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LITERATUR
13. Februar 2002

"Das königliche Spiel" von Jakob Julius David

Ein Ding mag noch so närrisch sein,
Es sei nur neu: so nimmts den Pöbel ein.
Er sieht, und er erstaunt. Kein Kluger darf ihm wehren.
Drauf kömmt die Zeit, und denkt an ihre Pflicht;
Denn sie versteht die Kunst, die Narren zu bekehren,
Sie mögen wollen oder nicht.

Ernst Jünger


Kann ein Autor, der Titel wie "Das Blut", "Ein Regentag", "Neigung", "Stromabwärts", "Am Wege sterben" oder "Stimmen der Dämmerung" veröffentlicht, kann der in unserer Zeit auf große Aufmerksamkeit hoffen? Wohl kaum, er konnte es nicht einmal zu Lebzeiten um die Jahrhundertwende und während der folgenden tragischen Jahrzehnte, als man noch viel von Nihilismus sprach, als Weltkriege Erfahrung und Stimmung der Menschen bestimmten, als Wirtschaftskrisen und enttäuschte Hoffnungen vielfältig thematisiert wurden. Die Zeit für eine romantische Verklärung, für Trauer, Wehmut und Sorge im Angesicht des Glaubensverlustes und der Verweltlichung, die Zeit der darauf folgenden Weltschmerzliteratur der Generation Nikolaus Lenaus, war vorbei, nur noch wenige Leser kümmerten sich um die programmatischen Geschichten eines begabten Autoren, der um fünfzig Jahre zu spät kam mit seinen pessimistischen Gefühlen.

Jakob Julius David
(1859-1906)

Dieser Zuspätgekommene hieß Jakob Julius David, starb 1906 in Wien, noch keine fünfzig Jahre alt. Sein Werk ist recht umfänglich, sieben Bände umfasst die 1908 erschienene Werkausgabe [1], vereinzelt schrieb man Dissertationen [2] darüber, und doch blieb sein Schaffen nahezu unbemerkt. Wenige, vielleicht überhaupt nur einer der kommenden großartigen Autoren, hat von David gelernt. Man muß schon lange suchen, um selbst in Literaturgeschichten substantielle Aussagen zu finden; Universallexika schweigen sich ohnehin meist aus, nichts im riesigen "Kindlers", ein paar Platitüden im Telegrammstil im "Deutschen Literaturlexikon", nicht viel mehr im "Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller", auch die "Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur" bringt im Band fünf kaum mehr, allein die ob ihrer Ideologielastigkeit sonst so oft gescholtene "Geschichte der Deutschen Literatur" aus dem volkseigenen Verlag "Volk und Wissen" widmet dem Mann ein paar Seiten [3]. Da ist von "Bevorzugung knapper Kausalbezüge" die Rede und von "wenig leidenschaftlicher Diktion", von der "geschichtspessimistischen Seite seines Weltbildes", und "der gefühlsmäßigen Teilnahme für die Unterdrückten", vom "Wiener Milieu" und von einer "Kritik an der Verstädterung", und man ahnt nun, weshalb dieses Monumentalwerk einer Literaturgeschichte oft gescholten wurde. Und doch wird man alles in der kleinen Erzählung, die es hier zu besprechen gilt, wieder finden. Sie heißt "Das königliche Spiel" und sie ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse.

Literatur aus vergangenen Zeiten oder fremden Kulturen bezieht einen nicht unerheblichen Reiz daraus, dass der Leser erfährt, wie man die Dinge noch ganz anders betrachten kann und wie sie sich veränderten, entwickelten, letztlich aus der Infragestellung der ansonsten unreflektierten Gegebenheiten. Davids Erzählung nun führt den Leser in die Hochzeit der Wiener Cafés und damit in einen kulturellen Raum, der fast nur noch als Erinnerung lebt. Dabei muss es ein äußerst angenehmes Klima gewesen sein, als die Männer noch - leider nur sie - beisammen saßen, genüsslich eine Zigarre schmauchten, Politik und Tagesereignisse diskutierten, Zeitung lasen, Billard spielten oder eben Schach. Es ist die Zeit, dies ganz nebenbei, in der es in Plauen etwa noch eine Ortsgruppe der "Immanuel-Kant-Gesellschaft" gab, in welcher sich mehr als hundert Mitglieder regelmäßig über philosophische Themen austauschten, Vorträge namhafter Gelehrter hörten [4] - einer unter den reisefreudigen Gelehrten der Kant-Gesellschaft hieß Emanuel Lasker -, gemeinsame Lektüren bestritten etc. Und das war Provinz, Städte wie Berlin, München oder Wien waren noch was ganz anderes. Wien war das Zentrum schlechthin, seine Rolle für das Schachspiel ist wohlbekannt.

