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Dick Tracy - "Schachbretts letztes Gambit"
"Das wirkliche
Verbrechen aber hat seine Verkehrung und sein Ansich
als Möglichkeit in der Absicht als solcher, aber
nicht in einer guten; denn die Wahrheit der Absicht
ist nur die Tat selbst."
Hegel: Phänomenologie
des Geistes
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England ist teuer! Für ein Pfund
bekommt man hier so viel wie in Deutschland für
eine Mark, aber man muss mehr als drei Mark berappen,
um ein Pfund kaufen zu können. Wenn man trotzdem
ein Schnäppchen auf der Insel machen will, dann
kann ich unbedingt die weit verbreiteten "car boot
sales" empfehlen, Trödelmärkte, auf denen
man mit ein bisschen Glück Schätze finden
kann. Manchmal freilich auch mit ein bisschen schlechtem
Gewissen, denn mitunter scheinen es bettelarme Leute
zu sein, die ihre letzte Habe absetzen. Für den
gewissenlosen Liebhaber von Schachutensilien, für
den Sammler ebenso wie für den bloß Neugierigen,
gibt es keine bessere Gelegenheit. Welche Regeln man
dabei einhalten sollte, das hat Chris Ravilious in "Chess"
[1] anschaulich beschrieben.
Nur um eine Vorstellung zu verschaffen: ich selbst habe
ein schönes Set von Holzfiguren für sage und
schreibe 50 Pence (ca. 1,50 DM), ein feines Holzbrett
für zwei oder drei Pfund erworben, den Reuben-Fine-Klassiker
"Basic Chess Endings" quasi hinterher geworfen
bekommen u.v.m. Vor allem aber kann man bei den Preisen
auch mal was riskieren, besonders bei Büchern,
ohne deren wahren Wert gleich einschätzen zu können.
So geschehen etwa mit der Dick-Tracy-Anthologie "The
secret files", die ich für 10 p eher aus Übermut
denn Bedürfnis mitnahm. Aber schon das erste flüchtige
Durchblättern zu Hause belohnte die "Ausgabe";
eine der sechzehn Geschichten trägt doch tatsächlich
den programmatischen Titel "Chessboards last
gambit". Mehr Schach kann man in eine Überschrift
schwerlich packen.
Dick
Tracy, das muss vor der Besprechung erinnert werden,
ist der Held einer legendären US-amerikanischen
Comicserie, die heuer bereits den 70. (in Worten: den
siebzigsten!!) Geburtstag begehen kann, ein Pionier
nicht nur der Sprechblasenliteratur, sondern ein Inspirator
des gesamten Krimigenres: ob Dashiell Hammet, Raymond
Chandler oder Mickey Spillane, ob Ellery Queen, Ian
Fleming oder Ed McBain, die Großen und Größten
der Zunft sind von diesem comic strip beeinflusst, waren
bekennende Tracy-Leser oder lassen Reminiszenzen in
ihren Werken nachweislich aufleben. Der Mann mit dem
kantigen Gesicht, dem quittegelben Coat, der nie ein
Wort zuviel spricht, der unermüdliche Kämpfer
gegen das Verbrechen, kalt, kalkulierend und doch liebenswürdig,
ist Gegenstand der wohl berühmtesten Detektivserie
aller Zeiten. Als sein Schöpfer Chester Gould die
Feder niederlegte, nahmen andere den Faden auf, spannen
ihn weiter bis hin zum dreifach Oskar gekrönten
Film von 1990 "Dick Tracy" mit Warren Beatty,
Al Pacino und Madonna, der vor allem wegen seiner Comicnähe,
den wunderbar klischeetriefenden und farbsatten Bildern
angenehm auffiel. "The secret files" ist nun
der Versuch, namhafte amerikanische Autoren der Szene,
am Ende sind es 16 geworden, dazu zu bewegen, neues
Leben in die alte Figur zu hauchen und Edward D. Hoch
schrieb besagte Geschichte "Chessboards last
gambit".
In einer stürmischen Januarnacht
wird Gazie ORourke beim Autoklau geschnappt. ORourke
saß zusammen mit Chessboard Briggs, der im übrigen
nicht zum traditionellen Personal gehört, sondern
vom Autor neu eingeführt wird, ein; seither gehört
er seiner Bande an und tut nichts ohne dessen Weisung.
Den Namen verdiente sich Chessboard, ganz prosaisch,
nachdem er von einem rachsüchtigen Widersacher
im Knast gegen das rotglühende Gitter einer Druckmaschine
gedrückt wurde, was auf ewig ein Schachbrettmuster
auf seiner Brust hinterließ. "Chessboard
Briggs trug es als Zeichen der Ehre und war bekannt
dafür, sein Hemd aufzuknöpfen, bevor er einen
seiner Raubüberfälle oder Morde beging, so
dass die Opfer über seine Identität genau
Bescheid wussten". (252). Der Bande dieses rüden
Verbrechers hoffte Tracy nun auf die Schliche zu kommen,
denn dessen engster Mitarbeiter ORourke ward geschnappt,
und wenn der ein Auto klaut, dann wird es alsbald gebraucht.
