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Lucio Mauro: Il giorno del nuovo sole
In diesem rasant geschriebenen Roman,
der sowohl Krimi als auch Komödie, Spionagegeschichte
als auch Gesellschaftsroman sein will, prallvoll mit
knalligen, schrillen Ideen und zahlreichen Wendungen
und Überraschungen, findet auch das Schach seinen
Platz und spielt, wenn auch nur auf wenigen Seiten,
doch eine prominente Rolle. Es zeichnet sich in erster
Linie durch eine selten aufzufindende Konkretheit aus.
Kein Wunder, denn mit Lucio Mauro hat ein Internationaler
Meister, ein 2300-Mann, zur Feder gegriffen, der offensichtlich
nicht nur etwas vom Schach versteht. Unter dieser Kategorie
– schreibender Schachmeister - gehört das
Buch ohne Zweifel zum Besten!
Man entdeckt das Spiel in beiden Hauptteilen:
im ersten, einer Art Gaunergeschichte die auf intelligenter
und ironischer Basis fast alle Klischees bedient und
deshalb durchaus unterhaltend ist, finden der Meisterdieb
und Serienkiller Ottavio alias Settimio alias Sven Lundquist,
der Mann mit den vielen Gesichtern, sowie der Pleiteadvokat
("avvocato di merda") und Möchtegern-Bankräuber
Renato La Cava zu einer vielsagenden Partie zusammen:
Nach ein bisschen Geplänkel und
Kraftmeierei, in dessen Verlauf der sympathische Bösewicht
sich als Autodidakt outet, zu dessen scharfem Geist
das Schachspiel wie die Faust aufs Auge passt und welches
der gescheiterte Rechtsverdreher nutzt, sein ramponiertes
Ego aufzubessern, indem er von seiner einstigen Schachpotenz
schwärmt, ist die rechte Atmosphäre für
ein vielversprechendes Aufeinandertreffen geschaffen.
Der verbale Schlagabtausch wird fortgesetzt, während
sich am Brett – "quasi meccanicamente"
- ein Sizilianer entwickelt. Schließlich muss
sich Ottavio doch konzentrieren und bringt als Frucht
des Nachdenkens den Zug Springer g4 hervor:
"Weißt du", sagt er,
"bis zu deinem neunten Zug haben wir die Züge
einer nicht sehr bekannten Partie gespielt. Szily-Foltis,
gespielt 1949, endete Remis. Aber ich will immer alles.
Ich will entweder gewinnen oder verlieren, mit etwas
anderem kann ich mich nicht zufrieden geben. Das ist
der Geist des Sizilianers. Deshalb gefällt es mir,
anzugreifen, vorausschauend zu spielen, immer, beim
Zeitvertreib wie im richtigen Leben. Um nicht überrascht
zu werden in irgendeiner Situation" (132f.).
1. e4 c5 2. Sf3 Sc6 3. d4 cxd4 4. Sxd4
Sf6 5. Sc3 d6 6. Le2 e5 7. Sb3 Le7 8.
Le3 O-O 9. Dd2 a5 ( Ottavia spielt hier das interessante
9... Sg4?! 10. O-O-O!? Chessbase und Renato (besser
ist: 10. Lxg4 Lxg4 11. Sd5=+ ) Sxe3 11. fxe3+= a6 12.
Sd5)
Szily-Foltis Trencianske Teplice 1949
(Big Database) nach 9. Dd2
10. a4 Sb4 11. O-O Le6 12. Tfd1 Tc8 13.
Lf3 b6 14. Sc1 Lg4 15. Sd3 Lxf3 16. gxf3 Sxd3 17. Dxd3
Sd7 18. Sd5 Lg5 ½-½
Renato verliert nicht die Nerven, denkt
darüber nach, was wohl Petrosjan hier gespielt
hätte und entscheidet sich doch tatsächlich
für (den in der Database vorgegebenen Zug) die
große Rochade. Ottavio schlägt den Läufer,
Weiß nimmt mit dem Bauern wieder. Auf den Bauernvorstoß
a6 antwortet er mit der Zentralisierung des Springers
nach d5.
Man spielt weiter,
"mehr instinktiv denn rational,
aber beim 20. Zug verkomplizierte sich die Stellung
des Weißen. Er hatte bereits einen Bauern weniger,
und einen Turm in Gefangenschaft, auf dessen Befreiung
er verzichtete und stattdessen lieber einen gegnerischen
Bauern schlug. Gleich danach wurde der Turm gegen einen
Läufer getauscht; Ottavio bot mit diesem Zug den
Damentausch an, aber Renato verzichtete darauf indem
er die Dame zurückzog. "Du verlierst, Anwalt.