In diesem Wien saß der Erzähler in einem Café und spielte mit Adolf Adolfi Schach um Bezahlung. Adolfi ist ein Schachmeister und eine bemerkenswerte, rätselhafte Gestalt dazu, mit einprägsamer Physiognomie, mit wildem energischen Blick, der "eine solche Überlegenheit, ein so heftiges Siegergefühl" ausstrahlte, dass den Erzähler "mehr der Anteil an ihm", an diesem faszinierenden Adolfi, "als am Spiel bewogen hatte", die Partie zu beginnen und natürlich zu verlieren. Die beiden waren seit Jahren gut miteinander bekannt und wussten doch nichts voneinander. Trotz aller Bewunderung entgeht dem aufmerksamen Beobachter nicht die Differenz zwischen Erscheinung und Wesen. "Er war ein sehr armer Teufel", gesteht er sich, "aber er vergab sich nichts." Arm nicht nur im finanziellen Sinne, sondern auch in der Wahrnehmung, denn "gesehen hatte er eigentlich nichts von der Welt, die er bereist. Denn ob er von der sonnigen Havanna sprach, ob von Hastings oder Nürnberg, er wusste nur von den Kämpfen, die dort auf dem Brette geschlagen worden waren. Sonne und Menschen waren ihm gleichgültig und ganz aus dem Gedächtnis geschwunden, das sonst jeden einzelnen Zug, den ganzen Gang einer Partie mit untrüglicher Treue aufnahm und für immer verwahrte." Aber was das Interesse des Erzählers vor allem erweckt, das ist dies, und man muss sich den Satz auf der Zunge zergehen lassen, eingedenk der Einsicht, weshalb Literatur vergangener Tage uns immer und immer wieder angeht: "Denn er war mir aufgefallen durch sein Bestreben, auch als Berufsspieler die Eigenschaften eines Gentleman sich zu wahren", zwei Dinge folglich, die man vor hundert Jahren nicht einfach zusammendenken konnte: Berufsspieler und Gentleman, das klang wie Hure und Dame.

Die beiden suchen schließlich, nach beendeter Partie und Bezahlung, ein anderes Lokal auf, in dem man besser reden könne, denn reden, das schien der Meister zu wollen. Schon da fällt dessen Ambivalenz auf, dessen Schwäche, es lag "eine gewisses Willensschwäche um den Mund". Gewöhnlich aßen sie dann noch etwas, Adolfi "demonstrierte gern" oder zeigte Erinnerungen vergangener glanzvoller Zeiten, Zeitungsartikel von den großen Turnieren, Zuschriften "berühmter Meister an ihn" und anderes. Nur diesmal blieb er still, wirkte unruhig, als belaste ein großer Schmerz sein Herz. "Etwas musste ihm geschehen sein, oder in seiner Seele hob sich etwas und brachte sie in unruhige Wallung." Schließlich bricht es aus ihm heraus, es bedurfte nur einer Frage: "Wie kamen Sie eigentlich zu dem Geschäft?" – gemeint ist das professionelle, d.h. auf Gelderwerb ausgehende Schachspiel. Aus Neigung und Schicksal, lautet die lakonische Antwort, "aus Neigung, und weil einem auf der Gotteswelt nichts übrig bleibt". Und wie es dazu kam, das erzählt er nun. Gebürtiger Rumäne sei er, in wohlhabender Familie aufgewachsen, von der elterlichen Liebe fast erdrückt. Nur die Gesundheit machte ihm als Kind schon zu schaffen, sie war das große Manko in seinem frühen Leben. (Daran, nebenbei, erkennt man tatsächlich den Literaten der Depression in David, denn statt der Gesundheit hätten es ebenso die historischen Ereignisse oder die sozialen Strukturen sein können, die sein künftiges Leben bestimmten, aber es war eben der eigene schwächliche Körper, man war es selbst oder aber Gottes Vorsehung.) So lag der an sich begabte Junge oft krank darnieder und frönte geliebten Sprachstudien.

