Barry N. Malzberg: Tactics of Conquest
"Most of chess is daydreaming after all."
Wir sind das falsche Publikum für
Malzbergs Buch, wir Schachspieler. Und er muss es gewusst
haben, muss das Risiko bewusst eingegangen sein. Schließlich,
wie viel Prozent der potentiellen Leserschaft lassen
sich davon auch abschrecken, von all dem technischen
Unsinn, den er über das Spiel schreibt? Drei Prozent?
Fünf Prozent? Die überwältigende Mehrheit
jedenfalls wird sich davon nicht abstoßen lassen,
im Gegenteil, um ihnen den Zugang zu erleichtern, begeht
er wissentlich den Affront. Malzberg ist nicht umsonst
ein Meister seines Faches, insbesondere im Science-Fiction-Bereich,
mit mehr als 70 Büchern auf seinem Konto, und viele
davon Bestseller.
Es genügt an dieser Stelle nicht
über den zahlreichen Humbug aufzustöhnen,
wie man das gewöhnlich bei weniger bedeutenden
Autoren tut. Vergessen wir also, dass uns der primitivste
Anfängerfehler, das Narrenmatt als hohe Schule
des Großmeisterschachs vorgestellt wird, verzeihen
wir, dass David, der Spitzenspieler, von Nizimov-Indisch
statt Nimzo-Indisch oder Steinmetz statt Steinitz spricht,
übersehen wir gelassen all den Unsinn über
Ruy Lopez und Sizilianisch, lächeln wir über
die seltsame Vorbereitung des Topspielers auf ein wichtiges
Match, wenn er sich die "Unsterbliche" anschaut,
um uns zu beweisen, dass er sie aus dem Kopf beherrscht,
und lachen wir vor allem über das übersehene
Matt in einem Zug, besagtes Narrenmatt in der entscheidenden
Partie. Das Buch hat viel mehr zu bieten, seine Weisheiten
und Einsichten wiegen selbst die größte Banalität
auf und das Narrenmatt dient ihm letztlich auch kompositorisch,
denn an seinem Leitfaden entspinnt sich die Basishandlung,
von der aus, wie Varianten, ein ganzes Gewebe an Seiten-
und Tiefensträngen sich fort spinnt.
David und Louis spielen um das Schicksal
der Welt, des Universums, das sich am Scheidepunkt befindet.
Apokalypse. Nur ein Teil des Universums kann fortbestehen
und jeder der beiden Spieler repräsentiert einen
solchen. Masterminds hinter diesem Plan sind die "Overlords"
eine überlegene Alienrasse, die sich um die Ausführung
kümmern wird.
"You mean were truly going
to play for the fate of the universe?
"Exactly, the Overlord said,
"a forty-one-game chess match to be broadcast
throughout all the civilized sectors of your universe
so that everyone may witness it
"But why chess? Why me? Why this
planet?
"Because chess is ideal for such
a final judgement; it is a methodical game with absolutely
no element of luck and therefore can be no complaints
by the loser. Chess is known only to your planet,
and you and your opponent are the most evenly matched
living players. Good against evil. No other chess
players are so close in true and potential abilities.
There is no other reason.
Mehr Begründung braucht ein Science-Fiction
tatsächlich nicht.
In langen inneren Monologen gestattet
uns David Einsicht in sein Denken und sein Verhältnis
zu Louis. Er hält sich selbst für den besseren
Spieler, auch wenn er bereits deutlich zurück liegt.
Noch immer behauptet er, dies mit Absicht zu tun, denn
für ihn steht noch viel mehr auf dem Spiel. Erst
nach und nach werden die inneren Konturen deutlich,
entpuppt sich das Buch mehr und mehr als Psychostudie
einer kranken, selbstverliebten und eindimensionalen
Seele. Oder besser zweier Seelen, denn auch Louis, "the
twin prodigy", leidet unter ähnlichen Ängsten
und Symptomen, typisch menschlichen Ängsten, die
sich aus dem Schachgroßmeister nur besonders deutlich
heraussezieren lassen. Und so gewinnt das Buch allgemeines
Interesse, etwa wenn es nach den ethischen Dimensionen
fragt: Wie soll man sich verhalten, wenn die Folgen
der eigenen Handlung zwar eine Partei bevorteilen oder
ihr sogar das Überleben gestatten, die gegnerische
Partei aber benachteiligen oder gar zu vernichten drohen.
