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LITERATUR
30. Juni 2004

Salome Thomas-El: I choose to stay.

A Black Teacher Refuses to Desert the Inner City.

Our deepest fear is not that we are inadequate. Our deepest fear is that we are powerful beyond measure. It is our light, not our darkness, that most frightens us. We ask ourselves, "Who am I to be brilliant, gorgeous, talented, and fabulous? … Your playing small does not serve the world. There's nothing enlightened about shrinking so that other people won't feel insecure around you. And as we let our own light shine, we unconsciously give other people permission to do the same.

Nelson Mandela

 

There is no such thing as a bad student, only a bad teacher.

Michel Thomas

 

Evan Hunters moderner Klassiker "The Blackboard Jungle" ist zwar schon 50 Jahre alt, hat aber an Aktualität nichts eingebüßt. Die Geschichte eines jungen enthusiastischen Lehrers, der glaubt, Jugendliche eines New Yorker Randbezirks erziehen zu können, der seine gesamte Energie und Liebe in dieses Unternehmen steckt und der am Ende gebrochen, desillusioniert, ausgebrannt ist, gescheitert am System, dürfte in dieser oder jener Form sich hunderttausendfach wiederholt haben. Auch in Deutschland, in weit günstigeren Bedingungen, gibt es ganze Generationen von Lehrern, die in die innere Emigration flüchten, die ihren "Job machen" als gelte es Maschinen zu bedienen, oder zum Entertainer verkommen; nicht, weil sie schlechte Lehrer wären, sondern weil sie es aufgaben, gute sein zu wollen.

 

Aber es geschehen noch Zeichen und Wunder, die Mär vom engagierten Lehrer geht um, vom Lehrer, der einen Unterschied im Leben seiner Schüler macht. Salome Thomas-El erzählt diese Legende neu, es ist seine eigene Geschichte, sie klingt gerade vor dem Hunterschen Realismus wie ein Märchen.

Er selbst wächst in der "inner city", einem Schwarzen-Viertel im Norden Philadelphias auf, vaterlos, wie so viele aus diesem Milieu. Die Erfahrungen sind zwiespältig: einerseits lernt er Armut, latenten Rassismus und Gewalt kennen, andererseits einen ausgeprägten community sense und einige wenige engagierte Lehrerfiguren. Sie vor allem sind es, die dem Jungen das Selbstvertrauen geben, an sich zu glauben, zu lernen und am College zu studieren. Viel Amerikatypisches Pathos fließt ihm da in die Feder, wenn er im ersten Teil seines Buches die eigene Kindheit und Jugend rekapituliert; allzu oft ist die Rede vom Weinen und Lachen, von schmalzigen Durchhaltereden, von Ich-liebe-Dichs, "don’t give up"- und "you can do it"- Propaganda, von "Thank God" und innigen Gebeten, von ewigem Optimismus und Dauerbegeisterung, von ungezählten Superlativen... Für europäische Ohren klingt das oft belastend und könnte eine guter Grund sein, die Lektüre vorzeitig zu beenden.

 

Das wäre ein Fehler!

 

Vermutlich zielt Thomas-El auf eine Leserschaft, die die Botschaft eingehämmert braucht, auf Menschen, die an ihre Chance nicht glauben können, denen man die Litanei tausendfach vorbeten muss: Verschafft euch Bildung! Das ist der Schlüssel, um alle Türen zu öffnen. Wahrscheinlich wird dieses Publikum auch nicht Anstoß an der aufdringlichen Ich-Bezogenheit nehmen, an einer charakterstärkenden Egozentrik, die sich permanent einredet: ich bin etwas, ich bin stark und smart und clever, ich bin der beste, alle lieben mich und die mich nicht lieben, denen zeige ich’s…. Denn Thomas-El spricht in erster Linie zu Menschen, deren Selbstvertrauen auf dem Nullpunkt zu sein scheint.

Er jedenfalls ist einer, der gegen alle Wahrscheinlichkeit, mithilfe der Bildung, den Ausbruch aus dem Ghetto schafft, der studiert und seine Berufung zum Beruf macht: Lehrer. Auch hier übertrifft er sich in nervigem Selbstlob, aber warum soll einer, der das schier Unmögliche schafft, sich nicht feiern dürfen? Trotz glänzender Angebote entscheidet er sich für eine Schule im Problemviertel und dort gelingt es ihm tatsächlich, den Unterschied zu machen. Natürlich ist er ein hervorragender Lehrer, liebevoll, verständig, mit unglaublich viel Energie, Enthusiasmus und Kreativität, sein Meisterstück jedoch wird die Wiederbelebung des Schulschachteams "The Mighty Bishops" sein, das in den 80er Jahren schon einmal landesweite Erfolge feierte. Sobald El aufhört, sich selbst zu thematisieren wird das Buch gut lesbar, ja regelrecht fesselnd. Mit der eigentlichen Schachgeschichte – ab Seite 127 – beginnt er sein pädagogisches Talent in einfachem Englisch glaubhaft und lesenswert rüberzubringen. Ausgangspunkt seiner Entscheidung war die Überlegung, die Kids auf geistigem Gebiet zu fordern und nicht länger ausschließlich dem Wunschtraum des Basketballprofis nachzuhängen - "I wanted respect for the mind and not just athletic prowess" (149) -, der bislang einzigen Möglichkeit für "Africa-Americans" sich einen Namen zu machen.

