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Joyce Thompson: Endspiel mit Dame.
Frederika Bascomb ist durch ihren Beruf
einiges gewohnt; sie zeichnet Porträts in der Gerichtsmedizin.
Als jedoch ihr Vater ermordet aufgefunden wird, da dreht
es selbst ihr den Magen um. Sein Schädel wurde
mit einer Eisensäge geöffnet, das Gehirn "ausgelöffelt".
Diese makabre Szene will nicht recht
in den ersten Teil des Buches passen, wo man auf fast
jeder Seite den Beweis vorfindet, dass Joyce Thompson
– die Autorin des "Psychothrillers" –
eine viel und schnell denkende Frau ist, eine aufmerksame
Beobachterin, stets bereit das Risiko zu tragen, verschiedenste
Erscheinungen, Deformationen und Theorien des modernen
Lebens miteinander zu verbinden. Selbst wenn sie sich
im Ton hin und wieder vergreift, so finden sich hier
doch wunderschöne Bilder und kurzschlussartige
Ideenblitze. Mit solchen Fähigkeiten begnadet,
muss man sich freilich fragen, ob der psychologische
Krimi das geeignetste Betätigungsfeld eines offensichtlichen
künstlerischen Talentes ist. Die intellektuelle
Leichtigkeit beißt sich etwas mit den folgenden
Anziehungs- und Abstoßungsversuchen mittels diverser
und eher willkürlich erscheinender Tabubrüche:
Inzest, Schädellöffeln, Kannibalismus, kontextfreie
Gewalt und gelegentlich sinnfreier Sex.
Die Gestalt des Mörders erscheint
– auch das wirkt nicht sonderlich originell –
als schizophrene Persönlichkeit und so wie diese
offenbart auch das Buch mehrere Seiten, mehrere Perspektiven.
Manchmal mag man sogar daran zweifeln, ob tatsächlich
nur eine Person die knapp 380 Seiten zu verantworten
hat. Die zweite Hälfte des Buches kümmert
sich jedenfalls mehr um die Befindlichkeiten der kranken
Verbrecherseele, die zunehmend beginnt Frederikas Familie
in Angst und Schrecken zu versetzen. Er ist spannender,
aufregend wie ein typischer Gruselfilm, verliert durch
seinen Drehbuchcharakter aber an Intensität und
Ideenreichtum. Psychologie heißt in solchen Fällen
immer Einblicke in Lebensgeschichten, in Vergangenheit
zu gewährleisten, heißt eigentlich "Geschichte".
Er ist ein weiterer Hinweis dafür, wie erfolgreich
Bestsellerautoren sogenannter "Psychothriller"
wie Thomas Harris und dessen filmischer Vollstrecker
sich ins öffentliche Bewusstsein eingeschlichen
haben, wie ihre phantastischen Kreationen unsere Bilderwelt
bereits beherrschen. Wer seine Unschuld behalten will,
dem kann man nur zurufen: Hände weg von solchem
Zeug! An ihm, an Harris, muss sich Thompson klar orientiert
haben. Das Psychologische, besser das Pathologische
solcher Bücher besteht aber nicht in den unergründlichen
Tiefen eines Hannibal Lecter und Konsorten – die
gibt es nämlich nicht -, sondern in den sinnfreien
Gewaltexzessen im Hirn des Autoren. Tatsächlich
stellen derartige Produkte Psychogramme überdrehter
Schreiberseelen dar! Deren Erfolg liegt überhaupt
nur in der bezugslosen Bilderwelt begründet: enthäutete
oder von Schweinen angefressene Körper, ausgelöffelte
und als Süppchen kredenzte Hirne etc. das sind
billig erzeugte, aber auch eindrucksvolle Bilder, die
uns so schnell nicht wieder verlassen, sich daher gut
verkaufen lassen. Literarisch sind die meisten dieser
Bücher wertlos [1]. Dabei ist Thompson noch nicht
mal von derselben Statur. Deshalb wirkt das sehr Harris-ähnliche
Ende bei ihr auch wenig überzeugend.
Das Schach wird leider ebenfalls als
Fremdkörper eingeführt. Man findet ein blutbesudeltes
Brett; Opfer und Täter müssen noch bei einer
Partie zusammengesessen haben. Sollte die Stellung einen
Hinweis auf den Mörder enthalten? - "Meinst
du, man kann durch die Art, wie sie Schach spielt, etwas
über eine Person in Erfahrung bringen?" (75).
Derartige Hoffnungen werden schnell enttäuscht,
auch wenn man sich versteigt zu behaupten: "Was
das Schachspiel betrifft – ein Freund, der gut
spielt, hat sich das Brett angesehen. Er sagt, wer auch
immer gegen Nick gespielt hat, er muss extrem gut gewesen
sein.
Das bedeutet, Sie müssen nach jemand
suchen, der sehr smart ist" und: "Sandy sagt,
Nicks Gegner war gut genug, um an Turnieren teilzunehmen.
Er könnte sogar ein Meister sein" (89f.).
Wie aber soll das gehen? Kann man aus einer einzelnen
Stellung – dabei wissen die noch nicht mal, wer
Weiß und Schwarz spielte – auf die Qualität
des Spielers schließen? Ja, wenn es wenigstens
so gewesen wäre, dann hätte die Schachszene
zumindest einen inneren Sinn und die Schachfreaks eine
innere Befriedigung. So aber bleibt sie – ganz
Harris – mit der Handlung unverknüpft, nicht
anders als all die sinnlosen Gewalt- und Sexszenen.
Tatsächlich ist Thompson bei den Schachschilderungen
am schwächsten, zeigt nur, dass sie vom eigentlichen
Spiel nichts versteht (insbesondere S. 261ff.).
"War ich bis dahin nur in der Lage
gewesen, den nächsten Zug vorauszusehen, und auch
den nur unvollkommen, erweiterte sich jetzt plötzlich
meine Vorstellungskraft und bezog eine hypothetische
Zukunft mit ein. Sie sah nicht rosig aus. Ich rettete
meinen bedrohten König. Er schlug meinen Bauern.
Ich nahm sein Pferd. Er fluchte.
Drei Züge
später war ich wieder im Schach. Verzweifelt versuchte
ich es mit einer Rochade. Bailey nahm meine Dame. Schach"
(263f.)
– und ähnlicher Unsinn, der
von der schachlichen Mittelmäßigkeit von
Autorin und Figuren zeugt.
So bleibt als Fazit ein halbwegs verdauliches
Buch für alle beinharten Psychothrillerleser, unter
Schachliebhabern wird es noch weniger Freunde finden,
insgesamt bleibt das laue Gefühl, dass sich eine
schriftstellerische Begabung damit einen Bärendienst
erwies.
Joyce Thompson: Endspiel mit Dame. Reinbek 1993. 376 Seiten (Originalausgabe: "Bones". New York 1991)
--- Jörg Seidel, 19.01.2005 ---
[1]
Ich streite mich mit jedem Harris-Fan bis auf die Knochen,
dass alle seine Erfolgsbücher ("Red Dragon"
ebenso wie "The Silence of the Lambs" und
"Hannibal") literarisch misslungen sind und
lediglich sein erstes und am wenigsten bekanntes Buch,
der Politthriller "Black Sunday" einen gewissen
artistischen Wert besitzt.
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