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Jonathan Rowson: Schach für Zebras
Es gibt jede
Menge Dinge, die wir über Schach nicht wissen, deshalb
sollten wir mit unseren Einschätzungen und Urteilen
maßvoll umgehen.
Jonathan Rowson
Schach ist mehr als Eröffnungstheorie
und Mattangriff, liest man auf Seite 1, und kaum ein
zeitgenössischer Autor stellt das besser unter
Beweis, als Rowson selbst. Mit "Die sieben Todsünden
des Schachspielers" hatte der junge Schotte
vor sieben Jahren den Schachbuchmarkt aufgemischt, augenblicklich
einen Klassiker verfasst, der schon jetzt zum Kanon
zählt. Das Neue und Erfrischende daran war der
abstrakte Charakter des Buches, das mehr über
Schach nachdachte und erst dann an Schach. Nun
erschien das Nachfolgewerk zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung
endlich auf Deutsch, in guter Übersetzung und auch
wenn es nicht mehr jene Schockwellen auszusenden vermag,
so ist es doch unverkennbar dem Erbe des Erstlings geschuldet.
Ein Werk also, das versucht, Augen zu öffnen, wie
schon der paradoxe Titel verrät. Dies gelingt durch
hartnäckiges Selberdenken.
Kurz und gut: Es ist Philosophie. Liest
man Rowson, dann könnte man glauben, Schach sei
so etwas wie Leben und Tod, Sein und Nichts, Raum und
Zeit, einer jener absoluten Begriffe also, über
die es nie Klarheit geben wird, die aber immer wieder
zu denken, grübeln und spintisieren anregen werden.
Er verbindet dies ganz unverblümt mit einer nonkonformistischen
und eklektizistischen Herangehensweise und vergisst
auch die gesellschaftlichen Dimensionen nicht. Wem das
zu abgehoben ist, der muss sich nicht entmutigt fühlen,
denn diesmal legte der dreifache britische Meister großen
Wert auf die Spielpraxis. Man muss also nicht auf außergewöhnliche
Partien, noch nicht mal auf diverse eröffnungstheoretische
Gedanken verzichten, ganz im Gegenteil, sie werden durch
tiefgründige Analysen (mehr psychologisch als variantenanalytisch)
nur noch attraktiver. Vielleicht besser noch als Nunn,
Kotow, Pfleger u. a. gelingt es ihm, die gedankliche
und emotionale Innenwelt des Großmeisters verständlich
zu machen, was freilich auch zu einer gewissen Desillusionierung
führen kann, denn man begreift mehr als einmal
– sofern man nicht selbst zwei fünf im Nahschach
vorweisen kann – wie uneinholbar weit dieses Denken
von dem des Otto-Normalspielers entfernt ist. Man muss
darüber aber nicht verzweifeln, man kann es nämlich
auch genießen wie das unerreichte Spiel eines
Virtuosen.
Sollte man aber die Lehre der Zebras
in einen Satz fassen, dann wäre es wohl dieser
scheinbar banale: Alles ist relativ! Ihn mit Inhalt
zu füllen kann nur die kritisch-aufmerksame Lektüre
leisten, wobei es hilfreich sein dürfte, sich erst
mit dem Inhalt der "Sieben Todsünden"
vertraut zu machen. Es darf auch nicht verschwiegen
werden, dass Rowsons Herangehensweise im theoretischen
Teil vornehmlich philosophisch und psychologisch ist,
was dem "gemeinen Schachspieler" hinderlich
sein könnte. Aber die Anstrengung lohnt, und selbst
wenn man mit Rowsons streitbaren Ansichten nicht einverstanden
ist, so bekommt man noch immer die beste Einführung
in die Gedankenwelt anderer und schweigsamerer Querdenker:
Hübner, Hodgson, Jussupow, Suba, um nur einige
zu nennen.
Methodologisch nutzt der Schachphilosoph
einen in der Zunft altbewährten Trick: Er gibt
den alten Phänomenen neue Namen, verändert
dadurch die Blickwinkel und – voilà! –
neue Ein- und Ansichten entstehen, räumt er auf
mit ideologielastigen Sophismen. Dieses Rezept verfehlt
nie, erträgt sogar gelegentliche Geschwätzigkeit.
Die ordinäre Schachpartie wird plötzlich zur
Erzählung, zum Mythos, in ihr walten Psycho-Logik,
Tun, Sein und Potenz, die alten Begriffe von Raum, Zeit,
Material, Anzugsvorteil etc. werden perspektiviert,
verlieren und gewinnen zugleich. Aus allem spricht eine
große nicht-professionalisierte Liebe; Rowson
scheint Schach zu atmen, zu essen, zu schlafen und wer
weiß was noch, ohne sich in das 64-gittrige Gefängnis
zu begeben.
Man könnte – Heidegger paraphrasierend
– behaupten, dass das Schach (wie die Wissenschaft)
und in gewisser Weise auch der Schachspieler nicht denkt,
weil er das Sein und Wesen seiner selbst just im Spiel
aber auch in der Theorie (Eröffnung, Mittelspiel,
Endspiel), in der Strategie und Taktik etc. fundamental
vernachlässigt und ausblendet, aber auch weil das
Schach sich nicht in der Dimension der Philosophie bewegt
auf die es aber letztendlich angewiesen ist. Auch das
Schach findet im Bereich von Raum und Zeit und Bewegung
statt; was Raum, Zeit und Bewegung aber sind, kann das
Schach als Schach nicht ergründen. Wenn man so
will, dann versucht Rowsons Seinsanalyse (besonders
S. 166ff.) auf dieses Defizit aufmerksam zu machen,
dann haben wir in Rowson – sofern er die wesentlichen
Gedanken einmal zur Konsequenz führen wird –
vielleicht eines Tages einen Heidegger des Schachs,
einen Fundamentalontologen des Königlichen Spiels.
Am Ende steht oft der Satz "In solchen
Situationen
" und zugleich macht er deutlich,
dass es "solche Situationen" auf dem Brett,
das die Welt bedeutet, gar nicht gibt, denn Schach im
besten Verständnis ist ein einmaliges Spiel, im
Sinne der Einzigartigkeit der jeweiligen Situation;
jedes Mal muss aufs Neue und ganz subjektiv entschieden
werden, in anderen Worten: selbst denkend und kreativ.
Dies macht ja die Faszination des Spiels aus und garantiert
im Übrigen auch weiterhin jede Menge Schachbücher.
Hoffentlich sind noch ein paar Rowsons dabei.
Der Artikel wurde in gekürzter Form
in der Maiausgabe der Fernschachpost
veröffentlicht.
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--- Jörg Seidel, 25.08.2007 ---
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