Vom Vater erlernte er das Schachspiel, seine natürliche Begabung gestattete es, ihn, den stärksten Spieler der Stadt, bald regelmäßig zu schlagen. Er wurde zur kleinen Sensation, sein Ruhm verbreitete sich im Ort. Doch den Vater machte es nicht froh, er jammerte und seufzte, "was für ein Talent fürs Geschäft" durch die Krankheit verloren gehe. Statt sich für das Geschäft bereit zu halten und den normalen bürgerlichen Weg zu gehen, widmete sich der verzärtelte und verwöhnte Jüngling seinen stillen Schachstudien, die ihn in bislang unerreichte Gefilde führten. Doch schließlich schien sein Leben doch in den großen Strom der Bürgerlichkeit und des Normalen einzufließen, als er endlich eine Nichte heiratete, die zudem ein gutes Vermögen mitbrachte, die er liebte, die ihm Kinder gebiert; über diesem Glück vergisst er selbst das Spiel. Das wirkliche Leben jedoch tritt neu an ihn heran, als der Vater stirbt und Adolfi das große erfolgreiche Geschäft erbt, in dem er bislang nur mitarbeitete. Nun rächt sich die Weltfremdheit, er weiß damit nichts anzufangen. All das Geld, die zahlreichen Transaktionen, die Verantwortung, das erschlägt ihn, er "will durchaus liquidieren", will von dem Gelde leben aber die Konventionen reißen ihn aus diesen Träumen in Gestalt seiner Frau, die es als Schande empfindet, dass sich ein Mann mit dreißig Jahren "hinter den Ofen setzt und Gott lobt". Wider seinen Willen und wider böse Ahnungen übernimmt er die Firma und führt sie zielsicher in den Ruin. Scham und Not vertreiben das nun gestrandete Paar mitsamt den Kindern aus der rumänischen Heimat, man geht nach Wien, der großen Stadt, die doch jedem eine Chance zu bieten verspricht. Nachdem das Schicksal weiter seinen Lauf nimmt, ein neuer Handel gerade so geht, "wie's am schlimmsten ist - nicht so schlecht, dass man es fortschmeißen dürfte, und nicht so gut, dass man existieren kann", tritt schließlich die Neigung herzu um das Schicksal zu vollenden. Die Verzweiflung treibt Adolfi ins Kaffeehaus, wo sich Ausländer tummeln mögen, denen man in fremden Sprachen vielleicht eine Führung anbieten könne, tatsächlich aber schaut er "zufällig an einen Schachtisch" und schaut zu, "wie zwei spielen. Der eine gewinnt immer. Sein Partner geht fort, er bleibt sitzen" und fragt Adolfi, ob er eine Partie wage, eine Partie Schach natürlich und mit Einsatz. Anfangs ist es Neugierde, ob er es noch könne und er kann es noch, besser als die anderen, wird sicherer, die Partner wechseln und siehe da, nach sieben Stunden Spiel und Arbeit hat er fünf Gulden, ein kleines Vermögen, zusammen. Es macht sich bezahlt, vor allem aber ist es Medizin für die geschundene Seele. "Schon stehen Zuschauer um uns und murmeln, und ich merk's - da bin ich wieder wer, und wenn ich sonst in der Welt nichts bin. Und es kommt wie Mut und Selbstvertrauen über mich, und ich ersinne Kniffe und Hinterhalt und Angriff immer schlauer und kecker, und ich vergesse alles und sehe nur meinen Vater vor mir, wie der gestrahlt hat vor Stolz und vor Freude, wenn Hieb auf Hieb gekommen ist".

