|
A.E. van Vogt: The Pawns of Null-A
Im Sein gibt es nichts Negatives, nur Unterschiede.
Gilles Deleuze
Die meisten modernen Menschen tendieren
dazu, Dinge oder Zusammenhänge, die sie nicht verstehen,
entweder als unsinnig oder als genial einzustufen. Nur
indem sie das Problem aus ihrem beschränkten Horizont
heraus interpretieren – als Unter- oder Überbietung
– können sie ihr Selbstbild wahren. Sie agieren
damit, würde A.E. van Vogt uns belehren, selbst
im thalamischen, im aristotelischen Spektrum, im Bereich
des "Ja, ja – nein, nein, was darüber
ist, das ist vom Übel", der Bipolarität,
des Negativen und Positiven, des Schwarz und Weiß,
Plus und Minus etc. Die bedeutendsten modernen Denker
mussten sich für beide Verdächtigungen bereithalten:
Kant, Hegel, Heidegger galten und gelten sowohl als
Genies (vielleicht, weil niemand sich wagt, sein Unverständnis
einzugestehen) als auch als Scharlatane (vgl. Poppers
Kritik z.B. im Falle Hegel und Heidegger).
Um es kurz und persönlich zu machen:
van Vogts legendäre Null-A-Serie bleibt für
mich ein solches Rätsel. Ich habe keine Ahnung,
was der Mann will, und doch das Gefühl, dass hier
etwas Großartiges, Einzigartiges entstanden ist.
Dass ich mich auf die Genieverdächtigungsseite
schlage, liegt wohl am mangelnden Selbstbewusstsein
– nämlich meine Unkenntnis nicht zum Maßstab
eines Urteils zu machen – und an ankonditionierten
moralischen Schranken, die in den Menschen, bis auf
Widerruf, das Gute wahrnehmen möchte.
Trotzdem ist es kein Wunder, dass diese
Werke auch von profunder Seite die gegenteiligsten Echos
erfahren haben, dass sie zum einen in den Himmel gelobt,
selbst von Philosophen ernsthaft diskutiert, zum anderen
mit allgemeinem Unverständnis rezipiert wurden.
Was spricht nun de facto für den
Genie-Verdacht? Die unbeschreibliche Achterbahnfahrt
durch verschiedene Logiken, Galaxien, Hirne, Identitäten,
Zeiten und Räume, Vergangenheit und Zukunft kann
es nicht sein, denn sie ließen sich auch als kaschierende
Spielerei verstehen. Die kafkaesken Effekte können
es auch nicht sein; damit haben sich mehr als eine Stümpergeneration
von Künstlern mehr oder weniger erfolgreich durchschlagen
können. Es dürften also am ehesten die ernsthaften
philosophischen Implikationen sein, die sich um die
noch heute virulenten Problematiken nach Identität,
Ich und der Andere oder der Semantik, der Sprachphilosophie
im allgemeinen, dem Verständnis des Denkens, drehen.
Vogt leistet das mithilfe der fiktionalen Annahme, dass
es möglich sei, in einem anderen, fremden Körper
zu leben. Gosseyn, der Held, lebt (zeitweise) im Körper
des galaktischen Prinzen Ashargin, besitzt beider Hirne,
die er getrennt und vereint nutzen kann. Damit gelingt
es ihm, die menschliche Denkweise, das thalamische,
das aristotelische System außer Kraft zu setzen
und auf eine Null-A(ristotelische) Art zu denken. Er
folgt dabei der Arbeit des analytischen Philosophen
und Physikers Alfred Korzybski (Science and Sanity:
An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General
Semantics). Die Möglichkeiten sind enorm: aus Ja
und Nein (Jesus), Entweder-Oder (Kierkegaard), Sein
und Nichts (Sartre), aus den traditionellen philosophischen
Gegensätzen wird plötzlich die Differenz (Deleuze
u.a.). Vogt hat, wenn die von mir zugefügten Klammern
eine Berechtigung haben, in dieser "Spinnerei"
schon in den 40er Jahren die postmoderne Philosophie
antizipiert oder die multiple Logik und Physik, die
uns heute von einer unvorstellbaren Weltenvielfalt überzeugen
will.
Gosseyn lebt bereits in dieser Welt der
ungeahnten Möglichkeiten und wechselt zwischen
ihnen wie wir von einem Zimmer zum anderen; Raum- und
Zeitkonstanten scheinen keine Rolle mehr zu spielen,
in seinem Kampf gegen den Überdiktator Enro, um
die Rettung der Welten und im Versuch, die Entität
hinter den Entitäten (den "Follower")
aufzudecken. Ihm dabei als Leser folgen zu können,
ist nicht einfach. Vielleicht um diese Schwierigkeit
wissend, greift er auf das Schachbild zurück, das
sich ja schon im Titel offenbart. Der Held selbst beschreibt
sich als Figur dieses "mighty game", als Bauer
oder als Dame (selbst da gibt es keine Konsistenz) glaubt
er gegen einen schattenhaften Spieler anzutreten in
"this great game", in "the galactic game
of chess". Man sieht leicht, dass auch Vogts Umschreibungen
– wie so vieles in diesem Buch – mehr als
vage bleiben, als wüsste er selbst nicht recht,
worum es sich bei diesem Kampf oder Spiel handelt. Um
gewöhnliches Schach kaum, und wenn, dann nur auf
ganz primärer Stufe; wenn es überhaupt Sinn
beanspruchen darf, dann muss es sich um ein mehrdimensionales
Spiel handeln, auf diversesten Ebenen, mit verschiedenen
Regeln, differierenden Strategien. Aber wie soll man
sich als normaler (thalamischer, aristotelischer) Mensch
solch ein Spiel denken? Entweder ist es genial oder
einfach Unsinn.
A.E. van Vogt: The Pawns of Null-A.
(US-Version: The Players of Null-A). London 1972 (1948)
Das Buch erschien in leicht gekürzter Fassung auf
Deutsch unter dem Titel: Kosmischer Schachzug. Heyne-Buch
Nr. 3119 (6.Auflage). München 1981
--- Jörg Seidel, 21.05.2006 ---
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.
|
|