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LITERATUR
1. Mai 2002

"Philidor. Eine einzigartige Verbindung von Schach und Musik"

Susanna Poldauf

Schöne Frauen haben es im Leben leichter, das ist wissenschaftlich erwiesen und vollkommen aufklärungsresistent. Mann verzeiht ihnen schneller Fehler und verliert an Kritikfähigkeit. Ich gehöre zu denjenigen, die das ernstlich bedauern, aber sich nicht dagegen wehren können.
Susanna Poldauf ist eine schöne Frau, wie das ihrem Buch beigefügte Photo eindrucksvoll belegt. Die schwierige Aufgabe bestand also darin, dieses Buch trotzdem objektiv zu besprechen, mit anderen Worten: der männschlichen Natur zuwider. Erreichen kann dies nur ein bewusst ausgeprägter Kritizismus, der nach Fehlern und Schwächen mit Absicht sucht. Das gleich vorweg: sie machen das Buch noch sympathischer, und gemessen am Lobenswerten ist das Tadelnswerte daran fast zu vernachlässigen. Aber "Kritik" kommt von "scheiden", "trennen", "sondern" und ihre Aufgabe ist es die Spreu vom Weizen zu trennen und "Rezension" stammt von "recensere": "prüfen", "mustern", durchaus im militärischen Sinne. Eine Rezension hat wie der Offizier die Mängel zu kritisieren und nicht zu loben, was man von jedem Buch unausgesprochen erwarten darf, sondern lediglich das daran Außergewöhnliche. Und zu kritisieren ist der entsprechende Text, nicht aber dessen Gegenstand, die Besprechung hat die Lektüre nicht zu ersetzen.

Die Idee dieses Buches ist prinzipiell zu begrüßen! Ein Blick in Poldaufs Literaturverzeichnis zeigt, dass es zu Philidor, dieser hochinteressanten historischen Gestalt, seit Jahrzehnten kaum eine ernsthafte Arbeit mehr gegeben hat und im deutschsprachigen Raum schon gar nicht. Aber was will die Autorin damit erreichen? Dies ist eine Frage, die auch die Lektüre nicht eindeutig beantworten kann. Will es eine Monographie sein, eine Biographie vielleicht oder ein kulturhistorisches Werk, wird der Musik- oder der Schachliebhaber angesprochen und wird gar ein Forschungszweck angestrebt? Da die Autorin ihr Anliegen nicht deutlich darlegt, bleibt die Antwort dem Leser überlassen und damit der subjektiven Willkür. Irgendwie ist es alles ein bisschen, aber nichts so richtig. Das muss nicht negativ sein, gestattet es doch immerhin vielfältige Blicke, deren Durcheinander höchstens einen anspruchsvolleren ästhetischen Sinn unangenehm berühren könnte.

 

Damit scheint der Idealleser des Buches derjenige zu sein, der sich "mal informieren" will, weniger der Fachmann, der Historiker, der Philidorforscher oder Musikwissenschaftler, die nichtsdestotrotz alle darin etwas finden werden. In erster Linie bleibt es eine allgemeinverständliche Zusammenfassung des bisherigen Wissenstandes, nur an wenigen Stellen zitiert sie aus Primärquellen und nur einmal, soweit zu sehen ist, scheint sie selbst eine neue Quelle ausfindig gemacht zu haben, einen interessanten Artikel der "Berlinischen Priviligierten Zeitung" von 1750 (S. 48f.), mit dessen Hilfe sie einen weißen Fleck in der Geschichte des doppelbegabten Meisters beseitigen zu können scheint.

 

So gesehen ist es also eine dieser typischen Arbeiten, die man im akademischen Betrieb mit dem Euphemismus "sehr fleißig" beurteilt und die sich meist durch ihre Trockenheit auszeichnen, aber dabei darf man nicht stehen bleiben. Stilistisch ist das immer ein Problem für diese Art von Text, objektiv und flüssig zugleich zu sein und obwohl man Poldaufs Buch hin und wieder das Herkommen aus der Magisterarbeit anmerkt, so bewältigt sie diesen Spagat doch überzeugend – es ist kein Krimi geworden, aber auch nicht eine dieser trockenen Monographien, bei denen jedes Umblättern mit einem Gähnreflex verbunden ist. Auch inhaltlich lässt sich der Versuch, unvoreingenommen zu bleiben, leicht nachvollziehen, denn auch dies ist eine Gefahr des Genres: zu Mythisierungen und doxographischem Verhalten zu neigen. Der Versuch ist freilich nicht immer gelungen, hin und wieder tappt die Autorin in diese Falle, etwa als sie uns trotz schlechter Quellenlage davon überzeugen will, dass Philidor ein guter Vater gewesen sei (66) oder dass die im wesentlichen unerforschte Deutschlandreise ihn zum Musizieren anregte (60), nur weil er in ihrem Anschluss danach wieder anfing, oder aber wenn sie aus dem noch neuartigen Einbau von Naturgeräuschen in die Oper eine "außergewöhnliche Beobachtungsgabe" schlussfolgert und die auch noch mit Diderots Geniebegriff kurzschließt (81f.). Vielleicht ist noch die fast naive Zitierung eines Romans als historische Quelle (110) ein Ergebnis dieser Unaufmerksamkeit. Und wenn behauptet wird, Philidor habe "bei vielen Denkern seiner Zeit Interesse für das Schach" geweckt (46), dann reicht es nicht, wenn man Goethe und Lessing erwähnt, als gäbe es da direkte Einflüsse, sondern da muss empirisches Material ran um eine solche Behauptung zu stützen, denn vielleicht war es ja nur Zeitgeist oder sonst was. Auch eine Aussage wie: "Doch Philidor scheint nicht am Schach als Allegorie interessiert gewesen zu sein. Er wollte dieses Spiel durchdringen, an dem ihn mehr als nur das spielerische Element faszinierte" (15), muss ihr Herkommen erklären. Schließlich betont die Autorin mehrfach - und andere Rezensenten nehmen das dankbar und bedenkenlos auf -, dass es "zur Verwirklichung seiner Vorstellungen vom Schach ebenbürtiger Gegner bedurft hätte" (61), dabei könnte Philidor doch gerade auf Grund seiner neuartigen Vorstellungen vom Schach den anderen überlegen gewesen sein.

