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LITERATUR
19. Januar 2005

Joyce Thompson: Endspiel mit Dame.

Frederika Bascomb ist durch ihren Beruf einiges gewohnt; sie zeichnet Porträts in der Gerichtsmedizin. Als jedoch ihr Vater ermordet aufgefunden wird, da dreht es selbst ihr den Magen um. Sein Schädel wurde mit einer Eisensäge geöffnet, das Gehirn "ausgelöffelt".

Diese makabre Szene will nicht recht in den ersten Teil des Buches passen, wo man auf fast jeder Seite den Beweis vorfindet, dass Joyce Thompson – die Autorin des "Psychothrillers" – eine viel und schnell denkende Frau ist, eine aufmerksame Beobachterin, stets bereit das Risiko zu tragen, verschiedenste Erscheinungen, Deformationen und Theorien des modernen Lebens miteinander zu verbinden. Selbst wenn sie sich im Ton hin und wieder vergreift, so finden sich hier doch wunderschöne Bilder und kurzschlussartige Ideenblitze. Mit solchen Fähigkeiten begnadet, muss man sich freilich fragen, ob der psychologische Krimi das geeignetste Betätigungsfeld eines offensichtlichen künstlerischen Talentes ist. Die intellektuelle Leichtigkeit beißt sich etwas mit den folgenden Anziehungs- und Abstoßungsversuchen mittels diverser und eher willkürlich erscheinender Tabubrüche: Inzest, Schädellöffeln, Kannibalismus, kontextfreie Gewalt und gelegentlich sinnfreier Sex.

Die Gestalt des Mörders erscheint – auch das wirkt nicht sonderlich originell – als schizophrene Persönlichkeit und so wie diese offenbart auch das Buch mehrere Seiten, mehrere Perspektiven. Manchmal mag man sogar daran zweifeln, ob tatsächlich nur eine Person die knapp 380 Seiten zu verantworten hat. Die zweite Hälfte des Buches kümmert sich jedenfalls mehr um die Befindlichkeiten der kranken Verbrecherseele, die zunehmend beginnt Frederikas Familie in Angst und Schrecken zu versetzen. Er ist spannender, aufregend wie ein typischer Gruselfilm, verliert durch seinen Drehbuchcharakter aber an Intensität und Ideenreichtum. Psychologie heißt in solchen Fällen immer Einblicke in Lebensgeschichten, in Vergangenheit zu gewährleisten, heißt eigentlich "Geschichte". Er ist ein weiterer Hinweis dafür, wie erfolgreich Bestsellerautoren sogenannter "Psychothriller" wie Thomas Harris und dessen filmischer Vollstrecker sich ins öffentliche Bewusstsein eingeschlichen haben, wie ihre phantastischen Kreationen unsere Bilderwelt bereits beherrschen. Wer seine Unschuld behalten will, dem kann man nur zurufen: Hände weg von solchem Zeug! An ihm, an Harris, muss sich Thompson klar orientiert haben. Das Psychologische, besser das Pathologische solcher Bücher besteht aber nicht in den unergründlichen Tiefen eines Hannibal Lecter und Konsorten – die gibt es nämlich nicht -, sondern in den sinnfreien Gewaltexzessen im Hirn des Autoren. Tatsächlich stellen derartige Produkte Psychogramme überdrehter Schreiberseelen dar! Deren Erfolg liegt überhaupt nur in der bezugslosen Bilderwelt begründet: enthäutete oder von Schweinen angefressene Körper, ausgelöffelte und als Süppchen kredenzte Hirne etc. das sind billig erzeugte, aber auch eindrucksvolle Bilder, die uns so schnell nicht wieder verlassen, sich daher gut verkaufen lassen. Literarisch sind die meisten dieser Bücher wertlos [1]. Dabei ist Thompson noch nicht mal von derselben Statur. Deshalb wirkt das sehr Harris-ähnliche Ende bei ihr auch wenig überzeugend.

Das Schach wird leider ebenfalls als Fremdkörper eingeführt. Man findet ein blutbesudeltes Brett; Opfer und Täter müssen noch bei einer Partie zusammengesessen haben. Sollte die Stellung einen Hinweis auf den Mörder enthalten? - "Meinst du, man kann durch die Art, wie sie Schach spielt, etwas über eine Person in Erfahrung bringen?" (75). Derartige Hoffnungen werden schnell enttäuscht, auch wenn man sich versteigt zu behaupten: "Was das Schachspiel betrifft – ein Freund, der gut spielt, hat sich das Brett angesehen. Er sagt, wer auch immer gegen Nick gespielt hat, er muss extrem gut gewesen sein. … Das bedeutet, Sie müssen nach jemand suchen, der sehr smart ist" und: "Sandy sagt, Nicks Gegner war gut genug, um an Turnieren teilzunehmen. Er könnte sogar ein Meister sein" (89f.). Wie aber soll das gehen? Kann man aus einer einzelnen Stellung – dabei wissen die noch nicht mal, wer Weiß und Schwarz spielte – auf die Qualität des Spielers schließen? Ja, wenn es wenigstens so gewesen wäre, dann hätte die Schachszene zumindest einen inneren Sinn und die Schachfreaks eine innere Befriedigung. So aber bleibt sie – ganz Harris – mit der Handlung unverknüpft, nicht anders als all die sinnlosen Gewalt- und Sexszenen. Tatsächlich ist Thompson bei den Schachschilderungen am schwächsten, zeigt nur, dass sie vom eigentlichen Spiel nichts versteht (insbesondere S. 261ff.).

"War ich bis dahin nur in der Lage gewesen, den nächsten Zug vorauszusehen, und auch den nur unvollkommen, erweiterte sich jetzt plötzlich meine Vorstellungskraft und bezog eine hypothetische Zukunft mit ein. Sie sah nicht rosig aus. Ich rettete meinen bedrohten König. Er schlug meinen Bauern. Ich nahm sein Pferd. Er fluchte. … Drei Züge später war ich wieder im Schach. Verzweifelt versuchte ich es mit einer Rochade. Bailey nahm meine Dame. ‚Schach’" (263f.)

– und ähnlicher Unsinn, der von der schachlichen Mittelmäßigkeit von Autorin und Figuren zeugt.

 

So bleibt als Fazit ein halbwegs verdauliches Buch für alle beinharten Psychothrillerleser, unter Schachliebhabern wird es noch weniger Freunde finden, insgesamt bleibt das laue Gefühl, dass sich eine schriftstellerische Begabung damit einen Bärendienst erwies.

 

Joyce Thompson: Endspiel mit Dame. Reinbek 1993. 376 Seiten (Originalausgabe: "Bones". New York 1991)

 

 

--- Jörg Seidel, 19.01.2005 ---


[1] Ich streite mich mit jedem Harris-Fan bis auf die Knochen, dass alle seine Erfolgsbücher ("Red Dragon" ebenso wie "The Silence of the Lambs" und "Hannibal") literarisch misslungen sind und lediglich sein erstes und am wenigsten bekanntes Buch, der Politthriller "Black Sunday" einen gewissen artistischen Wert besitzt.


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