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David Shenk –
The Immortal Game
Braucht die Welt wirklich noch eine
Schachgeschichte? Gibt es nicht schon genügend
gute – von Murray über Gizycki bis zu Ernst
Strouhals Opus magnum – und noch viel mehr mittelmäßige
und schlechte? Nein, sie braucht es nicht, lautet die
einhellige Antwort, nicht solange wesentlich neue und
revolutionierende historische Einsichten vorliegen.
Aber diese Antwort war nur bis gestern gültig,
bis David Shenks bescheidenem Taschenbuch, denn dieser
in Fachkreisen vollkommen unbekannte Autor hat das Wunder
vollbracht, uns trotz allem von der Notwendigkeit einer
neuen Schachgeschichte zu überzeugen, indem er
sie vorgelegt hat: Es ist die beste; diejenige zumindest,
die man dem Spezialisten ebenso empfehlen kann wie dem
blutigen Amateur, dem Philosophen, dem Künstler,
dem Lehrer und sogar dem gemeinen Spieler mit kariertem
Brett vorm Kopf.
Die Superlative mögen überraschen,
bei einem, dessen Name noch nie in der Schachwelt auftauchte,
der weder eine ELO-Zahl besitzt, Turniere gespielt und
sich auch als Historiker noch keinen Namen gemacht hat.
Stattdessen wird man ihn als Autor eines viel gelobten
Buches über Alzheimer (!) ermitteln. Aber History
besteht aus zweierlei Arten Geschichte, der der Fakten
und der erzählten. Echte Historiker sind Sammler,
Shenk dagegen ist Plauderer und Denker. Man muss auf
die feinen Differenzen hören: Ihm geht es nicht
um die Geschichte, ihm geht es – wie einem
Märchenerzähler – um eine Geschichte
des Schachs.
Das Königliche Spiel hatte er überhaupt
erst im Jahre 2002 kennen gelernt, wurde dann aber mit
voller Wucht vom Schachvirus befallen, den loszuwerden
in diesem Falle offensichtlich nur ein Weg half, nämlich
das Phänomen zu begreifen und in die Pandorabüchse
Buch zu versiegeln. Die Wut und Lust, mit der sich der
Amerikaner in das Unternehmen stürzte, spürt
man an jeder Zeile. Als Ur-ur-ur-ur-Enkel (oder so)
von Samuel Rosenthal taucht er nicht nur kopfüber
in Familiengeschichte ein, sondern in Kulturgeschichte,
Metapherngeschichte, Faszinationsgeschichte, Realgeschichte.
Und das ist sein Ansatz: Nicht die Abfolge von genialen
Spielern – tatsächlich spielen die großen
Namen nur eine untergeordnete Rolle; über Morphy,
Capablanca, Lasker, Karpow etc. hört man so gut
wie nichts, Tarrasch, Rubinstein, Euwe, Bronstein, Kramnik
und viele andere finden nicht einmal Erwähnung!
–, nicht die Aneinanderreihung von großen
Turnieren, Eröffnungsmoden und Spielstilen und
auch nicht die x-te Wiederholung von Anekdoten und Bonmots
werden hier unter Geschichte verstanden, sondern das
Schach in seiner kulturellen Verflechtung mit der Welt
in historischer Zeit und geschichtlichem Raum. Wie wohltuend,
das alles von einem wachen Zeitgeist erzählt zu
bekommen, von einem, der weder vom Schach kommt noch
von der Geschichte und der schreiben kann, begnadet
schreiben und der die intellektuelle Kraft besitzt,
erfrischende abstrakte Ableitungen aus kalten Fakten
zu ziehen. Lesen macht hier wirklich Spaß und
Information wird daher fast nebenbei aufgesaugt. Mag
dieses Buch faktenärmer und historisch unvollständiger
sein als viele seiner Vorgänger, so ist es doch
farbenreicher; ein wunderbar verwebter Erzählteppich,
selbst ein kleines Kunstwerk, das ein größeres
Kunstwerk, nämlich das mannigfaltige Schach, kongenial
anpreist. Shenk ist zu intelligent, um dies unkritisch
zu tun, und zu vorsichtig, um den gefährlichen
Versuchungen der Monokultur Schach zu erliegen; indem
er die unendliche Größe und Schönheit
des Spiels feiert, weist er zugleich auf dessen enge
Grenzen hin – das Geheimnis ist wie immer die richtige
Mixtur. Man gewinnt den Eindruck, dass Shenk sich seine
Sorgen von der Seele schreiben, eine Gefahr von sich
abwenden wollte und wenn nicht alles täuscht, so
wird dies alles sein, was er je zum Schach zu sagen
haben wird und das ist gut so; man kann gespannt sein,
wessen er sich als nächstes widmet.
Zu allem Überfluss ist das Buch
auch noch hervorragend gestaltet, ein ästhetischer
Genuss, passend aufgeteilt in prägnante Lese- und
Spielsequenzen (die "Unsterbliche" zwischen
Anderssen und Kieseritzky, was sonst?), robust gearbeitet
und selbst das Papier bietet taktile Befriedigung. Lohnt
es sich da, über ein, zwei verbale Ausrutscher
oder weltanschauliche Fallstricke zu klagen oder nach
Mikrofehlern zu suchen? Nein, das hier kann rundum empfohlen
werden; es ist schwer zu sehen, wie man auf diesem Sektor
noch Besseres leisten kann.
David Shenk: The Immortal Game. A History
of Chess or, How 32 Carved Pieces on a Board Illuminated
Our Understanding of War, Science, and the Human Brain.
New York 2007
Anhang: einige Appetitanreger aus
dem philosophischen Bereich:
Other parlor games amuse, entertain,
challenge, distract; chess seizes.
Chess is a powerful reducing agent. It
can reduce a whole battlefield or city or planet down
to sixty-four squares. And yet, within that simplistic
frame, chess retains its active quality; like a snow
globe, it shrinks things down, but retains its dynamic
essence.
How could one game symbolize so many
different entities, structures, relationships, notions?
It largely came down to the fact that chess had been
designed as a symbol to begin with. Out of the box,
it came furnished with a wide variety of generic attributes
that lent themselves to an even wider variety of metaphorical
applications: chess was a battle between two
groups, each stratified by social ranking, contesting
for dominance over a finite piece of geography,
interacting in a dynamic so complex it seemed
to take on a life of its own, each army manipulated
by a player, battling each other with wits rather
than brawn, employing both tactics (short-term
planning) and strategy (long-term planning), in a game
that could never truly be mastered.
Chess is not only a game of the mind,
but also very much a mind game.
I could see that one could learn the
game without surrendering to the oppressive weight of
its limitlessness. Being serious about chess didnt
require abandoning fun; it didnt require solitary
neuroticism; it didnt even require putting up
with the coldness and nastiness of aggressive adult
players.
--- Jörg Seidel, 26.04.2008 ---
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