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"Das königliche Spiel" von Jakob Julius David
Ein Ding mag
noch so närrisch sein,
Es sei nur neu: so nimmts den Pöbel ein.
Er sieht, und er erstaunt. Kein Kluger darf ihm wehren.
Drauf kömmt die Zeit, und denkt an ihre Pflicht;
Denn sie versteht die Kunst, die Narren zu bekehren,
Sie mögen wollen oder nicht.
Ernst Jünger
Kann ein Autor, der Titel wie "Das Blut",
"Ein Regentag", "Neigung", "Stromabwärts",
"Am Wege sterben" oder "Stimmen der Dämmerung"
veröffentlicht, kann der in unserer Zeit auf große
Aufmerksamkeit hoffen? Wohl kaum, er konnte es nicht
einmal zu Lebzeiten um die Jahrhundertwende und während
der folgenden tragischen Jahrzehnte, als man noch viel
von Nihilismus sprach, als Weltkriege Erfahrung und
Stimmung der Menschen bestimmten, als Wirtschaftskrisen
und enttäuschte Hoffnungen vielfältig thematisiert
wurden. Die Zeit für eine romantische Verklärung,
für Trauer, Wehmut und Sorge im Angesicht des Glaubensverlustes
und der Verweltlichung, die Zeit der darauf folgenden
Weltschmerzliteratur der Generation Nikolaus Lenaus,
war vorbei, nur noch wenige Leser kümmerten sich
um die programmatischen Geschichten eines begabten Autoren,
der um fünfzig Jahre zu spät kam mit seinen
pessimistischen Gefühlen.
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Jakob Julius
David
(1859-1906)
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Dieser Zuspätgekommene hieß
Jakob Julius David, starb 1906 in Wien, noch keine fünfzig
Jahre alt. Sein Werk ist recht umfänglich, sieben
Bände umfasst die 1908 erschienene Werkausgabe
[1], vereinzelt schrieb
man Dissertationen [2] darüber,
und doch blieb sein Schaffen nahezu unbemerkt. Wenige,
vielleicht überhaupt nur einer der kommenden großartigen
Autoren, hat von David gelernt. Man muß schon
lange suchen, um selbst in Literaturgeschichten substantielle
Aussagen zu finden; Universallexika schweigen sich ohnehin
meist aus, nichts im riesigen "Kindlers",
ein paar Platitüden im Telegrammstil im "Deutschen
Literaturlexikon", nicht viel mehr im "Lexikon
deutschsprachiger Schriftsteller", auch die "Illustrierte
Geschichte der Deutschen Literatur" bringt im Band
fünf kaum mehr, allein die ob ihrer Ideologielastigkeit
sonst so oft gescholtene "Geschichte der Deutschen
Literatur" aus dem volkseigenen Verlag "Volk
und Wissen" widmet dem Mann ein paar Seiten [3].
Da ist von "Bevorzugung knapper Kausalbezüge"
die Rede und von "wenig leidenschaftlicher Diktion",
von der "geschichtspessimistischen Seite seines
Weltbildes", und "der gefühlsmäßigen
Teilnahme für die Unterdrückten", vom
"Wiener Milieu" und von einer "Kritik
an der Verstädterung", und man ahnt nun, weshalb
dieses Monumentalwerk einer Literaturgeschichte oft
gescholten wurde. Und doch wird man alles in der kleinen
Erzählung, die es hier zu besprechen gilt, wieder
finden. Sie heißt "Das königliche Spiel"
und sie ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse.
Literatur aus vergangenen Zeiten oder
fremden Kulturen bezieht einen nicht unerheblichen Reiz
daraus, dass der Leser erfährt, wie man die Dinge
noch ganz anders betrachten kann und wie sie sich veränderten,
entwickelten, letztlich aus der Infragestellung der
ansonsten unreflektierten Gegebenheiten. Davids Erzählung
nun führt den Leser in die Hochzeit der Wiener
Cafés und damit in einen kulturellen Raum, der
fast nur noch als Erinnerung lebt. Dabei muss es ein
äußerst angenehmes Klima gewesen sein, als
die Männer noch - leider nur sie - beisammen saßen,
genüsslich eine Zigarre schmauchten, Politik und
Tagesereignisse diskutierten, Zeitung lasen, Billard
spielten oder eben Schach. Es ist die Zeit, dies ganz
nebenbei, in der es in Plauen etwa noch eine Ortsgruppe
der "Immanuel-Kant-Gesellschaft" gab, in welcher
sich mehr als hundert Mitglieder regelmäßig
über philosophische Themen austauschten, Vorträge
namhafter Gelehrter hörten [4]
- einer unter den reisefreudigen Gelehrten der Kant-Gesellschaft
hieß Emanuel Lasker -, gemeinsame Lektüren
bestritten etc. Und das war Provinz, Städte wie
Berlin, München oder Wien waren noch was ganz anderes.
