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Waldemar Lysiak: Schach dem Kaiser
Dieser historische Verschwörungsroman
hat alles, was ein Bestseller heutzutage braucht und
wurde tatsächlich allein in Polen eine Million
Mal über den Ladentisch gereicht. Ein kompetenter
Historiker nimmt sich einer genial ausgeklügelten
Intrige um Napoleon an, die wohl sagenumwobenste Gestalt
der neueren Geschichte. Was braucht es mehr? Er jongliert
dabei beeindruckend mit seinem Wissen, was beim Leser
das beruhigende Gefühl der Authentizität hervorrufen
soll. Jahre vor Umberto Ecos bahnbrechenden Romanen
"Der Name der Rose" und "Das Foucaultsche
Pendel" hätte hier schon ein Ecosches Ereignis
entstehen können – wurde es aber nicht. Warum?
Eco selbst merkte mal süffisant an, dass man kein
Bestsellerautor werde, wenn man Bulgarisch schreibt;
mit Polnisch vielleicht auch nicht. Aber das ist nicht
der Grund, auch wenn einige der sprachlichen Unbeholfenheiten
auf die Übersetzung zurückzuführen sein
mögen. Die Ursache liegt im Buch selbst, von dem
Lysiak behauptet, dass es ein "literarischer Dokumentarbericht"
sei, also weder ein Roman im eigentlichen Sinne noch
eine historische Abhandlung.
Beschrieben wird ein in England ausgehecktes
Komplott gegen den französischen Kaiser. Man will
sich dessen Vorliebe fürs Schachspiel und die Begeisterung
für Kempelens Schachautomaten zu Nutze machen,
um ihn gegen einen Doppelgänger auszutauschen.
Den "König vom Schachbrett entfernen und dafür
einen Bauern auf den Thron setzen", lautet die
Parole. Würde der Imperator die Chance verstreichen
lassen, ins Innere des Automatons zu kriechen, wenn
man sie ihm böte? Just in diesem Moment könnte
man ihn betäuben und gegen sein Double auswechseln.
Um diesen waghalsigen wie brillanten Plan auszuführen,
der an allerhöchster Stelle entworfen wurde (Castlereagh [1]
und Perceval [2]) benötigt man die entsprechenden
Haudegen. Im jungen Henry Bathurst glaubt man den geeigneten
Mann gefunden zu haben. Es handelt sich dabei um historische
Personen, was den Reiz erhöht, denn es bereichert
das Geschehen immer mit der faszinierenden Frage: Was
wäre gewesen, wenn? Wie hätte sich der Lauf
der Geschichte geändert? So verwundert es nicht,
dass gerade das erste Kapitel als überaus gelungen
erscheint. Leider zieht Lysiak aus den richtigen Prämissen
die falschen Schlüsse. "Niveauvolles Schachspiel",
schreibt er, " das ist hohe Kunst, zu der es nur
die menschliche Intelligenz bringt". Selbiges gilt
freilich auch für das Schreiben eines Romans, der
Ordnung und Disziplin vom Verfasser verlangt. Schnell
jedoch entgleiten dem Historiker die Erzählfäden.
Aus seinem jungen Helden, der anfangs noch erklärt,
dass das Spiel das eigentliche Erregende für ihn
sei, wird bald ein unglaubwürdiger Kino-Robin Hood,
mehr noch ein James Bond, ein Superheld mit Superwaffen,
der allerorten Tod und Verderben sät; seine Truppe
Verwegener wandelt sich im wahrsten Sinne des Wortes
in eine Komödiantengruppe unglaubhafter Charaktere
und aus den historischen Begebenheiten wird ein unübersehbarer
Wust von Namen und Daten, die auch dann nicht plausibel
werden, wenn Lysiak ein ellenlanges Quellenverzeichnis
anfügt. Historisch ist das, das wird zunehmend
deutlich, schlicht und einfach Unsinn und sollten sich
Wahrheiten darin befinden, dann sind sie im phantastischen
Haufen nicht mehr auszumachen. "Alles war wie im
Märchen, es fehlte nur der Zauberer", heißt
es an anderer Stelle und nichts kann das Buch besser
kennzeichnen; ein begabter Autor als Zauberer hätte
aus der märchenhaften Materialfülle wirklich
etwas machen können.
Trotzdem liest sich das Buch überraschenderweise
flüssig, was nur beweist, wie stark die Ausgangsidee
ist: Man will wissen, ob das "Königsgambit"
gelingt und man hält den Atem an, als es endlich
soweit ist. Wie sooft beim Gambit freut man sich zu
früh, die anfängliche Überrumpelung wiegt
den materiellen Nachteil nicht auf. Auch Bathurst muss
lernen, dass seine Bauern im Spiel eigene Ideen vom
Lauf der Geschichte haben, die ihm ständig in die
Quere kommen und schließlich zum Verlust der Partie
führen.
Noch immer will uns Lysiak einreden,
dies alles sei tatsächlich geschehen oder hätte
geschehen können. Das darf man einem Literaten
noch durchlassen, nicht aber einem Historiker. Vor allem
in seinen angehängten Kommentaren tischt er eine
Räuberpistole nach der anderen auf und versucht
diese durch die abstrusesten Herleitungen zu "beweisen",
ganz im Stile eines von Däniken und ähnlichen
Scharlatanen, die immer schon wissen, was geschehen
ist und dafür "Beweise" suchen, anstatt
Evidenzen zu sammeln und daraus Schlussfolgerungen zu
ziehen.
So bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack,
eine gewisse Enttäuschung, weil einmal mehr eine
hervorragende Chance vertan wurde. Eine an sich spannende
Geschichte leidet nicht nur unter stilistischen Unvollkommenheiten,
sondern vor allem unter zu viel Unwahrheit, ja, schlicht
und einfach, Spinnerei.
Waldemar Lysiak: Schach dem Kaiser. Hamburg
1995. 423 Seiten
--- Jörg Seidel, 29.03.2007 ---
[1]
1769–1822; zur Handlungszeit Kriegsminister, späterer
Außenminister und Vertreter Englands auf dem Wiener
Kongress
[2] 1762–1812; zur
Handlungszeit Oberster Richter, späterer Prime
Minister Englands
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