Vielleicht warst du mal ein Schachmeister, aber jetzt
hast du mir nichts mehr zu lehren. Du bist mir in allen
Belangen unterlegen. Ich könnte wetten, wenn wir
das Brett verließen und die Partie blind fortsetzten,
dann erinnere ich die Stellung der Figuren und alles
was ich drohe, vollständig. Aber du vielleicht
nicht".
Das Ganze hat natürlich nur Sinn,
wenn es handlungsbedeutend ist und tatsächlich
wird in dieser extravaganten Szene nicht nur das derzeitige
Kräfteverhältnis rekapituliert sondern es
werden auch zukünftige Entwicklungen antizipiert.
Wer weiß, vielleicht stellt sich Renato dümmer
als er ist?
Renato akzeptierte die Herausforderung.
"Mein König steht auf g8",
sagte Ottavio. "Dann habe ich Türme auf
f8 und c8, Dame b6, Springer c4. Fünf Bauern:
h7, g7, f7, e5, d6". "Mein König steht
auf b1", antwortet Renato ohne zu zögern.
"Turm auf c1, Dame a4, Springer b3, Läufer
f3. Auch für mich 5 Bauern: a2, b2, g2, h2, d5.
Und jetzt zieh".
Ottavio, ohnehin in gewonnener Stellung,
stellt eine kleine Falle: Dd4! Scheinbar stellt er damit
die Dame ein und Renato nutzt die Chance, das Gespräch
auf die Dame im Spiel zu bringen. Spiel- und Handlungsverlauf
werden zeigen, dass die Dame "vergiftet" ist.
Tatsächlich schlägt Renato im Stile eines
Anfängers auf d4 und wird danach in zwei Zügen
matt gesetzt. Erst im Nachhinein wird deutlich, dass
es ihm möglicherweise mehr um die Dame – Ottavios
hypersexy Lebensgefährtin, taubstumm noch dazu
–, denn den Sieg ging. Natürlich ist das primitiv,
stellt es nur eine weitere unter Dutzenden Plattheiten
dar, aber dort wo die Dummheit bewusst herbeigeführt
wird, noch dazu von einem ironischen Unterton begleitet,
kann sie sehr intelligent sein, wie in diesem Roman.
Und selten hat man eine Schachszene sich derart konkret
entwickeln sehen, ohne Fehler, ohne Lapsus!
Im zweiten Teil, der den Versuch einer
arabischen Terrorgruppe schildert, Arafat samt dessen
israelischen Vertragspartnern durch einen Atombombenanschlag
zu pulverisieren, treffen die beiden sich wieder, erneut
beim Schach. Renato hatte den Berufsgauner um dessen
Millionen und Frau geprellt, war auf der Flucht und
fand keine bessere Beschäftigung im Müßiggang
als internationale Schachturniere zu besuchen. Nicht
die beste Idee, wenn man inkognito bleiben will. Nicht
nur wird er Leidtragender einer sensationellen Opferpartie,
in der sein Gegner fast das gesamte Material gibt um
Matt zu setzen, sondern Ottavio selbst und sein Handlanger
stellen mithilfe des Schachs die entscheidende Falle,
den mit Geld und Frau flüchtigen und verräterischen
Renato einzufangen. Ottavio hat nicht Zeit noch Geld
gescheut für die süße Rache:
"Früher oder später musste
deine Leidenschaft an die Oberfläche kommen, jetzt,
wo du nichts mehr zu tun hast, außer die Welt
mit einem Schiff voller Geld und deiner Hure zu bereisen.
Auch ich habe halb Europa bereist, Linares, Biel, Monte
Carlo, Hastings
auf der Suche nach deiner Einschreibung"
(228).
So wie Renatos soeben verpatzte Partie
voller überraschender Wendungen war, so wird von
nun an kein Stein mehr auf dem anderen bleiben: die
Geschichte endet furios, explosiv, im wahrsten Sinne
des Wortes und hält viele Überraschungen bereit.
Ein grandioses Finale eines witzigen, spannenden, nur
selten überzogenen Buches, von dessen Autor man
noch einiges erhoffen kann. Kaum vorzustellen, dass
in kommenden Werken das Schach keine Rolle spielen sollte.
Lucio Mauro: Il giorno del nuovo
sole. Napoli 2000. 290 Seiten
Die Partie Mauro-Zei bezeichnet
Mauro als seine schönste. Sie wurde im Informator
72 veröffentlicht.
http://sampieri.firenze.net/articoli/MAURO.HTM
http://www.luciomauro.cjb.net/
--- Jörg Seidel, 24.05.2005 ---
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