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Nossow: Ich war ein
schlechter Schüler
Im Kinde steckt
die Spielleidenschaft; sie muß befriedigt werden.
Man muß ihm nicht nur Zeit zum Spielen geben,
sondern sein ganzes Leben mit dem Spiel durchdringen.
Sein ganzes Dasein ist Spiel.
A.S. Makarenko [1]
Es lohnt sich, gelegentlich die Bücher
der Kindheit zur Hand zu nehmen, jene Werke, die einst
einen tiefen Eindruck hinterließen. Sie bleiben
für immer präsent, unterschwellig und unauflösbar,
oft nur als Gefühl oder gar nur als Erinnerung
an ein bestimmtes Gefühl.
Halten die einstigen Erlebnisse noch
stand? Kann man noch immer über die Streiche eines
Ottokar Domma oder Alfons Zitterbacke lachen? Führen
die Abenteuer des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers,
die Gestalten Alexander Wolkows immer noch in innere
Traumreiche? Begreift man bei Günter de Bruyns
"Tristan und Isolde" erneut ahnungsvoll –
wenn auch nicht mehr zum ersten Mal – was Liebe
ist? Bangt man noch mit der Ameise Ferdinand als sie
in den Trichter des Ameisenlöwen fällt...?
Man kann dabei einiges über sich selbst lernen,
denn es stellt sich die Frage, wer sich veränderte:
Hat man die Bücher oder sich überschätzt?
Die obige Auswahl ist beliebig und doch
typisch, wie mir scheint, für ein Kind, aufgewachsen
in der DDR. Eines jener Bücher, wenn auch weit
weniger bekannt, kam mir just heute in die Hände:
Nikolai Nossow [2]: "Ich war ein schlechter Schüler".
Damals, so entsinne ich mich, mußte
ich schallend lachen über die Anstrengungen des
Witja Malejew und seines zweifelhaften Freundes Schischkin.
Diesen Humor habe ich heute nicht mehr, aber die Schülerprobleme
sind auch nicht mehr die meinigen. Trotzdem war die
Wiederbegegnung hochinteressant. Sie ließ eine
fast vergessene und heutzutage wohl nur noch belächelte
Pädagogik wiedererstehen und sie stellte diese
auch anhand des Schachspiels dar. Will man den Geist
des sowjetischen Schachs wirklich nacherleben, so möchte
ich behaupten, dann helfen derartige Erinnerungen weiter
als Partiesammlungen oder Erinnerungen Botwinniks oder
Karpows. In ihnen ist das Gefühl ganzer Jugendgenerationen
kondensiert. Um ihm nahe zu kommen, muß man solches
aber ernst nehmen können:
"Und dann war endlich der Tag da,
auf den wir alle so sehnlich gewartet haben – der
siebente Oktober, das Fest der Großen Oktoberrevolution.
An allen Häusern prangten rote Fahnen und
große Bilder von Lenin und Stalin; und von all
dem wurde mir so froh ums Herz, als ob es auf einmal
wieder Frühling geworden wäre. Am Feiertag
ist immer eine solche Unmenge Freude in einem, dass
die ganze Welt hell und schön scheint wie nie.
Alles Gute und Liebe im Leben fällt einem wieder
ein, und man denkt sich die herrlichsten Dinge aus.
Ich möchte dann recht schnell groß und stark
werden und verschiedene Heldentaten begehen, zum Beispiel
mir einen Weg durch die dichte Taiga bahnen, steile
Felsen erklimmen, mit dem Flugzeug am blauen Himmel
hinsausen, tief in der Erde nach Erz und Kohle graben,
Kanäle bauen und Wüsten bewässern, neue
Wälder pflanzen, Stachanowarbeiter im Betrieb sein
oder fabelhafte neue Maschinen bauen
" (85)
Und ob man es glaubt oder nicht, diese
Gefühle waren echt, man sollte sie nicht sofort
der Propaganda verdächtigen.
Der junge Witja begegnet dem Leser als
Schüler der vierten Klasse. Vor allem Mathematik
bereitet ihm Sorgen; wieder hat er in den Ferien die
Chance versäumt, das Verpasste nachzuholen. Die
ersten Vieren lassen nicht lange auf sich warten und
mit ihnen der Ärger zu Hause. Immer und immer wieder
nimmt er sich vor, sich zu bessern, aber die Liebe zum
Fußballspielen behält doch die Oberhand.
So kann das nichts werden. Schließlich tritt ein
Mechanismus in Kraft, den wir heute kaum noch verstehen
können, den es aber tatsächlich gab, nicht
nur in der Theorie, wie sicher jeder im Osten Aufgewachsene
bestätigen kann: das Kollektiv. Anfangs prangert
die Klasse die beiden Problemschüler an, später,
nachdem das nichts ändert, hilft man ihnen aktiv.
