|
Linares, Linares!
"Chess is
a waiting game."
Dirk Jan ten Geuzendam
"Chess on the top level is a devilish game."
Boris Spassky
Linares. Ein Turnier wie jedes andere, aber kein anderes
ist wie Linares. Vielleicht kann man in dieser fast
paradoxen Äußerung die Quintessenz eines
Buches beschreiben, das im Titel eine Reise nach Linares
und damit eine in das Herz des Schachs verspricht. Dieses
Buch ist noch kein Jahr alt, wurde allenthalben positiv,
wenn auch farblos rezensiert [1].
Dabei steckt es voller interessanter Beschreibungen
und Eindrücke, deren wahrer Sinn sich allerdings
erst zwischen-den-Zeilen-gelesen zeigt. Es ist in gewisser
Weise selbst paradox, allemal wert, anlässlich
des diesjährigen Turniers, erneut in Erinnerung
gerufen zu werden.
Nahezu alles, was Dirk Jan ten Geuzendam,
in journalistischer Mission für "New in Chess"
unterwegs, zu berichten hat, ist im Einzelfakt bekannt
und obwohl man de facto kaum Neues erfährt, stimmt
es den Leser auf einen atmosphärischen Klang ein,
dessen versteckte Botschaft selbstwidersprüchlich
ist; denn offenbar evoziert das Buch seltsamerweise
einen positiven Grundton, obwohl es, wenn man aufs Details
schaut, permanent negative, zumindest ambivalente Signale
sendet. Am Ende fühlt man mit den professionellen
Protagonisten das angenehme und erleichternde Gefühl,
ein dreiwöchiges Turnier hinter sich gebracht,
etwas geschafft zu haben, am Ende fällt die Spannung
und Anstrengung von den Beteiligten ab, aber man ahnt
schon, dass dies nur temporäre Erleichterungen
sein werden, nicht nur, weil Sarajewo und Monte Carlo
und Dortmund und
schon ihre Schatten vorauswerfen,
sondern weil nichts wirklich gelöst, alles nur
vertagt und verschoben wurde. Das freilich steht weder
so im Text noch hat sich einer der Schachmeister dahingehend
geäußert: es ist ein Oberton dieses seltsam
armen und reichen Buches, von dem man noch nicht mal
weiß, ob er intendiert ist, und er gestattet uns
einen kurzen, verschwindend kurzen Einblick in die ferne
Welt der oft beneideten Idole. Doch ist nicht klar,
ob sie tatsächlich beneidens- oder doch nur bedauernswert
sind. Im Übrigen sind die Spieler – 1999,
dem Jahr, welches van ten Geuzendam als Erzählbasis
nutzt, waren dies Kasparow, Kramnik, Anand, Iwantschuk,
Leko, Topalow, Swidler und Adams – nur Ingredienz
dieses Riesentopfes Linares, in dem es ständig
brodelt, kocht und dampft. Wie kann es auch anders sein,
wo so viele verschiedene Interessen aufeinanderprallen,
sich die diversesten Geschichten bündeln und individuelle
Erwartungen zusammenstoßen, ja wo sich diese zwangsläufig
gegeneinander ausschließen?
Und es wallet und siedet
und brauset und zischt
Da
ist zum einen Luis Rentero, Direktor und Finanzier des
Turniers und zu allem Überfluss in lokale politische
Entscheidungen verwickelt, der nicht davor zurückscheut
– in dieser Form wohl ein Unikum in der Schachwelt
– seine finanziellen Interessen erbarmungslos durchzusetzen,
sondern auch auf die brutal-geniale Idee kam, den Spielern
klarzumachen, dass ein Remis vor dem 40. Zug von ihm
nicht geduldet, sprich finanziell honoriert wird. Es
ist keine Frage, dieser Rigorismus hat das Turnier für
den Schachfan zum einzigartigen Event werden lassen,
denn tatsächlich wird da mehr gekämpft und
um Siege gerungen, als dies bei Veranstaltungen dieser
Art zumeist der Fall ist, wenn nötig sogar mit
zweifelhaften Mitteln. Rentero senior allerdings, wurde
im 99er Turnier von Rentero junior ersetzt, was das
Gesamtgefüge nicht einfacher zu überblicken
machte.