Wien war das Zentrum schlechthin, seine Rolle für
das Schachspiel ist wohlbekannt.
In diesem Wien saß der Erzähler
in einem Café und spielte mit Adolf Adolfi Schach
um Bezahlung. Adolfi ist ein Schachmeister und eine
bemerkenswerte, rätselhafte Gestalt dazu, mit einprägsamer
Physiognomie, mit wildem energischen Blick, der "eine
solche Überlegenheit, ein so heftiges Siegergefühl"
ausstrahlte, dass den Erzähler "mehr der Anteil
an ihm", an diesem faszinierenden Adolfi, "als
am Spiel bewogen hatte", die Partie zu beginnen
und natürlich zu verlieren. Die beiden waren seit
Jahren gut miteinander bekannt und wussten doch nichts
voneinander. Trotz aller Bewunderung entgeht dem aufmerksamen
Beobachter nicht die Differenz zwischen Erscheinung
und Wesen. "Er war ein sehr armer Teufel",
gesteht er sich, "aber er vergab sich nichts."
Arm nicht nur im finanziellen Sinne, sondern auch in
der Wahrnehmung, denn "gesehen hatte er eigentlich
nichts von der Welt, die er bereist. Denn ob er von
der sonnigen Havanna sprach, ob von Hastings oder Nürnberg,
er wusste nur von den Kämpfen, die dort auf dem
Brette geschlagen worden waren. Sonne und Menschen waren
ihm gleichgültig und ganz aus dem Gedächtnis
geschwunden, das sonst jeden einzelnen Zug, den ganzen
Gang einer Partie mit untrüglicher Treue aufnahm
und für immer verwahrte." Aber was das Interesse
des Erzählers vor allem erweckt, das ist dies,
und man muss sich den Satz auf der Zunge zergehen lassen,
eingedenk der Einsicht, weshalb Literatur vergangener
Tage uns immer und immer wieder angeht: "Denn er
war mir aufgefallen durch sein Bestreben, auch als Berufsspieler
die Eigenschaften eines Gentleman sich zu wahren",
zwei Dinge folglich, die man vor hundert Jahren nicht
einfach zusammendenken konnte: Berufsspieler und Gentleman,
das klang wie Hure und Dame.
Die beiden suchen schließlich,
nach beendeter Partie und Bezahlung, ein anderes Lokal
auf, in dem man besser reden könne, denn reden,
das schien der Meister zu wollen. Schon da fällt
dessen Ambivalenz auf, dessen Schwäche, es lag
"eine gewisses Willensschwäche um den Mund".
Gewöhnlich aßen sie dann noch etwas, Adolfi
"demonstrierte gern" oder zeigte Erinnerungen
vergangener glanzvoller Zeiten, Zeitungsartikel von
den großen Turnieren, Zuschriften "berühmter
Meister an ihn" und anderes. Nur diesmal blieb
er still, wirkte unruhig, als belaste ein großer
Schmerz sein Herz. "Etwas musste ihm geschehen
sein, oder in seiner Seele hob sich etwas und brachte
sie in unruhige Wallung." Schließlich bricht
es aus ihm heraus, es bedurfte nur einer Frage: "Wie
kamen Sie eigentlich zu dem Geschäft?" –
gemeint ist das professionelle, d.h. auf Gelderwerb
ausgehende Schachspiel. Aus Neigung und Schicksal, lautet
die lakonische Antwort, "aus Neigung, und weil
einem auf der Gotteswelt nichts übrig bleibt".
Und wie es dazu kam, das erzählt er nun. Gebürtiger
Rumäne sei er, in wohlhabender Familie aufgewachsen,
von der elterlichen Liebe fast erdrückt. Nur die
Gesundheit machte ihm als Kind schon zu schaffen, sie
war das große Manko in seinem frühen Leben.