Doch ist dem hartgesottenen Kerl kein Sterbenswörtchen
zu entlocken, allein ein mysteriöser Eintrag in
dessen Tagebuch bleibt: "TTT". Was könnte
es bedeuten, mal ganz davon abgesehen, dass es die Initialen
von Tracys Frau sind, von Tess Trueheart
Tracy. Tommy the Tailor,
wie der gewiefte Ganove geistesgegenwärtig angibt,
wohl eher nicht. Nein, irgend etwas läuft heute
in der Unterwelt, irgendein großes Ding soll gedreht
werden. Aber außer des Wohltätigkeitsdinners
ist nichts geplant in der City und aufgrund des Schnees
auch nicht möglich. Man zerbricht sich den Kopf,
verhört den Delinquenten und bleibt doch ratlos,
bis ein Anruf kommt, von einem gewissen George Blake,
einem angeblichen Nachbarn der Tracys, der gesehen haben
will, wie Tess in einen roten Lieferwagen gezwungen
wurde. Da wird Dick Tracy alles klar; erstens gibt es
keinen Blake in der Nachbarschaft und zweitens ergeben
die geheimnisvollen Zeichen doch einen Sinn und zwar
den schlimmsten denkbaren. Also doch Tess! Er eilt heim,
der Detektiv und sieht seine dunkelsten Befürchtungen
bestätigt: Tess ist entführt. "Tracy
nahm seinen gelben Fedora ab und lehnte sich gegen die
Theke. Wenn der Anruf zum Hauptbüro nicht von einem
Nachbarn gemacht wurde, dann musste es Chessboard gewesen
sein oder einer seiner Männer. Wozu? Weshalb wollte
er, dass Tracy so schnell als möglich über
die Entführung Bescheid wusste?" 259). Und
alles ist Tracys Schuld, denn hätte er eher die
Zeichen der Zeit ernst genommen, dies alles hätte
verhindert werden können.
Derweil taucht Tess, gefesselt und geknebelt,
aus ihrem Ätherrausch wieder empor und findet sich
allein und verlassen im Lieferwagen, irgendwo in dieser
großen Stadt. Es gelingt ihr, sich zu befreien
und Tracy telefonisch darüber zu informieren. Warum
aber ist der Meisterdetektiv, trotz aller Erleichterung
noch immer nicht zufrieden? "Verstehst du nicht?",
belehrt er den Kollegen, "Vielleicht stand TTT
überhaupt nicht für Tess Truehaert Tracy.
Vielleicht stand es für etwas ganz anderes –
ein Ding, so groß, dass Chessboard, als wir ORourke
festnahmen, sich des Eintrags TTT im Tagebuch erinnerte
und realisierte, dass wir ihn finden würden"
(262) Wofür also steht "TTT", diese so
verräterischen und schweigsamen Kürzel? In
der Stadt läuft nichts, nur dieser langweilige
Wohltätigkeitsball im Tribüne Turm –
Na klar: The tribune tower!!, wo die diamantenschweren
Ladies heute Abend reintrippeln werden wie die fette
Maus in die Falle. So kommt es, wie es kommen muss,
gerade als Chessboard mit seiner Bande die Uzis zieht
und dem erschreckten Auditorium mitteilt: "Mein
Name ist Chessboard und ich bin wegen Ihrer Juwelen
gekommen. Meine Männer werden...", da bellt
eine harte Stimme: "Es ist vorbei, Chessboard",
was ein Verbrecher von Ehre nicht unerwidert lassen
mag. Bevor er allerdings das Feuer eröffnen kann,
schickt ihn die Wucht einer gut gezielten Kugel durch
das Fenster und hinab in den Schlund der ewigen Nacht.
"Das war, als einige der Gäste in Panik ausbrachen
und zu schreien begannen, aber Tracy benötigte
nur ein paar Augenblicke, sie zu beruhigen" (264)"
- so viel über sein Charisma.
