstschach, präsentieren oft "unmögliche"
oder zumindest unwahrscheinliche Stellungen; das mag
nicht jedermanns Sache sein.
An dieser Stelle soll abgebrochen
werden. Hesse sieht sich als "Jäger und Sammler"
(394). Ich halte ihn quantitativ mehr für einen
Sammler als Jäger, finde das Buch aber gerade dort
interessant, wo es im Sinne des Titels – Expeditionen
sind Forschungsreisen oder Kriegszüge –, der
Entdeckungsreise und des Abenteuers, jagt.
Es ist das wohl wichtigste deutschsprachige
Schachbuch der letzten Jahre und das beste dazu. Ob
es aber gut ist, das muss offen bleiben.
Wen das Schach als Kulturfaktor interessiert,
der muss es haben. Es dürfte sich jedoch lohnen,
auf eine zweite, wesentlich verbesserte Auflage
zu warten.
--- Jörg Seidel, 07.01.2007 ---
[1]
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,456457,00.html
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.
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