(Daran, nebenbei, erkennt man tatsächlich den Literaten
der Depression in David, denn statt der Gesundheit hätten
es ebenso die historischen Ereignisse oder die sozialen
Strukturen sein können, die sein künftiges
Leben bestimmten, aber es war eben der eigene schwächliche
Körper, man war es selbst oder aber Gottes Vorsehung.)
So lag der an sich begabte Junge oft krank darnieder
und frönte geliebten Sprachstudien.
Vom Vater erlernte er das Schachspiel,
seine natürliche Begabung gestattete es, ihn, den
stärksten Spieler der Stadt, bald regelmäßig
zu schlagen. Er wurde zur kleinen Sensation, sein Ruhm
verbreitete sich im Ort. Doch den Vater machte es nicht
froh, er jammerte und seufzte, "was für ein
Talent fürs Geschäft" durch die Krankheit
verloren gehe. Statt sich für das Geschäft
bereit zu halten und den normalen bürgerlichen
Weg zu gehen, widmete sich der verzärtelte und
verwöhnte Jüngling seinen stillen Schachstudien,
die ihn in bislang unerreichte Gefilde führten.
Doch schließlich schien sein Leben doch in den
großen Strom der Bürgerlichkeit und des Normalen
einzufließen, als er endlich eine Nichte heiratete,
die zudem ein gutes Vermögen mitbrachte, die er
liebte, die ihm Kinder gebiert; über diesem Glück
vergisst er selbst das Spiel. Das wirkliche Leben jedoch
tritt neu an ihn heran, als der Vater stirbt und Adolfi
das große erfolgreiche Geschäft erbt, in
dem er bislang nur mitarbeitete. Nun rächt sich
die Weltfremdheit, er weiß damit nichts anzufangen.
All das Geld, die zahlreichen Transaktionen, die Verantwortung,
das erschlägt ihn, er "will durchaus liquidieren",
will von dem Gelde leben aber die Konventionen reißen
ihn aus diesen Träumen in Gestalt seiner Frau,
die es als Schande empfindet, dass sich ein Mann mit
dreißig Jahren "hinter den Ofen setzt und
Gott lobt". Wider seinen Willen und wider böse
Ahnungen übernimmt er die Firma und führt
sie zielsicher in den Ruin. Scham und Not vertreiben
das nun gestrandete Paar mitsamt den Kindern aus der
rumänischen Heimat, man geht nach Wien, der großen
Stadt, die doch jedem eine Chance zu bieten verspricht.
Nachdem das Schicksal weiter seinen Lauf nimmt, ein
neuer Handel gerade so geht, "wie's am schlimmsten
ist - nicht so schlecht, dass man es fortschmeißen
dürfte, und nicht so gut, dass man existieren kann",
tritt schließlich die Neigung herzu um das Schicksal
zu vollenden. Die Verzweiflung treibt Adolfi ins Kaffeehaus,
wo sich Ausländer tummeln mögen, denen man
in fremden Sprachen vielleicht eine Führung anbieten
könne, tatsächlich aber schaut er "zufällig
an einen Schachtisch" und schaut zu, "wie
zwei spielen. Der eine gewinnt immer. Sein Partner geht
fort, er bleibt sitzen" und fragt Adolfi, ob er
eine Partie wage, eine Partie Schach natürlich
und mit Einsatz. Anfangs ist es Neugierde, ob er es
noch könne und er kann es noch, besser als die
anderen, wird sicherer, die Partner wechseln und siehe
da, nach sieben Stunden Spiel und Arbeit hat er fünf
Gulden, ein kleines Vermögen, zusammen. Es macht
sich bezahlt, vor allem aber ist es Medizin für
die geschundene Seele. "Schon stehen Zuschauer
um uns und murmeln, und ich merk's - da bin ich wieder
wer, und wenn ich sonst in der Welt nichts bin. Und
es kommt wie Mut und Selbstvertrauen über mich,
und ich ersinne Kniffe und Hinterhalt und Angriff immer
schlauer und kecker, und ich vergesse alles und sehe
nur meinen Vater vor mir, wie der gestrahlt hat vor
Stolz und vor Freude, wenn Hieb auf Hieb gekommen ist".
Nun hätten alle Probleme gelöst
sein können, allein Adolfis Frau kann diese Erniedrigung
– ja, sie begreift es als Erniedrigung! –
nicht ertragen: "Adolf, versprich mir eins,
und sie hat's so gehaucht, damit von den Kindern keins
wach wird. Du wirst nicht mehr anders spielen,
als nur zu deinem Vergnügen, und nicht ums Geld.
