J. R. Kennedy: Schach
dem Vorsitzenden
Nur Maos China ist im Besitz eines "synthetischen
Enzyms", "mit dessen Hilfe das dringendste
Problem der Menschheit in Krieg und Frieden gelöst
werden könne". Daraus folgt mit zwingender
Logik: "Für die Welt bedeutete es Sicherheit,
wenn wir die Formel finden und China entreißen
können".
Jon Hathaway ist der geeignete Mann das
lebenswichtige Geheimnis der falschen Seite abzujagen
und es der richtigen, der Seite der Freiheit, zuzuführen.
Mit neuester Hightech ausgerüstet und unter falscher
Identität, erlangt er das Vertrauen des "großen
Führers" höchstselbst und mit Hilfe einer
Generalvollmacht aus dessen Feder auch den Zugang zu
allem, was Rotchina wert und heilig ist. Das Geheimnis
wird gelüftet, die Mission erfolgreich ausgeführt,
das top-secret-Labor fliegt effektvoll in die Luft,
die Formel gelangt endlich in vertrauensvollere Hände.
Wie dies alles zustande kommt, bleibt
allerdings nur halb aufgeklärt, denn durch Verständlichkeit
zeichnet sich dieses wilde Buch nun wirklich nicht aus.
Trotzdem liest man es paradoxerweise in einem Zug; es
ist durchaus spannend geschrieben, auch wenn es sich
gerade im Finale in unentwirrbarem Chaos verliert, dort
nämlich, wo jeder jeden zu verdächtigen scheint:
Tsuin verdächtigt Nai und Ho Li zweifelt an Mafee
und Po an Fong und Lui auch an Wu oder umgekehrt und
in allen Varianten und vor allem usw. Es benötigt
ein gutes Personengedächtnis, wer dem Geschehen
tatsächlich folgen will, aber das ist ja, wenn
man so möchte, der eigentliche Vorteil derartiger
Bücher, dass man ihnen eben nicht detailliert folgen
können muss, um sie verstehen und genießen
zu können.
Seine größte Stärke besteht
wohl in der authentisch wirkenden Beschreibung des Lebens
im China der 60er Jahre unter den Zwängen der alles
beherrschenden Ideologie. Großartig geschildert
etwa sind die Szenen parteilich verordneter "Selbstkritik"
oder General Tsuis peinigendes Dilemma, der sich lange
Zeit kein Bild von den Ereignissen machen kann, weil
er von einer einzigen festen Prämisse ausgeht:
"Wir dürfen aber nichts als gegeben hinnehmen
außer der Weisheit des Vorsitzenden und der bösartigen
Findigkeit der Klassenfeinde".
Was nun Herausgeber und Übersetzer
dazu veranlassten, den Originaltitel "The Chairman"
(Der Vorsitzende) mit "Schach dem Vorsitzenden"
wiederzugeben und es mit einem expliziten Schachthema
umschlagseitig zu bebildern – Mao als König
-, liegt jenseits meines Verständnisses. Fakt ist,
dass der folgende Umschlagtext diesbezüglich eine
Fehlinformation darstellt (Traue nie Umschlagtexten!):
"Wie in einem strategischen Spiel werden in diesem
Roman Amerika und China miteinander konfrontiert. Jeder
Schachzug der Figuren enthüllt Stück für
Stück ihre Mentalität und deckt damit eine
Wirklichkeit auf, von der wir erstaunlich wenig wissen
und über die man kaum jemals in so spannender Manier
so viel erfuhr".
Genau genommen findet das Schach ganze
fünf Mal Erwähnung im Text, am signifikantesten
auf Seite 79: "Wie der Vorsitzende lehrt, bringt
jeder unserer Schachzüge einen Gegenzug zuwege.
Je mehr Züge wir machen, desto mehr Gegenzüge
gibt es. So exponiert sich der Feind; jedoch nur wenn
wir wachsam bleiben". Aber darüber hinaus
ist die Konstruktion eines Schachbezuges vollkommen
irrig. Selbst strukturell gesehen muss man das für
ein Gerücht halten, denn zu viel Durcheinander
regiert das Geschehen, als dass man ernsthaft von einem
"strategischen Spiel" sprechen könnte,
und Geheimdienstarbeit auf diesem literarischen Niveau
als Schach zu beschreiben, hat sich bereits an anderen
Beispielen als verfehlt erwiesen.
Jay Richard Kennedy: Schach dem
Vorsitzenden (The Chairman. 1969). Bastei Lübbe.
Bergisch Gladbach 1979. 270 Seiten
--- Jörg Seidel, 22.10.2003 ---
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