Da ist zum anderen die Schar der Journalisten,
die, zumindest in Linares klein zu sein scheint –
der Ort ist schwer zu erreichen – aber hochkarätig.
Hinter diesen stehen oft große konkurrierende
Medienunternehmen, die sich, entsprechend der Konkurrenzlogik
auf verschiedene Seiten schlagen, dies um so mehr, wenn
sie eine Art Hofberichterstattung ausführen.
Da sind schließlich, nicht ganz
zufällig erst an dritter Stelle, die Spieler selbst,
mit all ihren Eigenheiten, Marotten, Vorlieben, persönlichen
Problemen, Freund- und Feindschaften; allen voran die
polarisierende Persönlichkeit Kasparows. Die schleppen
nicht nur eine ganze Menge (interner) Probleme von Turniersaal
zu Turniersaal, sie ziehen auch einen ganzen Tross an
Begleitpersonen hinter sich her: Sekundanten, Trainer,
Mütter und Väter, Ehefrauen und Lebenspartner,
Fans und Enthusiasten. Mitunter handelt es sich bei
letzteren um ehemalige oder lokale Schachgrößen,
die dann in den Presse- und VIP-Räumen herumlungern
und das ganze fragile Gebilde zusätzlich mit Analysen,
giftigen Anmerkungen, entehrenden Anekdoten und schlüpfrigen
Erinnerungen anreichern. Und selbst die Schiedsrichter,
wie der Autor exemplarisch versichert, können ihre
Normalität nicht immer hinter der Aufgabe verstecken,
verschärfen mitunter den Geschmack des Ganzen,
so geschehen etwa bei einem ausufernden Streit zwischen
Hauptschiedsrichter Carlos Falcon und dem hysterischen
Vater Kamsky, der die Originalpartieformulare partout
nicht abgeben wollte, denn jeder handschriftliche Nachweis
einer Partie seines damals vielversprechenden Sohnes,
sei 50 Dollar wert. Das allerdings war ein früheres
Linares, zeigt aber sehr wohl die Nichtigkeit vieler
Kontroversen, von denen es Hunderte geben muss.
Die Banalität
der Alltäglichkeit
Im öffentlichen Bewusstsein bleiben
die Partien und der eine oder andere Skandal (etwa als
Kasparow in der Partie gegen die noch ganz junge Judith
Polgar seinen fehlerhaften Zug Se5 zurücknahm und
damit gegen die erste Grund- und Anstandsregel verstieß)
– was ten Geuzendam uns zeigt oder zumindest andeutet,
ist die Welt hinter den Kulissen. Und die ist nun, ganz
allgemein gesagt, keineswegs anders, als die Welt im
Büro, in der Fabrik oder im Geschäft und überall
sonst wo Menschen gezwungenermaßen aufeinandertreffen
und miteinander auskommen müssen um gemeinsame
und individuelle Ziele zu erreichen. Die Banalität
der Alltäglichkeit und die Alltäglichkeit
der Banalität ist das eigentlich erschreckende
an den Darstellungen des holländischen Autoren.
Es liegt kein Grund vor, zu glauben, dass jemand, der
geniale Schachzüge zustande bringt, ein besserer
Mensch sei als Du und ich. Es liegt demnach auch kein
Grund vor, den Menschen Kasparow oder den Menschen
Kramnik oder den Menschen Anand in persönlicher
Unkenntnis zu bewundern, wir sollten vielmehr dazu gelangen,
deren Züge und Partien zu bestaunen und ausschließlich
diese, statt die Person. Dabei soll nicht unterschlagen
werden, das Buch macht dies einmal mehr deutlich, dass
insbesondere Kasparow eine charismatische Person zu
sein scheint: fast alles dreht sich in irgendeiner Form
um ihn.

Kasparow, der nimmermüde
Zirkuslöwe
Dies scheint ein general agreement in
der Welt der Topleute zu sein – ganz gleich von
welcher Position her man an ihn herantritt, er ist der
Maßstab aller Dinge, die Schlüsselfigur schlechthin.
