Henning Mortensen:
Ulveørken
Die Zeit, das
ist ein Kind auf dem Thron, beim Brettspiel.
Henning Mortensen
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Das ist die Situation: Thisetorp eröffnet
mit 1. e4, Ib antwortet mit e5. Es folgen: 2. Sf3 Sf6.
Alles ganz normal. Thisetorp schlägt nun Bauer
auf e5, wie man das bei der Russischen Verteidigung
gewöhnlich macht und Ib will den Läufer ganz
selbstverständlich mit d6 vertreiben. Das ist der
kritische Moment, den jeder Russisch-Spieler fürchtet
oder herbeiwünscht, denn hier können sich
die Weichen auf ganz radikale Weise stellen. Weiß
könnte ganz seelenruhig seinen Springer nach f3
zurückziehen; die Partie bliebe im Gleichgewicht
und Weiß dürfte sogar einen klitzekleinen
Vorteil haben, den umzusetzen allerdings nicht einfach
werden dürfte. Nicht umsonst gilt die Russische
Partie oft als ein vorgezogenes Remisangebot des Schwarzen.
Dann gibt es aber die zwei oder drei Prozent an Hasardeuren,
die genau das Gegenteil anstreben und das mit der Brechstange:
4. Sxf7!! Einer der wahnwitzigsten und am meisten umstrittenen
Eröffnungszüge in Theorie und Praxis.
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Diesen Zug wählt der dicke autoritäre
Schuldirektor Thisetorp gegen den jungen, 19-jährigen,
soeben an der Schule angekommenen Lehrer Ib. Ort: Ulfborg,
ein Nest an der Westküste Dänemarks. Zeit:
August 1958, morgens 6.42 Uhr. Handlung: Ib verliert,
wird sich später revanchieren, Thisetorp mit einem
Messer im Rücken die dritte und entscheidende Partie
nicht mehr erleben; die Schachfiguren blutgetränkt.
Henning Mortensen hat im dritten Band
seiner Trilogie um den jungen Ib Nielsen aus Horsens
das berühmt-berüchtigte Cochrane-Gambit in
der modernen Literatur etabliert. Und Mortensen ist
nicht irgendwer, auch wenn man ihn im "Land der
Dichter und der Denker" kaum kennt, im eigentlichen
Land der Dichter, in Dänemark, wo es pro Kopf eine
deutlich höhere Dichte an erstklassigen Literaten
gibt als in Deutschland oder irgendwo sonst, in Dänemark
ist Henning Mortensen eine große Nummer, ein Hauptrepräsentant
der zeitgenössischen Schreibkunst. Der mit Spannung
erwartete soeben erschienene fünfte und letzte
Band der neuen Literaturgeschichte des Gyldendalverlages
unterstreicht das nachdrücklich [1].
Noch einmal:
1.e4 e5
2. Sf3 Sf6
3. Sxe5 d6
4. Sxf7 !?
Soweit waren wir. Da die Partie sich
früh am Morgen, noch vor der ersten Stunde zutrug,
bekam Ib, wie geschrieben steht, "seinen eigentlichen
Morgenschock. Thisetorp sprang weiter und schlug seinen
Bauern auf f7. Nun bedrohte der irre Springer sowohl
die Dame als auch den Turm. Springeropfer,
wisperte der Schulleiter, sehen Sie das, Nielsen,
ich opfere meinen Springer um Sie zu unterhalten.
Da gab es nur eines zu tun. Ib schlug den Springer mit
dem König."
4.
. Kxf7
Alternativen zu diesem Zug gibt es wohl
nicht, alles andere verliert. Thisetorp allerdings wählte
die Variante durchaus nicht, um den Neuling am Institut
zu unterhalten, ganz im Gegenteil, er will ihn zum einen
demütigen, ihm zeigen, wer die Hosen an hat, vor
allem aber will er ihm eine pädagogische Lektion
erteilen. Dabei hängt die Geschichte am seidenen
Faden, wie wir sehen werden, die wir die Partie mit
modernem Schachverstand betrachten.
5. Lc4+
ist sicher noch eine Möglichkeit,
aber es verschießt das Pulver zu schnell, auch
wenn Thisetorp sichtlich erregt mit bebenden Lippen
demonstrativ sein "Schach" flüsterte.
So einen Zug wird man heutzutage meist bei Kindern sehen.