Ich will's nicht. Ich will nicht, dass mein Mann ein
Spieler ist von Profession. Sei, was du willst, klopf
Steine meinetwegen - nur das nicht". Doch wo Schicksal
und Neigung sich derart entsprechen, da gibt es kein
Widerstehen, selbst für den stärksten Willen
nicht, da wird die Neigung zur Sucht, der man nachgeben
kann, um an ihr zugrunde zu gehen, oder die man unterdrücken
kann, um gleichfalls zugrunde zu gehen. Gibt man ihr
nach, so sucht man Rechtfertigungen: "Ich bin also
nur zuschauen gegangen - und wieder hab' ich's gesehen,
sowie ich nur hereintrete: Hier gelte ich was. Der Wirt
war höflich, der Kellner eifrig. Man fordert mich
auf, und ich spiele und gewinne noch mehr wie das erstemal",
und schließlich: "Das ist kein Spiel wie
ein anderes. Das ist eine Kunst und eine Wissenschaft.
Da kämpfen nicht die dummen Karten und wie sie
fallen, sondern der Verstand mit dem Verstand und die
Persönlichkeit mit der Persönlichkeit. Wer
klüger, wer besonnener ist, wer immer und in jeder
Lage schärfer sieht, der gewinnt. Und es ist eine
mächtige Erziehung dabei. Denn ich muss meine Aufregung
unterdrücken, dass sie mir nicht bis zum Kopf steigt.
Und gerade wenn's von allen Seiten eindringt auf mich,
so muss ich erst kaltes Blut bewahren und aufpassen:
wo ist das eine Mausloch, durch das ich schlüpfen
kann, um über eine Weile wieder zur Vergeltung
ihm die Zähne zu zeigen? Wir sind Künstler,
Herr! und man soll uns als Künstler achten! Da
hab' ich in Hastings eine Partie gegen den Meister der
Welt gespielt - wir sind fertig, und er reicht mir die
Hand: Es hat mich in meinem Leben mancher besiegt,
Adolfi, aber so elegant und so überlegen wie Sie
noch keiner. Ist das nichts? Und warum heißt
man uns allgemein Meister? Und von so einer Kunst, die
so viel Studium kostet und ein solches Vergnügen
bereitet, soll man nicht leben können, und nicht
einmal leben dürfen! Und was wir schaffen, das
hat doch sogar seine Dauer. Die Hastingser Partie -
ich muss sie Ihnen einmal vorspielen, es ist auf beiden
Seiten nicht der kleinste Fehler darin, und sie ist
zu schön! - kommt gewiss in alle Lehrbücher,
und jeder kann sie sich nachziehen, kann sich damit
freuen und aus ihr lernen, und der Adolfi ist unsterblich".
So sprudelt es aus ihm hervor und man muss sich nicht
an den unrealistischen Momenten dieser Erzählung
aufhalten, die eine an sich unmögliche Schachkarriere
beschreibt – der Meister der Welt kann nur Lasker
gewesen sein – sondern man kann den realistischen
Teil ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, der
eine Geschichte erzählt, die in ihrem Glanz und
Gloria ebenso historisch belegt ist wie in ihrer Tragik.
Adolfis Frau stirbt, wohl aus Gram, denn die Geschichte
nimmt den Lauf ihrer inneren Logik und da ist kein Platz
mehr für die Familie. Nun beginnt Karriere! Der
Aufstieg! Es wartet die Welt, es warten die Turniere,
es wartet New York und ganz Amerika. Dort kann man die
Freiheit genießen, die Gastfreundschaft und, vor
allem dies, die Bewunderung! Kein Volk bewundert so
nutzlose Dinge wie das Schach so freigiebig und naiv
wie die Amerikaner, aber keines ist auch so schnell
müde der Bewunderung. Die muss man sich immer und
immer wieder hart erarbeiten, da bleibt kein Platz für
andere Dinge. Schach wird zum Sinn und Zweck des Lebens,
überall und immer gibt es nur das Schach, es wird
zur Obsession, zur Lust und zur Qual: "Dabei habe
ich nichts gedacht, nur Schach. Nichts geträumt,
nur Schach". Man kann von Bewunderung nicht leben,
also muss man Turniere gewinnen, doch das stellt sich
als schwieriger heraus, als gedacht, denn mit dem Erfolg
kommt der psychische Druck, die selbst auferlegte Verantwortung,
der Adolfi noch nie gewachsen war. Ein Teufelskreis,
eine Endlosschleife, eine Rechnung, die der Körper
zahlt. "Und da hab' ich die Nächte durchgespielt,
nur um zu essen zu haben. Und wenn ein freier Tag war,
und es hat sich machen lassen, so hab' ich eine Vorstellung
gegeben, nämlich ich habe mich gleichzeitig mit
so vielen gemessen, wie eben Lust dazu hatten. Dann,
wo ich mein Bestes hätte zeigen müssen, so
war ich müd', und die Nerven haben mir nicht gehorcht".
