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LITERATUR
21. Mai 2006

A.E. van Vogt: The Pawns of Null-A

Im Sein gibt es nichts Negatives, nur Unterschiede.

Gilles Deleuze

Die meisten modernen Menschen tendieren dazu, Dinge oder Zusammenhänge, die sie nicht verstehen, entweder als unsinnig oder als genial einzustufen. Nur indem sie das Problem aus ihrem beschränkten Horizont heraus interpretieren – als Unter- oder Überbietung – können sie ihr Selbstbild wahren. Sie agieren damit, würde A.E. van Vogt uns belehren, selbst im thalamischen, im aristotelischen Spektrum, im Bereich des "Ja, ja – nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel", der Bipolarität, des Negativen und Positiven, des Schwarz und Weiß, Plus und Minus etc. Die bedeutendsten modernen Denker mussten sich für beide Verdächtigungen bereithalten: Kant, Hegel, Heidegger galten und gelten sowohl als Genies (vielleicht, weil niemand sich wagt, sein Unverständnis einzugestehen) als auch als Scharlatane (vgl. Poppers Kritik z.B. im Falle Hegel und Heidegger).

Um es kurz und persönlich zu machen: van Vogts legendäre Null-A-Serie bleibt für mich ein solches Rätsel. Ich habe keine Ahnung, was der Mann will, und doch das Gefühl, dass hier etwas Großartiges, Einzigartiges entstanden ist. Dass ich mich auf die Genieverdächtigungsseite schlage, liegt wohl am mangelnden Selbstbewusstsein – nämlich meine Unkenntnis nicht zum Maßstab eines Urteils zu machen – und an ankonditionierten moralischen Schranken, die in den Menschen, bis auf Widerruf, das Gute wahrnehmen möchte.

Trotzdem ist es kein Wunder, dass diese Werke auch von profunder Seite die gegenteiligsten Echos erfahren haben, dass sie zum einen in den Himmel gelobt, selbst von Philosophen ernsthaft diskutiert, zum anderen mit allgemeinem Unverständnis rezipiert wurden.

Was spricht nun de facto für den Genie-Verdacht? Die unbeschreibliche Achterbahnfahrt durch verschiedene Logiken, Galaxien, Hirne, Identitäten, Zeiten und Räume, Vergangenheit und Zukunft kann es nicht sein, denn sie ließen sich auch als kaschierende Spielerei verstehen. Die kafkaesken Effekte können es auch nicht sein; damit haben sich mehr als eine Stümpergeneration von Künstlern mehr oder weniger erfolgreich durchschlagen können. Es dürften also am ehesten die ernsthaften philosophischen Implikationen sein, die sich um die noch heute virulenten Problematiken nach Identität, Ich und der Andere oder der Semantik, der Sprachphilosophie im allgemeinen, dem Verständnis des Denkens, drehen. Vogt leistet das mithilfe der fiktionalen Annahme, dass es möglich sei, in einem anderen, fremden Körper zu leben. Gosseyn, der Held, lebt (zeitweise) im Körper des galaktischen Prinzen Ashargin, besitzt beider Hirne, die er getrennt und vereint nutzen kann. Damit gelingt es ihm, die menschliche Denkweise, das thalamische, das aristotelische System außer Kraft zu setzen und auf eine Null-A(ristotelische) Art zu denken. Er folgt dabei der Arbeit des analytischen Philosophen und Physikers Alfred Korzybski (Science and Sanity: An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics). Die Möglichkeiten sind enorm: aus Ja und Nein (Jesus), Entweder-Oder (Kierkegaard), Sein und Nichts (Sartre), aus den traditionellen philosophischen Gegensätzen wird plötzlich die Differenz (Deleuze u.a.). Vogt hat, wenn die von mir zugefügten Klammern eine Berechtigung haben, in dieser "Spinnerei" schon in den 40er Jahren die postmoderne Philosophie antizipiert oder die multiple Logik und Physik, die uns heute von einer unvorstellbaren Weltenvielfalt überzeugen will.

Gosseyn lebt bereits in dieser Welt der ungeahnten Möglichkeiten und wechselt zwischen ihnen wie wir von einem Zimmer zum anderen; Raum- und Zeitkonstanten scheinen keine Rolle mehr zu spielen, in seinem Kampf gegen den Überdiktator Enro, um die Rettung der Welten und im Versuch, die Entität hinter den Entitäten (den "Follower") aufzudecken. Ihm dabei als Leser folgen zu können, ist nicht einfach. Vielleicht um diese Schwierigkeit wissend, greift er auf das Schachbild zurück, das sich ja schon im Titel offenbart. Der Held selbst beschreibt sich als Figur dieses "mighty game", als Bauer oder als Dame (selbst da gibt es keine Konsistenz) glaubt er gegen einen schattenhaften Spieler anzutreten in "this great game", in "the galactic game of chess". Man sieht leicht, dass auch Vogts Umschreibungen – wie so vieles in diesem Buch – mehr als vage bleiben, als wüsste er selbst nicht recht, worum es sich bei diesem Kampf oder Spiel handelt. Um gewöhnliches Schach kaum, und wenn, dann nur auf ganz primärer Stufe; wenn es überhaupt Sinn beanspruchen darf, dann muss es sich um ein mehrdimensionales Spiel handeln, auf diversesten Ebenen, mit verschiedenen Regeln, differierenden Strategien. Aber wie soll man sich als normaler (thalamischer, aristotelischer) Mensch solch ein Spiel denken? Entweder ist es genial oder einfach Unsinn.

A.E. van Vogt: The Pawns of Null-A. (US-Version: The Players of Null-A). London 1972 (1948)
Das Buch erschien in leicht gekürzter Fassung auf Deutsch unter dem Titel: Kosmischer Schachzug. Heyne-Buch Nr. 3119 (6.Auflage). München 1981

 

--- Jörg Seidel, 21.05.2006 ---


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