Nur einer kann ihm da das Wasser reichen, dessen schachliche
Laufbahn allerdings sich dem Ende zuzuneigen scheint,
sein langjähriger Widersacher Karpow. Ein Kasparow
in der Form von 1999, der zum dritten Mal in Folge Linares
gewann und dazu mit 2,5 Punkten Vorsprung, weiß
diesen Bonus sehr wohl zu nutzen. Solange der Mann am
Toplevel spielt, das wird instinktiv klar, kann es keinen
wirklichen neuen Weltmeister geben, mag Kramnik ihn
besiegt haben oder die FIDE alljährlich einen neuen
Champion präsentieren. Schach auf diesen Höhen
– auch dies klingt paradox – gleicht einem
Zirkus, der von Ort zu Ort zieht, seine Show abzuliefern,
und Gazza ist Zirkusdirektor und Hauptattraktion in
Personalunion, ist der Löwe, der nimmermüde
durch den brennenden Reifen springt. Das Gesamtunternehmen
ist ein Rummel geworden, ein Geschäft, nicht mal
primär im finanziellen Sinne, sondern im Sinne
der Geschäftigkeit. Man weiß, wie es läuft,
man hat seine Erwartungen, alles ist im Großen
und Ganzen voraussehbar, nur noch akzidentielle Ereignisse
zählen: x siegt über y oder umgekehrt. Von
den Spielern wird erwartet, dass sie gut spielen und
kämpfen, besonders in Linares, und von den Journalisten,
die von den Spielern erwarten, dass sie gut spielen
und kämpfen, wird erwartet, dass sie dies entsprechend
honorieren; es ist wie mit den skinnerschen
Ratten: man weiß nie, ob das Tier oder der
Experimentator konditioniert ist. Probleme gibt es immer
dann, wenn eine der beiden Seiten nicht auf ihre Kosten
gekommen zu sein glaubt. Und aus der Sicht dessen, der
am meisten für die Show tut, mit übermenschlichem
Energieeinsatz, selbst Raubbau an seiner Gesundheit
nicht scheut, wovon jedes Bild Zeugnis ablegt, innerhalb
seines Horizontes ist es nur allzu verständlich,
wenn er erwartet – zu recht übrigens -, dass
man auch für ihn das meiste tut, daß man
ihn gebührend respektiert. Aus seiner Sicht werden
Nr. 2-5 nur dicker und fetter, füttern sich dick
und rund am Kuchen, den er hauptverantwortlich bäckt.
Anders gesagt: es gibt nur einen Schauspieler und eine
Menge Komparsen.
Schach wäre
so, wie es ist, auch ohne Linares
Wie gesagt, nichts von alledem steht
im Buch, aber alles kann daraus erschlossen werden.
Damit soll nicht behauptet werden, es laufe alles richtig
im big chess business, auch wird dem Gedanke "The
show must go on" nicht das Wort geredet, ganz im
Gegenteil, dies ist eine beängstigende Entwicklung,
allerdings vollkommen konform mit den modernen Beschleunigungsprozessen,
aber auch diese sind beängstigend, da aber alle
Beteiligten sich irgendwie arrangieren, um ihr Stück
vom Kuchen abzubekommen, eigentlich auch richtig laufen,
sprich im gesellschaftlichen Konsens. So ist es eben,
das Schach. Ist es so? Natürlich nicht! Denn hier
handelt sich durchaus nicht um eine Reise ins Herz des
Schachs, da verspricht der Autor zu viel, sondern lediglich
ins Innere des Schachbetriebes. Glücklicherweise
wird das Schach als abstraktes Gebilde, als Spiel davon
überhaupt nicht tangiert, genauso wenig wie man
eine Person mit deren Tätigkeit verwechseln darf,
so darf man auch eine Sache nicht mit deren ausführenden
Organen vermischen. Das Schach wäre so, wie es
ist, auch ohne Linares, Tilburg, Wijk an Zee, genauso
wie ein Film, ein Buch, ein Musikstück gut oder
schlecht ist, ganz unabhängig von den Eskapaden
seiner Protagonisten, Mitarbeiter und Schöpfer.
