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Murphy/Cochran: Grandmaster
Ein Schriftstellerehepaar das Murphy
und Cochran heißt – schon namentlich so nah
am großmeisterlichen Schach – mag vielleicht
den schicksalhaften Drang fühlen, ein Buch wie
dieses – "Grandmaster" – zu schreiben.
Es liest sich, als wäre es von den Geistern der
großen Meister inspiriert: der mystischen Meister,
der literarischen Meister und der Schachmeister. Das
Buch selbst ist ein Meisterwerk!
Justin Gilead und Zharkov (lies: shark-ow)
treffen erstmals als Zehnjährige aufeinander, in
einem Prestigeduell der Schachwunderkinder, der eine
als Repräsentant des Westens, der andere des Ostens.
Sie sind wie gegenpolige Zwillinge, wie intime Ergänzer;
all ihr späteres Wirken wird stets auf den anderen
gerichtet sein: diesen zu vernichten und mit ihm sich
selbst. Beide gehen lange Wege der Vorbereitung für
das finale Treffen: Gilead entpuppt sich als Reinkarnation
Patanjalis, gefüllt mit dem Geiste Brahmans, und
wird nach zehnjähriger Suche indischer Mönche
– so wie es tatsächlich mit dem Pantschen-Lama
geschieht - aufgefunden und an geheimem und heiligem
Ort, in Rashimpur, aufgezogen, um als angebeteter und
langersehnter "Träger des blauen Hutes"
alles zu lernen, was Menschen lernen können um
Übermenschliches zu vollbringen. Zharkov hingegen
ist das Ziehkind der antagonistischen Göttin des
Dunklen. Beide werden fit gemacht, die Schlacht der
Schlachten zu schlagen. Später wird Zharkov gefürchteter
Chef von "Nichevo" werden, einem sowjetrussischen
Geheimdienst, der in direkter Stalinscher Erbschaft
agiert und selbst vom KGB gefürchtet wird, während
Gilead sich in den Dienst des CIA stellt, Nichevo zu
bekämpfen. Wo immer er auf den Schachturnierplätzen
der Welt auftaucht, erreicht er nicht nur hervorragende
Resultate, sondern dort sterben auf geheimnisvolle Weise
auch russische Agenten. Man nennt ihn nur respektvoll
den "Großmeister". Die Schauplätze
dieser historischen Schlachten, die keine offizielle
Geschichtsschreibung kennt, sind Tibet, Polen, Moskau,
Berlin und Havanna
. Auf und ab wütet der
Kampf, beide Seiten müssen herbe Niederlagen einstecken,
Rashimpur wird zerstört und mit ihm die väterlichen
Mönche, Menschen, mit denen Gilead in Kontakt kommt,
sterben reihenweise, ja er selbst muss zweimal zu Grunde
gehen und wiederauferstehen.
Schließlich kommt es auf Kuba zum
großen Showdown; in einem denkwürdigen Schachturnier
laufen alle Handlungsfäden zusammen, Castro soll
ermordet werden und der sowjetische Weltmeister in den
Westen fliehen.
Hier, wo wir uns auf die Schachgeister
zu konzentrieren haben, muss auf detaillierte Analysen
von Inhalt und Struktur verzichtet werden, dafür
ist der Roman zu prall. Dieses unglaublich lebhafte
und jederzeit spannende Buch stellt ein Patchwork aus
Spionageroman, Politthriller und Krimi dar, aus fernöstlicher
Spiritualität und New-Age-Weisheit und auch aus
Märchen und Mythos. Es ist lehrreich, gewitzt komponiert,
schnell geschrieben, es verrät in jeder Zeile seine
professionellen Schöpfer, kurz: es ist hochkomplex,
auch wenn der Grundkonflikt von allereinfachster Dualität
gekennzeichnet ist, besser gesagt einer Mixtur aus Einfachheit
und Komplexität, wie man sie vielleicht nirgendwo
besser versinnbildlicht sehen kann, als im Schach.
Das soll nun nicht heißen, das
Kalte-Kriegs-Vokabular wirke nicht befremdlich und zu
vereinfachend, besonders für den heutigen Leser,
auch nicht, dass vieles zu übertrieben oder einfach
sinnfreie Phantasterei ist, vielleicht ist der gesamte
Plot des Buches Unsinn, aber man kann das mit den modernen
Eßgewohnheiten vergleichen: Wir schlucken täglich
Müll, wenn es nur schmeckt und gut verpackt ist.
Das ist das Wirkungsgeheimnis dieses Buches.
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Innerhalb der Schachliteratur gebührt
dem Werk ein Ehrenplatz, weil es wie kaum ein anderes,
auch nicht unter den Klassikern, Weisheit und innere
Spannung des Spiels zu vereinen weiß. Das reicht
von Gileads – "I am the game" –
und Zharkovs – "Nichevo is chess" –
Identifikation, über den berüchtigten "flow"
– "an inexplicable release in the mind of
the player, when the game seemed to work itself automatically,
without conscious thought" -, oder einfallsreich
beschriebenen Auseinandersetzungen am Brett, die sich
wie ein perfekter Krimi lesen (sie sind schließlich
nichts anderes) und spannungsgeladene Turnierdramatik,
bis hin zu vielen Detailweisheiten über das Spiel.
Wer bei dieser Lektüre nicht Lust bekommt Schach
zu spielen oder es zu erlernen, der kann nicht mehr
in unser großes Geheimnis eingeweiht werden. So
gesehen stellt "Grandmaster" die intensivste
Schachwerbung dar, die man sich denken kann und wiegt
hinsichtlich der Motivationsleistung problemlos Dutzende
von Lehrbüchern auf.
Doch darüber hinaus geht noch, dass
das Schach nicht wie in den allermeisten literarischen
Fällen als Mittel zum Zweck missbraucht wird, sondern
als Universalmetapher mit Weltaufklärungspotential
dient. Was auf über 400 engbedruckten Seiten geschieht
ist Schach. Diese eigentlich unerhörte Überhöhung
ist hier glaubhaft gelungen, denn es versinnbildlicht
einen Systemkampf, den wir meist als politischen Antagonismus
interpretieren: Ost-West, Rot-Schwarz, Schwarz-Weiß.
Doch stellt dies nur eine Emanation des ewigen, man
könnte sagen des heraklitischen Kampfes dar. Damit
erlangt die Überinterpretation neue Plausibilität
und wahre metaphysische Tiefe, insofern sich Tiefengewalten
gegenüberstehen, die dann zum urdialektischen Erklärungsmodell
werden. Metaphysisch meint hier mythisch. Die Schachmetaphorik
ist nicht aufgesetzt, sie ist essentiell, wobei es keine
Rolle spielt, ob die Geschichte fiktiv oder selbst unsinnig
ist. Daher ragt dieser Roman weit aus der Flut der Schachliteratur
heraus.
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Warren Murphy/Molly Cochran: Grandmaster.
London 1984. 428 Seiten
Warren Murphy/Molly Cochran: High Priest (Grandmaster
II).
--- Jörg Seidel, 25.11.2003 ---
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