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Harry Nelson
Pillsbury
(1872-1906)
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Hier wird die Parallele zu einer historischen
Gestalt besonders deutlich. Kein Spieler von internationalem
Format hat sich je so prostituiert wie Harry Nelson
Pillsbury. Mit der Geduld eines Zirkuspferdes absolvierte
er tagtäglich, meist gleich mehrfach, die immer
gleiche Prozedur: Schachspielen für ein paar Dollar
und das Publikum. Turniere waren da schon eher die Ausnahme,
viel mehr durchreiste er Amerika, getragen von einer
nationalen Siegesstimmung, gab unzählige Simultan-
und Blindsimultanvorstellungen, zeigte dabei gerne noch
andere Kunststückchen, wie (blind)simultane Schach-,
Dame-, und Kartenspiele, ließ sich zu Memorierungsübungen
verleiten, putschte sich immer und immer wieder zu unsinnigen
Höchstleistungen auf. Wenn man diese Geschichte
verfolgt [5], so weiß
man nicht, ob man zuerst bewundern oder verabscheuen
und bedauern soll. Schließlich starb der Sensationssieger
von Hastings 1895 - er schlug dort Lasker, Steinitz,
Tarrasch und Tschigorin - 34-jährig.
Adolfi, zurück zu unserer Geschichte,
bemerkt dies wohl und begreift auch erste Zusammenhänge:
"Dazu das ewige Wandern! Denn Sie dürfen nicht
lang in einer Stadt sein, wenn man nicht seine Stellung
oder seinen Beruf in ihr hat. Sonst nutzt man sich ab,
und die Leute finden auf einmal, sie hätten schon
genug an einen verloren. Das bringt einen um, und man
begreift's an sich selbst, warum die besten unter uns
früh mit Elend zugrunde gehen. Im Wahnsinn; am
Rückenmark; im Selbstmord. Und die Furcht: wie
wird's morgen, und wie wirst du bestehen? Und sagt man
nicht schon von dir: Adolfi geht zurück? Kein Geiger
oder Schauspieler hat's so schlimm. Keine Kunst meint's
so bös". Drei Jahre steht er diesen Rummel
durch, dann entscheidet er sich zurück in die Heimat
zu gehen, wo er seine Tochter, der einzige Mensch, der
ihm liebend zugewandt blieb, zu sehen hofft, gar gemeinsame
Pläne schmiedet. Doch auch dies stellt sich als
Trugschluss heraus. Die Tochter hat sich verändert,
ihr fröhliches Wesen abgelegt, sie ist traurig
und depressiv, sie wird schließlich Selbstmord
begehen. Hätte sie noch einen Vater gehabt, alles
wäre ganz anders gekommen, aber der Vater war weit
weg, schrieb nur von seinen Erfolgen, deren versteckte
Tragik zu leicht zu durchblicken war und hatte sonst
nichts mehr mit ihr gemein. So wird dieser sinnlose
Tod wohl auf immer an Adolfi hängen bleiben, geopfert
auf dem Altar der Selbstliebe, stets die unbeantwortbare
Frage vor Augen: warum hat sie es getan? Als dies alles
gesagt war, blieb ihm nur noch ein einziger, ein trostloser
Satz, "seine Stimme sank bis zum Unvernehmlichen
–wollen wir nicht zur Beruhigung ein paar
Partien Schach spielen?"