Nun hätten alle Probleme gelöst sein können, allein Adolfis Frau kann diese Erniedrigung – ja, sie begreift es als Erniedrigung! – nicht ertragen: "‘Adolf, versprich mir eins‘, und sie hat's so gehaucht, damit von den Kindern keins wach wird. ‚Du wirst nicht mehr anders spielen, als nur zu deinem Vergnügen, und nicht ums Geld. Ich will's nicht. Ich will nicht, dass mein Mann ein Spieler ist von Profession. Sei, was du willst, klopf Steine meinetwegen - nur das nicht". Doch wo Schicksal und Neigung sich derart entsprechen, da gibt es kein Widerstehen, selbst für den stärksten Willen nicht, da wird die Neigung zur Sucht, der man nachgeben kann, um an ihr zugrunde zu gehen, oder die man unterdrücken kann, um gleichfalls zugrunde zu gehen. Gibt man ihr nach, so sucht man Rechtfertigungen: "Ich bin also nur zuschauen gegangen - und wieder hab' ich's gesehen, sowie ich nur hereintrete: Hier gelte ich was. Der Wirt war höflich, der Kellner eifrig. Man fordert mich auf, und ich spiele und gewinne noch mehr wie das erstemal", und schließlich: "Das ist kein Spiel wie ein anderes. Das ist eine Kunst und eine Wissenschaft. Da kämpfen nicht die dummen Karten und wie sie fallen, sondern der Verstand mit dem Verstand und die Persönlichkeit mit der Persönlichkeit. Wer klüger, wer besonnener ist, wer immer und in jeder Lage schärfer sieht, der gewinnt. Und es ist eine mächtige Erziehung dabei. Denn ich muss meine Aufregung unterdrücken, dass sie mir nicht bis zum Kopf steigt. Und gerade wenn's von allen Seiten eindringt auf mich, so muss ich erst kaltes Blut bewahren und aufpassen: wo ist das eine Mausloch, durch das ich schlüpfen kann, um über eine Weile wieder zur Vergeltung ihm die Zähne zu zeigen? Wir sind Künstler, Herr! und man soll uns als Künstler achten! Da hab' ich in Hastings eine Partie gegen den Meister der Welt gespielt - wir sind fertig, und er reicht mir die Hand: ‚Es hat mich in meinem Leben mancher besiegt, Adolfi, aber so elegant und so überlegen wie Sie noch keiner.‘ Ist das nichts? Und warum heißt man uns allgemein Meister? Und von so einer Kunst, die so viel Studium kostet und ein solches Vergnügen bereitet, soll man nicht leben können, und nicht einmal leben dürfen! Und was wir schaffen, das hat doch sogar seine Dauer. Die Hastingser Partie - ich muss sie Ihnen einmal vorspielen, es ist auf beiden Seiten nicht der kleinste Fehler darin, und sie ist zu schön! - kommt gewiss in alle Lehrbücher, und jeder kann sie sich nachziehen, kann sich damit freuen und aus ihr lernen, und der Adolfi ist unsterblich". So sprudelt es aus ihm hervor und man muss sich nicht an den unrealistischen Momenten dieser Erzählung aufhalten, die eine an sich unmögliche Schachkarriere beschreibt – der Meister der Welt kann nur Lasker gewesen sein – sondern man kann den realistischen Teil ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, der eine Geschichte erzählt, die in ihrem Glanz und Gloria ebenso historisch belegt ist wie in ihrer Tragik. Adolfis Frau stirbt, wohl aus Gram, denn die Geschichte nimmt den Lauf ihrer inneren Logik und da ist kein Platz mehr für die Familie. Nun beginnt Karriere! Der Aufstieg! Es wartet die Welt, es warten die Turniere, es wartet New York und ganz Amerika. Dort kann man die Freiheit genießen, die Gastfreundschaft und, vor allem dies, die Bewunderung! Kein Volk bewundert so nutzlose Dinge wie das Schach so freigiebig und naiv wie die Amerikaner, aber keines ist auch so schnell müde der Bewunderung. Die muss man sich immer und immer wieder hart erarbeiten, da bleibt kein Platz für andere Dinge. Schach wird zum Sinn und Zweck des Lebens, überall und immer gibt es nur das Schach, es wird zur Obsession, zur Lust und zur Qual: "Dabei habe ich nichts gedacht, nur Schach. Nichts geträumt, nur Schach". Man kann von Bewunderung nicht leben, also muss man Turniere gewinnen, doch das stellt sich als schwieriger heraus, als gedacht, denn mit dem Erfolg kommt der psychische Druck, die selbst auferlegte Verantwortung, der Adolfi noch nie gewachsen war. Ein Teufelskreis, eine Endlosschleife, eine Rechnung, die der Körper zahlt. "Und da hab' ich die Nächte durchgespielt, nur um zu essen zu haben. Und wenn ein freier Tag war, und es hat sich machen lassen, so hab' ich eine Vorstellung gegeben, nämlich ich habe mich gleichzeitig mit so vielen gemessen, wie eben Lust dazu hatten. Dann, wo ich mein Bestes hätte zeigen müssen, so war ich müd', und die Nerven haben mir nicht gehorcht".