Die Klasse begreift sich als Individuum, mit einem Ziel
und einer Identität, und damit verantwortlich für
seine Teile. Ein Gedanke, der heutigen Schülern,
die noch nicht einmal des Mitschülers Zensuren
wissen, absurd vorkommen muß. Hilfe kann es fast
nur noch auf der individuellen Ebene geben und auch
diese wird zusehends weniger. Kollektiver Druck und
Unterstützung verleihen Witja endlich die Kraft,
seine erste Rechenaufgabe selbst zu lösen, eine
einfache zwar, noch aus der dritten Klasse, aber er
erfährt jenes unbeschreibliche Glücksgefühl,
endlich allein diese Hürde gemeistert zu haben.
Mit neuem Selbstbewusstsein ausgerüstet, geht es
von da an, mit viel Arbeit und Rückschlägen,
aufwärts.
Auf
dem Weg zum Erfolg half ihm auch das Schachspiel. Er
lernt es bei Alik Sorokin kennen, dem klassenbesten
Rechner, einem begeisterten Schachspieler. Statt Mathe
zu machen sitzen sie am Schachbrett, aber das ist nicht
so schlimm, denn "Schachspielen fördert die
Rechenbegabung", davon ist Alik überzeugt.
"Was meinst du, warum bin ich im Rechnen so gut?
Bloß weil ich Schach spiele" (69). Natürlich
hat Witja keine Chance und verliert schnell hintereinander
mehrere Partien, aber Aliks ungestüme Beleidigungen
– "Ich will bei einem klugen Menschen gewinnen
und nicht bei so einem wie du" – wecken, ohne
dass er sich dessen bewusst wird, den Ehrgeiz: "Ich
wollte ihm aber unbedingt Revanche geben, und deshalb
ging ich von da an jeden Tag zu ihm Rechenaufgaben machen,
und wir spielten immer ein paar Stunden miteinander
Schach" (71). Nun beginnt er sogar mit der jüngeren
Schwester zu üben. "Um wirklich aus dem Effeff
Schach spielen zu lernen, trainierte ich zu Hause mit
Lika, und wenn Vater daheim war, auch mit ihm. Eines
Tages sagte Vater, er müsste irgendwo noch ein
Büchlein haben, eine Anleitung für das Schachspiel.
Wenn ich gut spielen wollte, dann müsste ich das
lesen.
. Zuerst dachte ich, ich verstehe gar nichts,
aber dann merkte ich, dass es sehr leicht und verständlich
geschrieben war. Dort stand, dass man beim Schach ebenso
wie im Kriege möglichst rasch die Initiative ergreifen
und seine Figuren vorschieben müsse, um in die
Stellungen des Gegners einzudringen und dessen König
anzugreifen. In dem Buch war auch beschrieben, wie man
die Partie anfängt, wie man den Angriff vorbereitet,
sich verteidigt und noch viele andere nützliche
Dinge. Ich las das Buch zwei Tage hintereinander, und
als ich am dritten zu Alik kam, setzte ich ihn eine
Partie nach der anderen matt. Alik war einfach baff
und konnte nicht begreifen, was mit mir los war. Die
Lage hatte sich gründlich geändert. Nach ein
paar Tagen spielte ich so, dass Alik keine einzige Partie
mehr gewann, auch nicht durch Zufall" (72).
Zum ersten Mal lernt Witja, sich dessen
durchaus noch nicht bewusst, dass konzentrierte Arbeit
Erfolg bringen kann. Da half alles Reden nicht, er mußte
es selbst erfahren. Damit aber hat das Schachspiel seine
Funktion erfüllt und gegen Alik machte es sowieso
keinen Spaß mehr.
- "Nanu", sagte er, "du
willst nicht mehr? Du hast doch eine horrende Schachbegabung.
Du wirst noch mal ein berühmter Schachmeister werden,
wenn du weitermachst" (73). Der tiefere Grund liegt
jedoch in der gefährdeten Balance. Der vollkommene
Sowjetmensch wird auch kein Schachmeister. Zuviel Schach,
das muß selbst Alik später eingestehen (175),
lenkt vom Wesentlichen ab und führt nur zur sozialen
Isolation (186).
Das klingt, aus pädagogischer Sicht,
zu schön um wahr zu sein? Zweifelt man an der Echtheit,
dann stellt man die gesamte Pädagogik Makarenkos
in Frage, die sich in diesem Buch so unübersehbar
ausdrückt. Makarenkos noch immer lesenswerte Berichte
("Ein Buch für Eltern") und Romanadaptionen
("Der Weg ins Leben","Flaggen auf den
Türmen" u.a.) der Gorki- und Dzierzynksi-Kommunarden
klingen nicht weniger utopisch, aber es gibt keinen
Grund, an den Erfolgen zu zweifeln, ganz gleich, ob
man das politische System, in welches sie integriert
wurden, befürwortet oder nicht. Mit einer positiven,
nahezu euphorisch verwirklichten und aktiven Kollektivpädagogik,
die man dem stalinistischen System nicht zutraut, gelang
es tausendfach, aus rauen, verwahrlosten Straßenkindern,
ethikbewußte und glücksfähige Menschen
zu machen. Makarenkos Grundaxiome waren ein strenges
kollektives Arbeitsethos ("Jede Arbeit ist etwas
Erfreuliches") und das Primat der Zukunft vor der
Vergangenheit. Man fragte den Schüler nie, wer
er war, sondern nur was aus ihm werden soll [3]. Dies alles
vor dem Hintergrund einer unbezweifelbaren Autorität
des Leiters, des "Brigadiers", der selbst
zu absoluter Ehrlichkeit verpflichtet wurde [4].