Mit dieser tragischen Verkehrung von
Ursache und Wirkung endet die kleine, eher flüchtige
Skizze mit dem irreführenden Namen "Das königliche
Spiel", der entweder einem oberflächlichen
Lapsus zu schulden ist oder aber eine relativierende
Interpretation darstellt. Von "königlich"
kann hier kaum die Rede sein, wie die Grundthematik
überhaupt vom Schach zu abstrahieren ist. Es spielt
lediglich eine Rolle, da es tatsächlich einen erhöhten
intrinsischen Suchtfaktor aufweist, es ist daher kein
Zufall, dass es immer wieder mal in der gehobenen Literatur
auftaucht, interessanterweise stets konträr zu
szeneinternen Selbstbejubelungen. Das Schach fungiert
im Leben Adolfis sowohl als Strohhalm, Rettungsring
als auch als Bleigewicht, anders gesagt, es hat keinen
an-sich-moralischen Wert, dieser wird ihm erst im Umgang
mit ihm verliehen. Es bleibt ohnehin die Ausgangsüberlegung
aller hochwertigen literarischen Verarbeitung des Schachmotivs
und nicht umgekehrt, es muss immer Mittel bleiben, darf
nie Zweck werden – ein geglücktes Gegenbeispiel
existiert meines Wissens nicht. Erneut zeigt sich, dass
es allemal besser ist, wenn ein Dichter sich des Themas
annimmt, statt ein Schachspieler zu dichten beginnt.
Zudem zeigt die Erzählung, wie ein professioneller
Spieler denken könnte und dies vielleicht auch
in einsamen abendlichen Stunden in einem Hotel in der
Fremde tut, besäße er die Sensibilität
und allgemeine Intelligenz eines wachen künstlerisch
veranlagten empfindsamen Geistes.
David ist nun kein Schriftsteller allerersten Ranges,
auch diese Erzählung ist stellenweise eckig und
kantig vorgetragen, mag stilistisch – vor allem
der bruchstückhaften Syntax wegen – nicht
immer überzeugen. Sein Werk ist, wie eingangs betont,
wesentlich vergessen und war auch zu Lebzeiten kein
bedeutender Diskussionsstoff. Kaum jemand nahm überhaupt
sein Ableben im Jahre 1906 wahr, nur ein Nekrolog eines
noch sehr jungen Künstlers ist überliefert:
"Zweierlei soll bleiben", schreibt der 25jährige,
"Sein Werk: für alle, die auch Freude an ernster
Kunst, an großer Schöpfung haben können.
Und dann seine Bitterkeit: sie muss heute in uns sein
und ihn anklagend überleben". Es irrte der
junge Schriftsteller in der ersten Prognose und behielt
recht in der zweiten. Den Nekrolog schrieb Stefan Zweig.
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Stefan Zweig
(1881-1942)
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Die "Schachnovelle" wird seinen
Namen auf immer mit der Schachwelt verbinden. In der
Tat liest sie sich, bei vergleichender Lektüre,
wie die Fortführung des Versuches Davids, das Thema
literarisch voll auszukosten, mit begnadeteren Mitteln.
Nach alledem darf man davon ausgehen, dass Zweig diese
Erzählung kannte, gut kannte und es wäre eine
vertiefende Untersuchung wert, aufzuzeigen, wie sehr
sie ihn bei der Erschaffung seines letzten Werkes vor
dem Selbstmord, beeinflusste. Die Figur Adolfis jedenfalls
scheint sich in beiden Protagonisten der "Schachnovelle",
in Czentovic, dem bäuerlich-dummen und arroganten
Weltmeister und Dr. B. dessen schachliche Kenntnisse
auf die Zeit der grausamen Einzelhaft zurückzuführen
waren, neu und auf höherer, künstlerisch wesentlich
gelungenerer, vor allem dramatischerer Stufe wiederzufinden,
manchmal bis in die Wortwörtlichkeit, mehr noch
in die Bildlichkeit hinein. Vor allem die Besessenheit
und Einseitigkeit wird als Indiz zu gelten haben, dieses
"dabei habe ich nichts gedacht, nur Schach: Nichts
geträumt, nur Schach" Adolfis und dieses noch
mehr ausgekostete Gegenstück des Dr. B., der sich
schließlich "eine Schachvergiftung"
holt: "Es war eine Besessenheit, deren ich mich
nicht erwehren konnte; von früh bis nachts dachte
ich an nichts als an Läufer und Bauer und Turm
und König und a und b und c und Matt und Rochade
... ich konnte nur Schach denken, nur in Schachbewegungen,
Schachproblemen – eine neue Partie und noch eine
und noch eine". Wie Czentovic "ganz Amerika
von Ost nach West mit Turnierspielen abklappert"
um mit einer "sogar oft ordinären Habgier
herauszuholen, was an Geld herauszuholen war",
von Stadt zu Stadt reisend, in den billigsten Hotels
wohnend, in "den kläglichsten Vereinen"
Simultanveranstaltungen gab, so in etwa muss man sich
das viel weniger ausgemalte Leben des armen Adolfi vorstellen.