"That’s when I decided I had to find something else to challenge them. I had to find something to get them to expand their minds. I wanted sharp minds so they would be at their best to compete” (104)."

Chess is a mental sport where they can gain fame, and they can be popular in the school for achieving. Kids – like everybody else – want to be noticed, to be accepted and valued for themselves. This would make them athletes of the highest calibre. They could get attention, just like athletes, and be known and affirmed all over the community. Most of all, there would be the educational benefit” (128).

Pädagogisch mag das Konzept, das sich primär am Ruhm orientiert, fragwürdig sein, praktisch jedoch zeichnet es sich durch scharfsichtigen Realitätssinn aus. Schach stellt den Ausstieg aus einer verkehrten Welt und den Einstieg in eine bessere dar. Wenn das gelingt, dann wurden die Möglichkeiten des Spiels bis an die äußersten Grenzen ausgereizt und jede gerettete Seele wiegt locker ein Dutzend Kasparows auf. So gesehen verdienen die Kids Stars genannt zu werden!

"My biggest challenge will be to get the kids to buy into chess; I thought. It won’t be the same because this is now a totally different culture.

Chess is a game of algebraic concepts… So it would be easy for the students to transfer those skills right over into algebra classroom.

That’s it, I thought. If they could grasp those concepts, not only would they play excellent chess, but it would teach them to think, to analyze, and to broaden their knowledge” (130).

Tatsächlich gelingt es mit einem kleinen didaktischen Trick, einige Kinder zu interessieren. Schnell nimmt der Verein an Größe und Akzeptanz zu und bald besteht ein "reges Vereinsleben". Am Brennen ist diese Flamme nur mit enormem Aufwand zu halten, zahllose Überstunden, Reisen, Turniere… Geld muss beschafft werden. Dann kann es nicht ausbleiben, dass erste Erfolge sich einstellen (1996/97). Nebenbei werden Zusammengehörigkeitsgefühl, Disziplin, Denkvermögen entwickelt, die Kids beginnen, ihre Situation zu reflektieren. Vor allem aber dient das Schach als "confidence game", als Spiel zur Erlangung von Selbstvertrauen. Hier wird auch deutlich, dass nichts besser geeignet sein kann als eben das Schach, dass nicht nur Selbstbewusstsein verleiht, sondern aufgrund seiner absorbierenden Kraft auch vergessen lässt. Und zu vergessen haben jene Kinder erschreckend viel!

Thomas-El mit einigen seiner Schüler des Vaux Chess Teams
Bildquelle: http://www.thechessdrum.net/newsbriefs/2003/NB_Vaux.html

Um die wahre Dimension dieser Leistung zu ersehen, muss man sich klar machen, dass wir hier über Kinder aus den Großstadtslums sprechen. Die sind meist vaterlos aufgewachsen, weil die Väter im Knast sitzen, ermordet wurden oder dem Elend einfach geflohen sind. Sie haben die Idee verinnerlicht, dass Bildung "acting white" bedeutet. In ihrer Umgebung geht der Tod ein und aus: kaum eine Familie, die keine Opfer von Schießereien und Drogenkonsum zu beklagen hat, und nicht selten sind diese Kids selbst Gewaltopfer geworden. Sie können des Nachts nicht schlafen, weil vor ihrer Haustüre sich Bandenkriege austoben, sie wissen mitunter nicht, wo sie sich morgen betten werden. Wir sprechen von Kindern, die noch nie in ihrem Leben ein weites Feld oder lebende Kühe gesehen haben, die noch nie abgasfreie Luft atmeten, die fast ausschließlich von junk food leben… Erst das Schach wird ihnen neue Welten eröffnen.

Dies sind die Kinder, welche wenig später Meistertitel erringen werden und deren Besten es sogar gelingt Spieler zu schlagen, die ihnen 1000 USCF-Punkte voraus sind.

Zu siegen im Schach, erlangte eine vollkommen neue Bedeutung.

"We were winning tournaments, but that was not the point of the chess matches – at least not from my point of view. I loved it when they won, and they needed to win. But the winning was to show them what they could do. They were talented young people. They were beginning to realize that they had potential. Just growing up in the inner city didn’t automatically make them losers.

They needed that one thing – a chance to succeed. That’s one of the important reasons I stayed in the inner city – to inspire kids and to help them know that they could succeed in their careers and in life” (221).

Auch wenn Thomas-El nicht alle Kinder erreicht und einige den kriminellen, den Drogenpfad gehen, so bleibt die Bilanz doch atemberaubend. Am erfolgreichen Ende wird der Triumph sogar landesweit medienwirksam und Prominente stellen sich ein. Wichtiger jedoch ist, dass Thomas-Els Philosophie offensichtlich aufging: "that my kids could overcome anything if they only knew they could be successful"(200). Einige jedenfalls schaffen es, beenden die Schule mit hervorragenden Leistungen, studieren und werden die Botschaft wohl weitertragen.

Eine Erfolgsstory die kein Schriftsteller besser erfinden kann, und ein Buch - ich weigere mich gewöhnlich, derartige Sätze zu schreiben - das Kraft gibt!

 

 

Interessante Seiten:

http://www.thechessdrum.net/newsbriefs/2003/NB_Vaux5.html

http://www.ichoosetostay.com/

http://www.timesx2.com/vaux/page4.html (Demetrius Carroll)

http://www.timesx2.com/vaux/ (The Mighty Bishops)

 

 

--- Jörg Seidel, 30.06.2004 ---


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

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