Das Spiel des Kindes wurde als wesentlicher
Bestandteil der Entwicklung angesehen: "Wie das
Kind beim Spiel ist, so wird es, wenn es größer
ist, in vieler Hinsicht auch bei der Arbeit sein. Daher
wird der künftige schaffende Mensch vor allem im
Spiel erzogen". Das Spiel muß zu diesem Zwecke
vom Erzieher einerseits organisiert, andererseits aber
auch frei gestattet werden. Es müssten vor allem
die eigenen Impulse des Kindes – wie es Witjas
Vater mit dem Schach gekonnt machte – aufgegriffen
werden, statt zu orientieren. Dabei ist besonders darauf
zu achten, "dass das Spiel nicht zum einzigen Streben
des Kindes wird und es nicht völlig von gesellschaftlichen
Zielen ablenkt" [5].
In diesem Sinne lässt Witja das Schachspiel wieder
fahren, nachdem es ihm die wesentliche Lektion gelehrt
hat, es wird ihn von nun an als Spiel weiter begleiten,
aber nie eine dominante Stellung einnehmen. Das Schachspiel
eignet sich vor allem, weil "ein Spiel ohne Anstrengung,
ein Spiel ohne aktive Betätigung, immer ein schlechtes
Spiel ist" [6]. Umgekehrt
muß das Interesse am jeweiligen Spiel aktiv sein,
darf nicht zum reinen Zuschauerinteresse verkommen.
"Wenn eine große Leidenschaft Ihren Sohn
zu allen Fußballspielen treibt, wenn er alle Rekorde
und die Namen aller Rekordhalter kennt, selbst aber
an keinem Sportzirkel teilnimmt,
so ist der Nutzen
eines solchen Sportinteresses gering, ja es ist oft
geradezu schädlich. Ebenso wenig Sinn hat ein Interesse
am Schachspiel, wenn ihr Kind nicht selbst spielt"
[7].
Unter diesen Prämissen wurde das Schachspiel auch
in den Kommunen Makarenkos gespielt, wenngleich das
Primat doch auf Bewegungs- und Militärspielen lag.
Makarenko selbst spielte es mit seinen Kommunarden und
Erziehern [8]. Ansonsten
gehörte es zum festen Bestand der sozialen und
entspannenden Tätigkeiten [9],
das Makarenko mitunter als rein erzieherisches Mittel
nutzt [10]. In der späteren
Dzierzynski-Kommune gab es einen dafür eingerichteten
Klub. "Der Klub hieß Stiller
Klub, weil dort nicht laut gesprochen werden darf. Hier
kann man lesen oder Schach, Dame, Domino und andere
Tischspiele spielen" [11].
Selbst interne Schachmeisterschaften fanden statt [12].
A.S. Makarenko
--- Jörg Seidel, 28.06.2005 ---
[1]
A.S. Makarenko: Einige Schlussfolgerungen aus der pädagogischen
Erfahrung. In: Werke Band 5. S. 282
[2] Der Autor dürfte
vor allem durch den Kinderbuchklassiker "Nimmerklug
im Knirpsenland" bekannt sein, ein Buch, das im
Osten in fast jedem Kindergarten vorgelesen worden sein
dürfte. Erst kürzlich nannte Alexander Grischuk
einen Titel Nossows als sein Lieblingsbuch: "The
book that excited me most was Neznayka na Luna by N.
Nosov, which I have read more than 10 times in my childhood"
(NIC 2005/4. S. 98)
[3] Flaggen auf den Türmen.
In: Werke Band 3. S. 54 und 502
[4] Flaggen auf den Türmen.
In: Werke Band 3 S. 85ff.
[5] Vorträge über
Kindererziehung. In: Werke Band 4 . S. 397ff.
[6] Vorträge über
Kindererziehung. In: Werke Band 4 . S. 399
[7] Vorträge über
Kindererziehung. In: Werke Band 4 . S. 447
[8] Ein pädagogisches
Poem. In: Werke Band 1. S. 136
[9] Flaggen auf den Türmen.
In: Werke Band 3. S. 121
[10] Der Marsch des Jahres
dreißig. In: Werke Band 2. S. 92
[11] Der Marsch des Jahres
dreißig. In: Werke Band 2. S. 18 vgl. S. 484
[12] Der Marsch des Jahres
dreißig. In: Werke Band 2. S. 107
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