Der berichtete selbst von der quijotesken Beeinträchtigung
der Wahrnehmung und dem Eindringen des Schachs ins Unbewusste:
"Wenn ich einen großen Platz mit einem Turm
in der Mitte vor mir gesehen hab, so hab
ich mir ihn in Gedanken in die vierundsechzig Felder
geteilt, und der Kirchenturm war der König und
die Häuser waren Steine, und sie sind marschiert,
und ich habe angegriffen und verteidigt." und Zweigs
Dr. B. sekundiert kongenial: "...manchmal wachte
ich mit feuchter Stirn auf und erkannte, dass ich sogar
im Schlaf unbewusst weitergespielt haben musste, und
wenn ich von Menschen träumte, so geschah es ausschließlich
in den Bewegungen des Läufers, des Turms, im Vor
und Zurück des Rösselsprungs." Beiden
tragischen Figuren wird das Schach zum Verhängnis
als Droge, der eine ist auf Entzug, der andere versucht
seinen Schmerz weiterhin damit zu betäuben. Und
wenn Stefan Zweig schließlich seinen Erzähler
sagen lässt: "Ich wusste wohl aus eigener
Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des königlichen
Spiels", dann mag er gut und gerne an gleichnamige
Erzählung Davids gedacht haben, dessen Werk bleiben
sollte und dessen Bitterkeit in der berühmten Novelle
zu neuem Leben erweckt wurde. Bis hin zur physischen
Beschreibung der beiden Opfer des Spiels reichen die
Parallelen, die rastlose Nervosität, der charismatisch
geformte Kopf und die erzeugten Bilder: das Aufglühen
des Gesichts im Schein des aufflammenden Streichholzes,
bis in diese Details, bediente sich der jüngere
größere Autor beim historischen Vorbild.
Vor allem aber, damit soll die eher auf Indizien sich
stützende Vergleichsarbeit hier beendet sein, vor
allem aber ist es die psychologische Komponente, die
beide Autoren eint, das Interesse an Figuren, die sich
bewusst oder, im Falle Czentovic auch schicksalhaft,
verarmen und auf Einseitigkeit trimmen. "Alle Arten
von monomanischen, in eine einzige Idee verschlossenen
Menschen haben mich zeitlebens angereizt" –
das klingt fast wie ein schriftstellerisches Testament
Zweigs -, "denn je mehr sich einer begrenzt, um
so mehr ist er andererseits dem Unendlichen nahe; gerade
solche scheinbar Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen
Materie sich termitenhaft eine merkwürdige und
durchaus einmalige Abbreviatur der Welt." [6]
Die Erzählung ist im Internet unter
http://www.buecherzirkel.de
nachzulesen.
--- Jörg Seidel, 13.02.2002 ---
[1]
David, Jakob Julius: Gesammelte Werke. Hrsg. E. Heilborn
u. E. Schmidt. München, Piper 1908. 7 Bde.
[2] David Kloos: Jakob Julius
David als Novellist. 1930 Diss. Freiburg/Breisgau 1930.
[3] Geschichte der deutschen
Literatur. Bd. 8.2. Von 1830 bis zum Ausgang des 19.
Jahrhunderts. Berlin (Ost) 1975. S. 977 - 982
[4] vgl. Kant-Studien. Philosophische
Zeitschrift. Band XXIX, Heft 1/2. Berlin 1924. Seite
337
[5] vgl. American Chess
Magazine 1899/7, 8 und 9, um nur wenige Beispiele dieser
scheinbar unendlichen Geschichte zu geben
[6] siehe auch den erhellenden
Artikel von C.P. Ravilious: Stefan Zweig's Chess Novella.
A new approach to "The Royal Game". in: Kingpin
34, Seite 20 - 24; die meisten englischsprachigen Ausgaben
bringen die Schachnovelle übrigens unter dem Titel
"The Royal Game".
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