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LITERATUR
26. April 2008

David Shenk – The Immortal Game

Braucht die Welt wirklich noch eine Schachgeschichte? Gibt es nicht schon genügend gute – von Murray über Gizycki bis zu Ernst Strouhals Opus magnum – und noch viel mehr mittelmäßige und schlechte? Nein, sie braucht es nicht, lautet die einhellige Antwort, nicht solange wesentlich neue und revolutionierende historische Einsichten vorliegen. Aber diese Antwort war nur bis gestern gültig, bis David Shenks bescheidenem Taschenbuch, denn dieser in Fachkreisen vollkommen unbekannte Autor hat das Wunder vollbracht, uns trotz allem von der Notwendigkeit einer neuen Schachgeschichte zu überzeugen, indem er sie vorgelegt hat: Es ist die beste; diejenige zumindest, die man dem Spezialisten ebenso empfehlen kann wie dem blutigen Amateur, dem Philosophen, dem Künstler, dem Lehrer und sogar dem gemeinen Spieler mit kariertem Brett vorm Kopf.

Die Superlative mögen überraschen, bei einem, dessen Name noch nie in der Schachwelt auftauchte, der weder eine ELO-Zahl besitzt, Turniere gespielt und sich auch als Historiker noch keinen Namen gemacht hat. Stattdessen wird man ihn als Autor eines viel gelobten Buches über Alzheimer (!) ermitteln. Aber History besteht aus zweierlei Arten Geschichte, der der Fakten und der erzählten. Echte Historiker sind Sammler, Shenk dagegen ist Plauderer und Denker. Man muss auf die feinen Differenzen hören: Ihm geht es nicht um die Geschichte, ihm geht es – wie einem Märchenerzähler – um eine Geschichte des Schachs.

Das Königliche Spiel hatte er überhaupt erst im Jahre 2002 kennen gelernt, wurde dann aber mit voller Wucht vom Schachvirus befallen, den loszuwerden in diesem Falle offensichtlich nur ein Weg half, nämlich das Phänomen zu begreifen und in die Pandorabüchse Buch zu versiegeln. Die Wut und Lust, mit der sich der Amerikaner in das Unternehmen stürzte, spürt man an jeder Zeile. Als Ur-ur-ur-ur-Enkel (oder so) von Samuel Rosenthal taucht er nicht nur kopfüber in Familiengeschichte ein, sondern in Kulturgeschichte, Metapherngeschichte, Faszinationsgeschichte, Realgeschichte. Und das ist sein Ansatz: Nicht die Abfolge von genialen Spielern – tatsächlich spielen die großen Namen nur eine untergeordnete Rolle; über Morphy, Capablanca, Lasker, Karpow etc. hört man so gut wie nichts, Tarrasch, Rubinstein, Euwe, Bronstein, Kramnik und viele andere finden nicht einmal Erwähnung! –, nicht die Aneinanderreihung von großen Turnieren, Eröffnungsmoden und Spielstilen und auch nicht die x-te Wiederholung von Anekdoten und Bonmots werden hier unter Geschichte verstanden, sondern das Schach in seiner kulturellen Verflechtung mit der Welt in historischer Zeit und geschichtlichem Raum. Wie wohltuend, das alles von einem wachen Zeitgeist erzählt zu bekommen, von einem, der weder vom Schach kommt noch von der Geschichte und der schreiben kann, begnadet schreiben und der die intellektuelle Kraft besitzt, erfrischende abstrakte Ableitungen aus kalten Fakten zu ziehen. Lesen macht hier wirklich Spaß und Information wird daher fast nebenbei aufgesaugt. Mag dieses Buch faktenärmer und historisch unvollständiger sein als viele seiner Vorgänger, so ist es doch farbenreicher; ein wunderbar verwebter Erzählteppich, selbst ein kleines Kunstwerk, das ein größeres Kunstwerk, nämlich das mannigfaltige Schach, kongenial anpreist. Shenk ist zu intelligent, um dies unkritisch zu tun, und zu vorsichtig, um den gefährlichen Versuchungen der Monokultur Schach zu erliegen; indem er die unendliche Größe und Schönheit des Spiels feiert, weist er zugleich auf dessen enge Grenzen hin – das Geheimnis ist wie immer die richtige Mixtur. Man gewinnt den Eindruck, dass Shenk sich seine Sorgen von der Seele schreiben, eine Gefahr von sich abwenden wollte und wenn nicht alles täuscht, so wird dies alles sein, was er je zum Schach zu sagen haben wird und das ist gut so; man kann gespannt sein, wessen er sich als nächstes widmet.

Zu allem Überfluss ist das Buch auch noch hervorragend gestaltet, ein ästhetischer Genuss, passend aufgeteilt in prägnante Lese- und Spielsequenzen (die "Unsterbliche" zwischen Anderssen und Kieseritzky, was sonst?), robust gearbeitet und selbst das Papier bietet taktile Befriedigung. Lohnt es sich da, über ein, zwei verbale Ausrutscher oder weltanschauliche Fallstricke zu klagen oder nach Mikrofehlern zu suchen? Nein, das hier kann rundum empfohlen werden; es ist schwer zu sehen, wie man auf diesem Sektor noch Besseres leisten kann.

David Shenk: The Immortal Game. A History of Chess or, How 32 Carved Pieces on a Board Illuminated Our Understanding of War, Science, and the Human Brain. New York 2007

 

Anhang: einige Appetitanreger aus dem philosophischen Bereich:

Other parlor games amuse, entertain, challenge, distract; chess seizes.

Chess is a powerful reducing agent. It can reduce a whole battlefield or city or planet down to sixty-four squares. And yet, within that simplistic frame, chess retains its active quality; like a snow globe, it shrinks things down, but retains its dynamic essence.

How could one game symbolize so many different entities, structures, relationships, notions? It largely came down to the fact that chess had been designed as a symbol to begin with. Out of the box, it came furnished with a wide variety of generic attributes that lent themselves to an even wider variety of metaphorical applications: chess was a battle between two groups, each stratified by social ranking, contesting for dominance over a finite piece of geography, interacting in a dynamic so complex it seemed to take on a life of its own, each army manipulated by a player, battling each other with wits rather than brawn, employing both tactics (short-term planning) and strategy (long-term planning), in a game that could never truly be mastered.

Chess is not only a game of the mind, but also very much a mind game.

I could see that one could learn the game without surrendering to the oppressive weight of its limitlessness. Being serious about chess didn’t require abandoning fun; it didn’t require solitary neuroticism; it didn’t even require putting up with the coldness and nastiness of aggressive adult players.

 

--- Jörg Seidel, 26.04.2008 ---


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