Das alles sind Kleinigkeiten, sie trüben den Genuss und Gewinn kaum, zeigen aber, dass wir dazu neigen, Menschen, die wir ob einer technischen Fähigkeit bewundern, auch moralisch zu heroisieren. Auch dieser Tatbestand ist aufklärungsresistent: Schon Kant hatte nachgewiesen, wie wenig Tugend und Leistung zusammengehören und ausgerechnet Diderot hat mit "Rameaus Neffe" diese Einsicht einzigartig radikalisiert. Fundamental wird der Fehler, wenn Philidor als Aufklärer deklariert wird; nicht dass er keiner gewesen sei – das kann ich nicht beurteilen – aber weder die Bekanntschaft mit Rousseau und Diderot noch vermeintliche aufklärerische Tendenzen in der Musik oder gar im Schachspiel berechtigen zu solch einer Annahme. Diese Frage kann man nur vom Aufklärungsbegriff selbst her angehen, von einer metaphysischen Ebene aus, die bei Poldauf freilich nahezu vollkommen fehlt.

Unbedingt gelungen ist das Buch als kulturhistorische Studie; hier schafft es Susanna Poldauf auf hervorragende Art und Weise in die Stimmung der Zeit einzuführen und viele faszinierende Beziehungen herzustellen. Da wird das Kaffeehauszeitalter für Momente lebendig und der Leser bekommt einen fast nostalgischen Einblick in den geistigen Reichtum der Epoche, zu dessen intellektuellem Haushalt das Schach noch genauso zählte wie die Musik, die Mathematik, die Philosophie, die schönen Künste. So wird nicht nur Philidor lebendig, nein auch Mozart, Euler, Leibniz, die Enzyklopädisten, Klinger und Heinse, selbst der Schachautomat u.v.a. werden wiederbelebt. So etwas, ein gelungenes Kulturgemälde, muss man in der Schachliteratur tatsächlich suchen.

Gleiches gilt für den ambitiösen und abschließenden Versuch, Musik und Schach zu verbinden, was bei Philidor selbst nicht zu klappen scheint, denn beide Bereiche existieren eher - dies zumindest ist, trotz gegenteiliger Aussagen, der Eindruck den das Buch verbreitet - nebeneinander statt miteinander. "Das größte Rätsel bleibt jedoch die Frage nach der Verbindung von Schach und Musik in seinem Werk" (140). Zugegeben, das bleibt es auch nach Poldaufs Buch und dessen abschließendem Kapitel, in dem sie diese Beziehung beleuchtet, aber es ist ein guter Ausgangspunkt geschaffen, von dem es fortzudenken gilt. Einige Ideen werden andeutungshalber wenn auch nicht immer korrekterweise entwickelt. Richtig ist, dass man die "strukturellen Gemeinsamkeiten" finden und untersuchen muss, aber die darf man dann nicht mit Analogien verwechseln. Dass Eröffnung und Ouvertüre solche strukturellen Gemeinsamkeiten seien, klingt leider nur gut, hält aber einer tieferen Einsicht nicht stand, allein schon weil, ganz allgemein gesprochen, alles, was ist, anfängt (und demzufolge strukturell dem Schach verwandt sein müsste) und im besondern es durchaus Musik gibt, die auf diese klassische Einteilung vollkommen verzichtet. Dass die Mathematik der "gemeinsame Schnittpunkt zwischen Schach und Musik" sei (142), ist ein fast genialer Gedanke, dessen Missverständnis leider in der eher platten Analogie acht Felder und acht Töne der Tonleiter offensichtlich wird. Dadurch wirkt der Vergleich zwischen Musik und Schach leider etwas gewollt, was dem unbedingt positiven Gesamteindruck des zudem hervorragend gestalteten schmalen Buches kaum Abbruch tut. Ein Wunder, dass die erste Auflage noch immer nicht vergriffen ist (einer zweiten sind entsprechende Korrekturen zu wünschen), denn das Buch stellt auf dem aktuellen Markt ein seltenes Kleinod dar.

(Susanna Poldauf: Philidor. Eine einzigartige Verbindung von Schach und Musik. Berlin 2001. Exzelsior Verlag. 190 Seiten)

Weitere Online-Vorstellungen und eine Rezension unter:
http://www.chessgate.de/rezensionen/rezensionen_poldauf_philidor.html

http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=537

http://www.rochadekuppenheim.de/figo/philidor.htm

Zum Verlag inkl. einiger Infos zum Buch:
http://www.exzelsior.de/buecher/buecher.htm

 

--- Jörg Seidel, 01.05.2002 ---


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

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