Stärker dürften vorbereitende Entwicklungszüge
sein. 5. d4, erobert das Zentrum und öffnet entscheidende
Angriffslinien oder auch 5. Sc3, das eine weitere Figur
ins Spiel bringt. Der Partiezug hingegen erlaubt das
starke 5.
d5, womit Schwarz für lange Zeit
wohl seinen Materialvorteil behaupten kann. Zugegeben,
dieser Zug ist nicht so leicht zu finden, seine Konsequenzen
unabsehbar (Weiß kann z.B. sowohl mit dem Läufer
als dem Bauern schlagen). Der Reflexzug
5.
Le6
ist sehr gut nachvollziehbar, aber Schwarz
hilft Weiß damit, sein erstes Ziel zu verwirklichen:
den König in die Mitte des Brettes zu lotsen. Nach
6. Lxe6+
bleibt keine Alternative mehr zu
6.
Kxe6
Nun dürfte sich der Materialvorteil
schon fast verflüchtigt haben. Schwarz benötigt
mindestens zwei Tempi, wenn er den König wieder
in Sicherheit bringen will; hat er aber gute Nerven
und belässt ihn in der Brettmitte, so muss er zahlreicher
Attacken gewärtig sein, die oftmals absolute Exaktheit
verlangen. Thisetorp kann jetzt in aller Ruhe rochieren
"und Ib ging in die primitive Falle nach einigen
verschwitzten Sekunden und schlug den ungedeckten Bauern
auf e4 mit dem Springer."
7. 0-0 Sxe4??
Das ist natürlich ein katastrophaler
Fehler, den man kaum noch als Falle bezeichnen kann.
Spätestens hier weiß der kundige Leser, dass
man es nicht gerade mit Experten zu tun hat. Nichtsdestotrotz
behält die Partie ihre Spannung. Mit
8. Te1,
"still und ruhig" ausgeführt,
antwortet Thisetorp erneut konventionell "und sah
zufrieden aus". Dg4+ hätte wohl noch stärkeren
Vorteil erbracht. "Ib fühlte sich fürchterlich
unbehaglich, so dumm gewesen zu sein. Er schwitzte noch
mehr. Der Sekundenzeiger auf seiner Uhr tickte leise
aber unerbittlich." Und erneut gibt der junge Ib
seinen Reflexen nach und spielt das offensichtliche
8.
d5,
wo es doch vielleicht angebracht wäre,
in ohnehin schon hoffnungsloser Position, sich für
den Gegenangriff zu entscheiden, statt die aussichtlose
Verteidigung. "Aber es war wohl ohnehin schon die
Wahl zwischen Pest und Cholera." Wenn man so will,
dann verfügt Schwarz immerhin über die aktiveren
Figuren. In der Partie muss
9. d3
nun eigentlich schon die Entscheidung
bringen. Dem Springer ist jetzt nicht mehr zu helfen,
"das Pferd konnte dort stehen und darauf warten,
abgeschlachtet zu werden. Ib zog seinen Läufer
f8 nach c5, um unbekümmert und aggressiv zu wirken."
Nun, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, findet
er endlich einen guten Zug.
9.
Lc5
mit der freilich vergeblichen Hoffnung
eines Einschlages auf f2. Wenn Weiß den Springer
mit dem Bauern nimmt, kann ihm eigentlich nichts mehr
passieren. Aber, wie schon angedeutet, war es mit seinen
Schachkünsten gar nicht so weit her und außerdem
wollte er die Partie nutzen, dem jungen Nielsen eine
Lektion zu erteilen. Die Kombination aus beidem ist
im Schach der ideale Nährboden für die Blamage.
"Inzwischen nämlich demonstrierte Weiß
seine Überlegenheit gerade damit, dass er den Springer
nicht nahm, sondern seinen Bauern einen weiteren Schritt
vorwärts machte und nun den schwarzen Läufer
bedrohte."
10. d4??
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Ungewollt erteilt Thisetorp uns eine
Lektion, die besagt, dass es auch im Schach oft besser
ist, den Spatz in der Hand zu nehmen und nicht die Taube
auf dem Dach zu wollen, vor allem dann, wenn sich der
Spatz als Taube erweist. Wer zu viel will und den derzeitigen
aber offensichtlichen Vorteil für einen zu vermeintlich
größeren in der Zukunft eintauscht, kann
für seine Gier betraft werden. Die Partie jedenfalls
droht hier zu kippen.
Hätte Ib etwas nachgedacht, ihm
wäre vielleicht der vorteilbringende Zug 10.
Ld6! aufgefallen, gefolgt von 11.
Dh4 mit zahlreichen
taktischen Einschlagsmöglichkeiten, aber impulsiv,
wie wir ihn bereits kennen, entscheidet er sich für
10.
Lc4, wieder für das Offensichtliche
aber eben nur Zweitbeste.