Harry Nelson Pillsbury
(1872-1906)

Hier wird die Parallele zu einer historischen Gestalt besonders deutlich. Kein Spieler von internationalem Format hat sich je so prostituiert wie Harry Nelson Pillsbury. Mit der Geduld eines Zirkuspferdes absolvierte er tagtäglich, meist gleich mehrfach, die immer gleiche Prozedur: Schachspielen für ein paar Dollar und das Publikum. Turniere waren da schon eher die Ausnahme, viel mehr durchreiste er Amerika, getragen von einer nationalen Siegesstimmung, gab unzählige Simultan- und Blindsimultanvorstellungen, zeigte dabei gerne noch andere Kunststückchen, wie (blind)simultane Schach-, Dame-, und Kartenspiele, ließ sich zu Memorierungsübungen verleiten, putschte sich immer und immer wieder zu unsinnigen Höchstleistungen auf. Wenn man diese Geschichte verfolgt [5], so weiß man nicht, ob man zuerst bewundern oder verabscheuen und bedauern soll. Schließlich starb der Sensationssieger von Hastings 1895 - er schlug dort Lasker, Steinitz, Tarrasch und Tschigorin - 34-jährig.

Adolfi, zurück zu unserer Geschichte, bemerkt dies wohl und begreift auch erste Zusammenhänge: "Dazu das ewige Wandern! Denn Sie dürfen nicht lang in einer Stadt sein, wenn man nicht seine Stellung oder seinen Beruf in ihr hat. Sonst nutzt man sich ab, und die Leute finden auf einmal, sie hätten schon genug an einen verloren. Das bringt einen um, und man begreift's an sich selbst, warum die besten unter uns früh mit Elend zugrunde gehen. Im Wahnsinn; am Rückenmark; im Selbstmord. Und die Furcht: wie wird's morgen, und wie wirst du bestehen? Und sagt man nicht schon von dir: Adolfi geht zurück? Kein Geiger oder Schauspieler hat's so schlimm. Keine Kunst meint's so bös". Drei Jahre steht er diesen Rummel durch, dann entscheidet er sich zurück in die Heimat zu gehen, wo er seine Tochter, der einzige Mensch, der ihm liebend zugewandt blieb, zu sehen hofft, gar gemeinsame Pläne schmiedet. Doch auch dies stellt sich als Trugschluss heraus. Die Tochter hat sich verändert, ihr fröhliches Wesen abgelegt, sie ist traurig und depressiv, sie wird schließlich Selbstmord begehen. Hätte sie noch einen Vater gehabt, alles wäre ganz anders gekommen, aber der Vater war weit weg, schrieb nur von seinen Erfolgen, deren versteckte Tragik zu leicht zu durchblicken war und hatte sonst nichts mehr mit ihr gemein. So wird dieser sinnlose Tod wohl auf immer an Adolfi hängen bleiben, geopfert auf dem Altar der Selbstliebe, stets die unbeantwortbare Frage vor Augen: warum hat sie es getan? Als dies alles gesagt war, blieb ihm nur noch ein einziger, ein trostloser Satz, "seine Stimme sank bis zum Unvernehmlichen –‚wollen wir nicht zur Beruhigung ein paar Partien Schach spielen?"

