|
Wie man einem Zentauren begegnet oder
Harry Potter und der Stein
der Schachweisen
Zuerst,
das war vor drei, vier Jahren, glaubte ich, ein Schachbuch
in der Hand zu halten. Woran erkennt man denn ein solches,
wenn nicht am Schachbrett auf dem Cover? Aber schon
die ersten Kapitel, die zweifellos ganz gut gemacht
waren, belehrten eines anderen: mit Schach konnte das
wenig zu tun haben und den Stein der Weisen wird man
auch nicht finden! Und da die Geschichte bald ins Abstruse
abglitt, der Autorin sichtlich der Erzählfaden
verloren ging, legte ich das Büchlein wieder beiseite
und verscherbelte es bald darauf.
Jahre später scheint die ganze Welt kein anderes
Thema mehr zu kennen, in Buenos Aires spricht man darüber
und in Kapstadt, Kinder in Berlin und London stürmen
die Kinos, in Moskau und Miami laufen die gleichen vermummten
Gestalten herum – es ist ein weltweites Ereignis
geworden. Was ist geschehen, wie lässt sich der
Erfolg beim Leser – nicht beim Käufer: das
ist ein anderes Thema und müsste ökonomische,
sozialpsychologische und weitgreifende Überlegungen
einbeziehen - sich erklären und ist er berechtigt?
Was, in Herrgotts Namen, hat das alles mit Schach zu
tun?
Eine 35-Millionen-Auflage lässt
sich so wenig kritisieren wie eine Flut oder eine Lawine
und ist ohnehin sinnlos, denn die Entscheidung ist längst
gefallen. Was hunderte Millionen Menschen lesen, hat
sich jenseits der Kritikgrenze angesiedelt; man kann
nur noch erläutern, aber nicht mehr urteilen. Quantität
schlug hier schon um in eine neue Qualität, in
der freilich Qualität selbst schon keine tragende
Rolle mehr spielt, sie ist kein Kriterium für Erfolg
mehr. Ein solcher Triumph sagt von vornherein viel weniger
über das Buch aus als über seine Zeit, in
der ein solches Buch erst solch ein Triumph werden kann.
Man muss sich fragen, ob man gegen die Begeisterung
ganzer Völkerstämme und Generationen noch
sinnvoll anschreiben darf. [...]
Dieser Artikel wurde in das Buch "Metachess.
Zur Philosophie, Psychologie und Literatur des Schachs"
(Edition Grundreihe, 2009, ISBN: 978-3-937206-07-3,
Paperback, 14,8 x 21 cm, 426 Seiten, 22,90 Euro)
aufgenommen und kann dort in voller Länge gelesen
werden.
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.
|
|