11. c3
scheint logisch. Läufer d6 wäre
für Schwarz nun noch immer gültig gewesen.
Mit
11.
Ld7??,
das der Erzähler offensichtlich
für erzwungen hielt ("Ib musste mit seinem
Läufer zurück nach e7."), besiegelt er
nun endgültig sein Schicksal. "Diese ersten
elf Züge der Partie sind eine wahre Katastrophe
gewesen, aber nun folgten acht Züge Demütigung.
Weiß zog den f-Bauern einen Schritt nach vorne,
das lahme Pferd anzugreifen, das nie ein mutiger Kriegshengst
wurde, wie Thisetorps, sondern nur ein Wallach, kastriert
und dünn sabbernd. Ib konnte nur versuchen, seinen
anderen Springer mit Sb8-d7 ins Spiel zu bringen, mit
der Hoffnung, dass der sich besser schlagen wird als
der erste, der nun seinen Todesstoß erhielt, als
Thisetorp seinen f-Bauern auf e4 schlagen ließ.
Es blieb beim Traum, denn Weiß zog Dd1-b3, und
Ib führte seinen König in die Todeszone: Ke6-f5.
So folgte Weiß Te1-f1 und Ib setzte die
Selbstmordreise fort: Kf5-g4. Das Matt war kochfertig.
Weiß: Db3-d1. Schwarz: Kg4-h4. weiß: Tf1-f4.
Schwarz: Kh4-g5. Weiß: Dd1-g4. Schwarz: Kg5-h6.
Und Weiß triumphierendes Doppelschach und
Matt: Tf4-f6! Thisetorp hatte anderthalb Minuten gebraucht,
Ibs Zeiger hing Sekunden vor dem Fall." (S. 18-22)
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Die Lektion war also geglückt. Der
arme Ib hat wohl nie geahnt, welche Wendung er der Partie
und damit der gesamten Geschichte hätte geben können.
Besagte Partie bildet nicht nur die geglückte Eingangszene
des Romans, sie bietet auch eine Rahmenhandlung, ein
Leitmotiv, das immer wieder Erwähnung findet. Es
kommt, wie gesagt, auch zur Revanchepartie. Diesmal
wurde es eine "Abendaffäre" Ib bereitet
sich darauf vor, spielte die "Unsterbliche"
und die "Immergrüne" durch, sah sich
Partien von Tschigorin, Lasker, Aljechin und anderen
an (168), erhält zum Glück auch die weißen
Steine aber der Hauptgrund dürfte wohl Thisetorps
Konzentrationsschwäche gewesen sein. Zu diesem
Zeitpunkt nämlich hat er schon Lebensangst. Jemand
verfolgt ihn des Nachts, seltsame Laute ertönen,
maskierte Gestalten erscheinen. Eine dritte Partie wird
es in diesem übervollen Roman nicht geben –
auch wenn vom Schach dauernd die Rede ist und manch
andere Schachschlacht geschlagen wird –, der von
Liebe und Hass handelt, von Leben und Tod, von Mann
und Frau, von Leidenschaft und Sex, Kunst und Literatur,
von viel, sehr viel Bier und Alkohol, von Dänemark
in vergangenen Jahrzehnten und natürlich von der
Schule. Mag sein, dass es ein bißchen zu viel
ist, was Mortensen in dieses Buch packen wollte, die
Verwendung der Schachpartie jedenfalls muss als äußerst
gelungen gelten. Am besten aber ist der pädagogische
Effekt: "Neunzehn Züge, sagte
Thisetorp und führte die Hände leicht und
lautlos zusammen, Versprechen Sie mir, Nielsen,
dass sie eine Lehre aus dieser Partie ziehen.
- Ja, das war ein Fehler von mir, zu schlagen
- Das ist wahr. Und auch im Leben
gilt das. Stellen Sie sich nie in die Klassenmitte ohne
sich verteidigen zu können, mit dem Schlüsselbund
und natürlich am besten mit Ihrer geistigen Überlegenheit."
Eine zweideutige Anweisung, und ich meine nicht das
Schlüsselbund
"Thisetorps Springeropfer"
lautet die Kapitelüberschrift, von seinem "bedeutsamen
Springeropfer" (52) ist an späterer Stelle
die Rede. Mit dem Fehler meint Thisetorp tatsächlich
das Schlagen des Springers auf f7!
