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LITERATUR
29. November 2001


Wie man einem Zentauren begegnet oder
Harry Potter und der Stein der Schachweisen

Zuerst, das war vor drei, vier Jahren, glaubte ich, ein Schachbuch in der Hand zu halten. Woran erkennt man denn ein solches, wenn nicht am Schachbrett auf dem Cover? Aber schon die ersten Kapitel, die zweifellos ganz gut gemacht waren, belehrten eines anderen: mit Schach konnte das wenig zu tun haben und den Stein der Weisen wird man auch nicht finden! Und da die Geschichte bald ins Abstruse abglitt, der Autorin sichtlich der Erzählfaden verloren ging, legte ich das Büchlein wieder beiseite und verscherbelte es bald darauf.
Jahre später scheint die ganze Welt kein anderes Thema mehr zu kennen, in Buenos Aires spricht man darüber und in Kapstadt, Kinder in Berlin und London stürmen die Kinos, in Moskau und Miami laufen die gleichen vermummten Gestalten herum – es ist ein weltweites Ereignis geworden. Was ist geschehen, wie lässt sich der Erfolg beim Leser – nicht beim Käufer: das ist ein anderes Thema und müsste ökonomische, sozialpsychologische und weitgreifende Überlegungen einbeziehen - sich erklären und ist er berechtigt? Was, in Herrgotts Namen, hat das alles mit Schach zu tun?

Eine 35-Millionen-Auflage lässt sich so wenig kritisieren wie eine Flut oder eine Lawine und ist ohnehin sinnlos, denn die Entscheidung ist längst gefallen. Was hunderte Millionen Menschen lesen, hat sich jenseits der Kritikgrenze angesiedelt; man kann nur noch erläutern, aber nicht mehr urteilen. Quantität schlug hier schon um in eine neue Qualität, in der freilich Qualität selbst schon keine tragende Rolle mehr spielt, sie ist kein Kriterium für Erfolg mehr. Ein solcher Triumph sagt von vornherein viel weniger über das Buch aus als über seine Zeit, in der ein solches Buch erst solch ein Triumph werden kann. Man muss sich fragen, ob man gegen die Begeisterung ganzer Völkerstämme und Generationen noch sinnvoll anschreiben darf. [...]

 

Dieser Artikel wurde in das Buch "Metachess. Zur Philosophie, Psychologie und Literatur des Schachs" (Edition Grundreihe, 2009, ISBN: 978-3-937206-07-3, Paperback, 14,8 x 21 cm, 426 Seiten, 22,90 Euro) aufgenommen und kann dort in voller Länge gelesen werden.


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

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