Mit dieser tragischen Verkehrung von Ursache und Wirkung endet die kleine, eher flüchtige Skizze mit dem irreführenden Namen "Das königliche Spiel", der entweder einem oberflächlichen Lapsus zu schulden ist oder aber eine relativierende Interpretation darstellt. Von "königlich" kann hier kaum die Rede sein, wie die Grundthematik überhaupt vom Schach zu abstrahieren ist. Es spielt lediglich eine Rolle, da es tatsächlich einen erhöhten intrinsischen Suchtfaktor aufweist, es ist daher kein Zufall, dass es immer wieder mal in der gehobenen Literatur auftaucht, interessanterweise stets konträr zu szeneinternen Selbstbejubelungen. Das Schach fungiert im Leben Adolfis sowohl als Strohhalm, Rettungsring als auch als Bleigewicht, anders gesagt, es hat keinen an-sich-moralischen Wert, dieser wird ihm erst im Umgang mit ihm verliehen. Es bleibt ohnehin die Ausgangsüberlegung aller hochwertigen literarischen Verarbeitung des Schachmotivs und nicht umgekehrt, es muss immer Mittel bleiben, darf nie Zweck werden – ein geglücktes Gegenbeispiel existiert meines Wissens nicht. Erneut zeigt sich, dass es allemal besser ist, wenn ein Dichter sich des Themas annimmt, statt ein Schachspieler zu dichten beginnt. Zudem zeigt die Erzählung, wie ein professioneller Spieler denken könnte und dies vielleicht auch in einsamen abendlichen Stunden in einem Hotel in der Fremde tut, besäße er die Sensibilität und allgemeine Intelligenz eines wachen künstlerisch veranlagten empfindsamen Geistes.
David ist nun kein Schriftsteller allerersten Ranges, auch diese Erzählung ist stellenweise eckig und kantig vorgetragen, mag stilistisch – vor allem der bruchstückhaften Syntax wegen – nicht immer überzeugen. Sein Werk ist, wie eingangs betont, wesentlich vergessen und war auch zu Lebzeiten kein bedeutender Diskussionsstoff. Kaum jemand nahm überhaupt sein Ableben im Jahre 1906 wahr, nur ein Nekrolog eines noch sehr jungen Künstlers ist überliefert: "Zweierlei soll bleiben", schreibt der 25jährige, "Sein Werk: für alle, die auch Freude an ernster Kunst, an großer Schöpfung haben können. Und dann seine Bitterkeit: sie muss heute in uns sein und ihn anklagend überleben". Es irrte der junge Schriftsteller in der ersten Prognose und behielt recht in der zweiten. Den Nekrolog schrieb Stefan Zweig.

Stefan Zweig
(1881-1942)