Genügt es, nur auf der "richtigen Seite"
zu stehen und sehen sich die anderen nicht ebenfalls
als "richtige Seite"? Ja, das ist die Abstraktionshöhe,
auf die Malzberg seine Leser mit einer scheinbaren Phantasiegeschichte
führt. Am Ende wissen wir nie, wozu unsere Handlungen
gereichen; nur ein "Overlord" mit seinem Overview
kann darüber bestimmen, und auch er hat seine Grenzen.
Aber die Geschichte ist besonders auch
für den Schachspieler interessant, den Schachprofi
noch dazu. Sollte nicht noch heute fast jeder Insider
aufjubeln, wenn er solche Zeilen liest:
"The trouble with FIDE is that its
a completely trivial organization
Theyre
not interested in chess, in improving the structure
of the game, theyre only interested in their miserable
little prerogatives, in continuing to maintain a stranglehold
over the game.?
Selten jedoch wurde so sprachgewandt
in das Innere der Spielsituation hinein geleuchtet,
in ihre komplexe Vermischung aus Liebe und Hass, Mut
und Angst, Freude und Verzweiflung. Wer aus eigener
Erfahrung weiß, wovon der Autor spricht, dessen
Herz beginnt schneller zu schlagen. Und je weiter einer
sich in diese Welt verstrickt, wie der praktizierende
Großmeister eben, umso abgründiger (oder
auch flacher – das ist eine Auffassungsfrage) werden
die entblößten Wahrheiten. So gesehen sollte
es Pflichtlektüre werden für all jene, die
sich zu tief ins Spiel verrannt haben, die den Kopf
daraus nicht mehr erheben können.
Vor allem aber begeistert das Buch durch
die zahlreichen glänzenden Ideen, Definitionen
und Apercus zum Schach, von denen hier nur einige angeführt
werden sollen:
"Chess is a trapdoor into uncertainty."
"Here we have a highly abstract,
coldly mathematical game devoid of odors, scents,
implications, belches, coughs, sniffles, accusations
and all of those elements which contribute to the
making of what non-masters erroneously call real
life.
"Each game is an individual expression
of its maker; ten different weak players will be weak
in a different way.
"Chess masters are commonly considered
to be among the least stable of individuals. Perhaps
as a group only science-fiction writers have a similar
collective insanity.
"Chess is an artefact, a set of
ruins in which, however distantly, maybe perceived
the intricate and terrible outlines of a long perished
civilization.
"Its only a game, a silly
trivial game.
"No, it isnt. Its
war. Its life.
"Thats what they tell you
in the books. Thats what so-called experts say
because they like to build them up and give their
readers the feeling that theyre big, important
men. Actually, its a very trivial pastime, and
everyone whos ever played chess knows that Im
telling you the truth. It has nothing to do with life
at all. Most good chess players, masters and such,
are snivelling, maladjusted wrecks, and the only thing
they can do at all is play chess well. If they didnt
have that theyd go crazy.
"God makes less sense than chess
does.
Wer will, kann in Malzbergs Buch ein
Machwerk sehen, voller schachlicher Unsinnigkeiten,
aber man kann es auch als überaus weises Werk über
Sinn, Zweck und Psychologie des Spiels und des Lebens
überhaupt lesen:
"Metaphors are ignored by grandmasters,
who know the truth: that only the game matters, that
it can be explained only on its own terms, that it is
really about nothing. About everything.
Barry N. Malzberg: Tactics of Conquest.
New York 1973
--- Jörg Seidel, 08.02.2006 ---
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