Nun, mit dem Schach hat dies auf der
Oberfläche nichts zu tun, sieht man mal von dem
Titel und der eigenartigen Namensgebung des Obergauners
ab, die freilich schon Grund genug wären die Geschichte
zu thematisieren. Aber auf einer Subebene wohl schon
und das in mindestens zweierlei Art und Weise. Das muss
auch so sein, soll die kleine Szene ihren intrinsischen
Wert behalten. Zum einen lernt zumindest der deutsche
Leser, dass der Begriff "Gambit" in der englischen
Umgangssprache durchaus vom schachspezifischen unterschieden
ist. Sie hat ihn auf ein höheres, abstrakteres
Niveau gehoben, vom reinen Eröffnungsgedanken mit
Materialopfer um strategischen oder taktischen Vorteil
zu erlangen, zu "an initial move in anything, especially
one with an element of trickery" [2],
zum trickreichen, hinterlistigen, auch bösartigen
Zug in allen möglichen Handlungen. Derart genutzt
wird er uns in noch mehreren Werken auch in dieser Rubrik
begegnen, Titel wie "Black Gambit" o.ä.
haben also nicht gezwungenermaßen mit dem Schach
zu tun. Graham Burgess weiß in seinem intelligenten
Buch über Gambits sogar zu berichten, dass der
Begriff mittlerweile auch im Geschäftsvokabular
Fuß gefasst hat: "It is commonly used, for
instance, to mean an offer or suggestion to get the
ball moving in negotiations" [3].
Die Geschichte des Terminus kann noch nicht geschrieben
werden. In gewisser Weise wird die Idee des Schachgambits
verallgemeinert und vulgarisiert zugleich, aber genau
diese beiden linguistischen Manöver machen den
Reichtum einer Sprache nicht unwesentlich aus.
Zum
anderen zeigt der Verlauf der Handlung sehr wohl, dass
es sich beim Autor und bei seinen beiden Protagonisten
um Köpfe handelt, die in abstrakten Schachtermini
zu denken wissen, die das Schachdenken an sich auf die
kriminelle Lebenswelt pressen wie einst der glühende
Rost das magische Muster auf Chessboards breite Brust
(und, wer weiß, deuten damit sogar das Analoge
des kriminellen und des schachlichen Denkens an). Denn
die Züge des Gegners vorauszuberechnen, gehört
bekanntermaßen zu den wichtigsten Fähigkeiten
im Schach. Und was anderes tun die beiden als zu antizipieren,
was der Gegner denkt? Chessboard weiß, dass ORourke
geschnappt wurde, er weiß, dass in dessen Tagebuch
für den heutigen Tag das verhängnisvolle "TTT"
eingetragen ist und er weiß, dass er es mit Tracy
zu tun hat, dem cleversten Verbrechensbekämpfer
aller Zeiten, also vergegenwärtigt er sich die
Gedanken seines Kontrahenten. Früher oder später
würde diesem the tribune tower einfallen, aber
auch Tess Truehart Tracy liegt in der angenommenen Denkbahn
und da kommt er auf die überaus clevere, fast geniale
Idee - das Gambit, die Falle -, improvisiert Tess zu
kidnappen, um Tracy auf der falschen Fährte zu
halten, wenigstens so lange, bis das Ding gedreht ist.
Dieser scheint sogar darauf reinzufallen, bleibt aber
skeptisch, da er weiß, mit welchem Gegner auch
er es zu tun hat und da er das Motiv dieses seltsamen
Zuges nicht sehen kann. Als schließlich Tess frei
kommt wird spätestens klar, wie sehr dies nur ein
Ablenkungsmanöver, ein Scheinangriff war. Erst
hier klären sich Tracys Gedanken und er errät
das eigentliche Angriffsziel Chessboards: nicht die
Damenflanke (Tess), nein, die Königsflanke (der
Ball, auf dem sich die High Society trifft).
Man sieht, es finden doch schon recht
komplizierte Denkmanöver statt, die zudem alle
Parallelen im Denken des gemeinen Schachspielers finden.
Hier wird schließlich neben der doppelseitigen
Subebene auch eine Metaebene sichtbar, die anzudeuten
schon deswegen nutzreich ist, um alle späteren
Einwürfe, was all die Sachen in unserer Schachkolumne
zu suchen haben, prinzipiell zu entkräften. Es
war der bedeutende italienische Denker und Schriftsteller
Umberto Eco, der erst kürzlich wieder an die metaphysische
Dimension der Kriminalliteratur erinnerte [4],
von der Beobachtung ausgehend, dass es erstaunlich viele
hervorragende Intellektuelle gibt, die sich der Gattung
lebenslang und hingebungsvoll verschreiben. Wie ist
das zu erklären und wie ist der scheinbare Widerspruch
zwischen geistigem Anspruch und Realisierung zu lösen?
Es gibt darauf viele Antworten, mehr auch, als Eco angibt,
leichte und schwere, einfache und komplizierte. Wir
werden auf sie zu sprechen kommen.
(Edward D. Hoch: Chessboards
last gambit. In: Dick Tracy. The secret files. Edited
by Max Allan Collins and Martin H. Greenberg. New York
1990. S. 252 - 265)
--- Jörg Seidel, 10.12.2001 ---
[1]
April 2001, S. 36f.
[2] Concise English Dictionary.
Wordsworth Edition 1994
[3] Graham Burgess: Gambits.
London 1995
[4] La missione del giallo.
L'Espresso. 28.6.2001
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