Die "Schachnovelle" wird seinen Namen auf immer mit der Schachwelt verbinden. In der Tat liest sie sich, bei vergleichender Lektüre, wie die Fortführung des Versuches Davids, das Thema literarisch voll auszukosten, mit begnadeteren Mitteln. Nach alledem darf man davon ausgehen, dass Zweig diese Erzählung kannte, gut kannte und es wäre eine vertiefende Untersuchung wert, aufzuzeigen, wie sehr sie ihn bei der Erschaffung seines letzten Werkes vor dem Selbstmord, beeinflusste. Die Figur Adolfis jedenfalls scheint sich in beiden Protagonisten der "Schachnovelle", in Czentovic, dem bäuerlich-dummen und arroganten Weltmeister und Dr. B. dessen schachliche Kenntnisse auf die Zeit der grausamen Einzelhaft zurückzuführen waren, neu und auf höherer, künstlerisch wesentlich gelungenerer, vor allem dramatischerer Stufe wiederzufinden, manchmal bis in die Wortwörtlichkeit, mehr noch in die Bildlichkeit hinein. Vor allem die Besessenheit und Einseitigkeit wird als Indiz zu gelten haben, dieses "dabei habe ich nichts gedacht, nur Schach: Nichts geträumt, nur Schach" Adolfis und dieses noch mehr ausgekostete Gegenstück des Dr. B., der sich schließlich "eine Schachvergiftung" holt: "Es war eine Besessenheit, deren ich mich nicht erwehren konnte; von früh bis nachts dachte ich an nichts als an Läufer und Bauer und Turm und König und a und b und c und Matt und Rochade ... ich konnte nur Schach denken, nur in Schachbewegungen, Schachproblemen – eine neue Partie und noch eine und noch eine". Wie Czentovic "ganz Amerika von Ost nach West mit Turnierspielen abklappert" um mit einer "sogar oft ordinären Habgier herauszuholen, was an Geld herauszuholen war", von Stadt zu Stadt reisend, in den billigsten Hotels wohnend, in "den kläglichsten Vereinen" Simultanveranstaltungen gab, so in etwa muss man sich das viel weniger ausgemalte Leben des armen Adolfi vorstellen. Der berichtete selbst von der quijotesken Beeinträchtigung der Wahrnehmung und dem Eindringen des Schachs ins Unbewusste: "Wenn ich einen großen Platz mit einem Turm in der Mitte vor mir gesehen hab‘, so hab‘ ich mir ihn in Gedanken in die vierundsechzig Felder geteilt, und der Kirchenturm war der König und die Häuser waren Steine, und sie sind marschiert, und ich habe angegriffen und verteidigt." und Zweigs Dr. B. sekundiert kongenial: "...manchmal wachte ich mit feuchter Stirn auf und erkannte, dass ich sogar im Schlaf unbewusst weitergespielt haben musste, und wenn ich von Menschen träumte, so geschah es ausschließlich in den Bewegungen des Läufers, des Turms, im Vor und Zurück des Rösselsprungs." Beiden tragischen Figuren wird das Schach zum Verhängnis als Droge, der eine ist auf Entzug, der andere versucht seinen Schmerz weiterhin damit zu betäuben. Und wenn Stefan Zweig schließlich seinen Erzähler sagen lässt: "Ich wusste wohl aus eigener Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des ‚königlichen Spiels‘", dann mag er gut und gerne an gleichnamige Erzählung Davids gedacht haben, dessen Werk bleiben sollte und dessen Bitterkeit in der berühmten Novelle zu neuem Leben erweckt wurde. Bis hin zur physischen Beschreibung der beiden Opfer des Spiels reichen die Parallelen, die rastlose Nervosität, der charismatisch geformte Kopf und die erzeugten Bilder: das Aufglühen des Gesichts im Schein des aufflammenden Streichholzes, bis in diese Details, bediente sich der jüngere größere Autor beim historischen Vorbild. Vor allem aber, damit soll die eher auf Indizien sich stützende Vergleichsarbeit hier beendet sein, vor allem aber ist es die psychologische Komponente, die beide Autoren eint, das Interesse an Figuren, die sich bewusst oder, im Falle Czentovic auch schicksalhaft, verarmen und auf Einseitigkeit trimmen. "Alle Arten von monomanischen, in eine einzige Idee verschlossenen Menschen haben mich zeitlebens angereizt" – das klingt fast wie ein schriftstellerisches Testament Zweigs -, "denn je mehr sich einer begrenzt, um so mehr ist er andererseits dem Unendlichen nahe; gerade solche scheinbar Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen Materie sich termitenhaft eine merkwürdige und durchaus einmalige Abbreviatur der Welt." [6]

 

Die Erzählung ist im Internet unter http://www.buecherzirkel.de nachzulesen.

 

 

--- Jörg Seidel, 13.02.2002 ---


[1] David, Jakob Julius: Gesammelte Werke. Hrsg. E. Heilborn u. E. Schmidt. München, Piper 1908. 7 Bde.
[2] David Kloos: Jakob Julius David als Novellist. 1930 Diss. Freiburg/Breisgau 1930.
[3] Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 8.2. Von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Berlin (Ost) 1975. S. 977 - 982
[4] vgl. Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift. Band XXIX, Heft 1/2. Berlin 1924. Seite 337
[5] vgl. American Chess Magazine 1899/7, 8 und 9, um nur wenige Beispiele dieser scheinbar unendlichen Geschichte zu geben
[6] siehe auch den erhellenden Artikel von C.P. Ravilious: Stefan Zweig's Chess Novella. A new approach to "The Royal Game". in: Kingpin 34, Seite 20 - 24; die meisten englischsprachigen Ausgaben bringen die Schachnovelle übrigens unter dem Titel "The Royal Game".


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