Die Skandale sind
der Sinn der Veranstaltung
Ein Buch wie dieses wäre in früheren
Zeiten gar nicht denkbar gewesen, es befriedigt nämlich,
auf seriöse Weise, soweit dies im Genre überhaupt
möglich ist, ein sehr modernes Bedürfnis:
das des Klatsches und Tratsches und signalisiert damit
einen Interesse- und Mentalitätswandel auch in
der Schachwelt, dessen Vorreiter kein Geringerer als
Kasparow selbst ist, wie übrigens auch Ilyumzhinov.
Beide rechnen das Schach der leichten Muse zu; so sehr
man sich auch über die jeweiligen Skandale auch
erregen mag, sie sind der Sinn der Veranstaltung! Kaum
ein Medium kann sich dem mehr verschließen, der
Blick in eine beliebige westeuropäische Schachzeitung
wird das bestätigen. Und wir wollen das, gestehen
wir es uns endlich ein! Streng orthodox ausgerichtete
Typen, wie GM Hübner etwa, gehören einer aussterbenden
Gattung an, was bei vielen zu Trauer führen mag,
aber auch die Trauer ändert nichts daran.
 |
Dirk Jan
ten Geuzendam
|
Aber wer will, kann ten Geuzendams Buch
ganz anders lesen, als Anekdotensammlung, als atmosphärisches
und stimmungsmeteorolgisches Buch, als Linaresreferenz,
als Versuch, die eigene Zunft - die der Journalisten
aufzuwerten - als Liebeserklärung an das Schach,
ja selbst als Reiseführer und Geschichtsbuch, als
persönliche Vorstellung einiger Weltklassespieler
(Kasparow, Iwantschuk, Timman, Topalow, Kamsky –
kein Wort übrigens zu Peter Leko, während
Kohlmeyers Berichterstattung ihn seinerzeit zur Zentralfigur
erkor [2]).
Eines aber ist nach der Lektüre
des Buches nicht mehr zu leugnen: es gibt mindestens
zwei Linares, jenes, welches die Spieler und deren Anhang
erleben und eines für die Öffentlichkeit.
Es ist davon auszugehen, dass diese Aussage auf alle
vergleichbaren Turniere auszudehnen ist. Vielleicht
spielt die emotionale Aufgeladenheit während der
Partien einen viel wichtigere Rolle als es ihr gelegentlich
in der Fachpresse auftauchender Charakter suggeriert,
wahrscheinlich wird Schach deswegen oft als Kampf und
Krieg bezeichnet, weil sich in diesem geregelten Duell
eine oft langjährige persönliche Auseinandersetzung
symbolisiert. Einmal aufgenommen im Klub, spielt man
nicht einfach mehr Schach, sondern fast immer gegen
einen, der einmal gesagt, getan, unterlassen
hat. Die Aufmerksamkeit, die wir Zuschauer diesen Dingen
zollen, rechtfertigen sie schlussendlich.
Stimmen zum Buch
"The book excellently describes
the atmosphere of Linares. I finished it in one evening".
(Vladimir Kramnik)
"A fascinating depiction of the
emotions behind the ostensibly serene facade of the
Wimbledon of chess." (Trouw)
"A special book. The author has
a keen eye for detail and aptly puts into words the
unwritten laws of chess world." (Het Parool)
"Dirk Jan ten Geuzendam brings to
the task painstaking preparation, wide knowledge and
sharp intel-ligence." (Edward Winter)
"Linares! Linares! offers a unique
blend of incident, character and setting. On turning
the last page I was left with a powerful sence of the
strangeness of life, the richness of human potential,
and, not least, the inexhaustible fascination of the
game of chess." (C. P. Ravilious)
"It was quite thrilling to discover
so many new facts about a tournament of which I thought
I already knew everything." (Joel Lautier)
--- Jörg Seidel, 28.02.2002 ---
[1]
Vgl. insbesondere die nichtssagende Besprechung in Europa
Rochade 5/2001, S. 75
[2] Europa Rochade 4/99
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.
|
|