Die Partie:
Thisetorp - Ib Nielsen [C42]
(Henning Mortensen: Ulveørken)
1.e4 e5
2.Sf3 Sf6 leitet die Russische
Verteidigung ein, auch als Petrow-Verteidigung bekannt
3.Sxe5 d6
4.Sxf7!? Der Schlüsselzug,
der das Cochrane-Gambit begründet und der eigentlich
mehr als ein Ausrufezeichen und vielleicht auch mehr
als ein Fragezeichen verdient. Dies dürfte das
einzige ernstzunehmende Gambit sein, das gleich eine
ganze Figur für Entwicklungs- und Zeitvorteile
investiert. [4.Sf3 Die Hauptvariante; der Beginn einer
komplexen aber meist ruhigen Angelegenheit 4...Sxe4
5.d4 (5.d3) 5...d5 6.Ld3 usw.]
4...Kxf7 der einzige Zug! Auch
ein Vorteil des Cochrane: Ablehnen gibts nicht.
5.Lc4+ [5.d4!? ist wohl stärker.
Behauptet das Zentrum, dient der Figurenentwicklung
und der König wartet ohnehin auf das Läuferschach.
Ab hier beginnt die komplexe Theorie, denn Schwarz hat
nun eine ganze Reihe von möglichen Fortsetzungen.
5...Le7 (5...c5; 5...g6; 5...De8; 5...c6; 5...Le6;
5...Lg4) ]
5...Le6 Spielt weiß wohl
eher in die Hände, da es den Königsmarsch
erzwingt. [5...d5 von führenden Herstellern empfohlen!
Aber ein Zug, den man wissen muss, schwerer am Brett
zu finden. 6.exd5 (6.Lxd5+ Sxd5) 6...De8+ 7.Kf1
b5 8.Lb3 Ld6 und der König steht erst mal "sicher"]
6.Lxe6+ Kxe6
7.0–0 konventionell gedacht,
aber Weiß muss nichts überstürzen deswegen:
7.d4 als gute Alternative
7...Sxe4?? Kann als "Falle",
wie im Roman, eigentlich nicht mehr durchgehen; besser:
ein dummer Fehler, Figur und König zum Aufspießen.
8.Te1?! logisch aber nicht das
Stärkste [8.Dg4+ nutzt die exponierte Königsstellung
noch besser 8...Kf7 9.Dh5+ g6 10.Dd5+ Kg7 11.Dxb7]
8...d5 gut verständlicher
Anfängerzug, aber in dieser Situation hilft nur
noch Remis anbieten oder Aufgeben oder das alte Motto:
Angriff ist die beste Verteidigung! [8...Dh4 und man
geht wenigstens mit fliegenden Fahnen unter 9.g3 Dh3
10.Txe4+ Kd7]
9.d3 Lc5 Schießt auf den
wunden Punkt f3, wenn auch nur imaginativ.
10.d4?? So kommt es, wenn man
jemandem eine "Lehre erteilen" will. [10.dxe4
Tf8 11.exd5+ Kd6 12.Te6+ Kd7 oder besser noch Hand reichen]
10...Lb4 Wieder spielt Ib das
Offensichtliche, dabei war hier die große Chance,
die verkorkste Partie sogar zu gewinnen. [10...Ld6!!
und Weiß weiß plötzlich nicht mehr
wo links und rechts sind! Nun fliegt ihm alles um die
Ohren... 11.f3 (11.Sd2 Lxh2+ 12.Kxh2 Dh4+ 13.Kg1
Dxf2+ 14.Kh2 Dh4+ 15.Kg1–+; 11.Sc3 Lxh2+ 12.Kxh2
Dh4+ 13.Kg1 Dxf2+ 14.Kh1 Dh4+ 15.Kg1) 11...Dh4 12.g3
Lxg3 13.Te2 Lf2+–+]
11.c3 Le7 [11...Ld6!! siehe oben
12.f3 Dh4 13.g3 Lxg3 14.Te2 Lf2+ 15.Kh1–+]
12.f3 Sd7
13.fxe4 dxe4? [13...Sf6 verzögert
freilich nur den Untergang 14.exd5+ (14.e5 Se4 15.Dg4+
Kf7 16.Tf1+ Ke8 17.Dxg7 Tf8) ]
14.Db3+ und
14...Kf5 läuft ins Matt in
5, welches sich Thisetorp nicht entgehen lässt.
15.Tf1+ Kg4
16.Dd1+ Kh4
17.Tf4+ Kg5
18.Dg4+ Kh6
19.Tf6# 1–0
Henning Mortensen: Ulveørken.
København 1995
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--- Jörg Seidel, 14.06.2007 ---
[1]
Klaus P. Mortensen, May Schack (Hrsg.): Dansk Litteraturs
Historie Bind 5. 1960-2000. Gyldendal København
2007
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
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