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Das alles ist doch
sonnenklar –
Milan Vidmars "Das Ende des Goldzeitalters"
daß
nur der Schachkampf zu einem eigenartigen Erleben, zum
Glück, das sonst dem menschlichen Leben versagt
bleibt, führen kann.
Denker und Dichter widmeten sich dem Schach, das wussten
wir; dass es hervorragende Schachspieler zu anderweitig
großartigen Geisteshöhen schafften, ist weit
seltener und hat meist mit Mathematik oder Musik zu
tun, seltener mit Philosophie. Fast einsam ragt Lasker
heraus, der freilich als Philosoph wirkungslos und vergessen
blieb.
Sein slowenischer Zeitgenosse Milan Vidmar
(1885 – 1962), auch ein Schachstern erster Ordnung,
versuchte sich Ende der 30er Jahre ebenfalls als Philosoph:
"Das Buch bekam den Titel Med Evropo in Ameriko
(Zwischen Europa und Amerika). Es war, kaum erschienen,
fast schon vergriffen", so schreibt Vidmar in aller
Bescheidenheit, "Es war umstürzlerisch, beunruhigend,
notwendig". Auch wenn derartige Zeilen stutzig
machen, so wecken sie doch ein gewisses Interesse auf
die stark bearbeitete und aktualisierte deutsche Ausgabe
unter dem bedeutungsschweren Titel "Das Ende des
Goldzeitalters" von 1941. Immerhin, Vidmars autobiographisch
anekdotisches Schachbuch "Goldene Schachzeiten"
ist auch heute noch ein viel gesuchter und gelobter,
wenn auch etwas geschwätziger, Klassiker.
Lassen wir uns also die Welt erklären.
Dass er auch hier einem eher redseligen Stil frönt,
wird schnell deutlich, ist aber verzeihbar, wo Dichter
und Denker eins sind. So zumindest lautet Vidmars Selbstverdacht.
In diesem Sinne fängt er an zu fabulieren, von
einer Schiffsreise über den großen Ozean
auf der "Bremen", die ganz unmerklich zur
Metapher verschwimmt, ganz im Sinne: "Wo komme
ich her, wo gehe ich hin" usw. Damit ist auch schon
sein Grundmuster verraten: Metapher finden und frei
assoziieren. Später müssen statt der "Bremen"
die Wolkenkratzer herhalten oder die Stadt New York
oder er meditiert über eine Brücke, über
Kulissen, Bühnen, Pendel, das Schach und dergleichen,
ja sogar der Müller und seine Mühle werden
zum Erkenntnis spendenden Objekt, schließlich
sind wir ja alle Müller, nicht wahr?, "die
ersten Müller waren gewiß Bauern, aber auch
"der Schmied, der Schlosser, der Schneider, der
Tischler
lauter Müller" (251). Vidmar
sieht angesichts der größten Menschheitsprobleme
Bilder, vertieft sich in diese und findet schließlich
die Erleuchtung: "Ja, so ist es, so muß es
sein! Dieses Bild, das da plötzlich vor mir aufsteigt,
erklärt den seltsamen Unterschied zwischen Europa
und Amerika" (54) und andere Schicksalsfragen.
Dass ein Bild nicht erklären kann, sondern sichtbar
macht, wen kümmerts?
Im bürgerlichen Leben war Vidmar
Elektroingenieur, wen wunderts also, dass seine
Bilder oft aus physikalischen Kontexten stammen, seine
Ansprachen viel von Kräften, Schwingungen, Strömen,
Druck, Ventil und Dämmen schwatzen? Wofür
große Köpfe wie Adam Smith, Marx, Simmel,
Weber, Schumpeter, Wundt, Spengler
ausgefeilte
ökonomische, soziologische, psychologische oder
topologische Denksysteme beanspruchten, die doch alle
zu einfach waren, um die komplexe Realität einzufangen,
da setzt Vidmar, der kaum einen dieser Köpfe als
Inspiration erwähnt - alles ist offensichtlich
auf seinem Mist gewachsen -, da setzt Vidmar auf eine
Art Behälterphysik, die alles zu erklären
vorgibt: Wirtschaft und Politik, das Geld, den Kapitalismus,
die Geschichte und die Zukunft. All das geschieht unter
dem unbewiesenen Apriori: "Der Physiker sieht tiefer",
"der Physiker sieht richtig" (76/79). Wie
ein größenwahnsinniger Imperator steht er
vor der Weltkarte und verschiebt großzügig
seine Divisionen in Raum und Zeit: hier der Russe, dort
der Tatar und soundso schlagen wir den Türken.
Danach stemmt er theatralisch die Fäuste in die
Seite, in guter alter Duce-Manier, und lächelt
zufrieden: "Ich durchschaue den Kriegsplan des
grimmigen Weltallbeherrschers. Er fürchtet sich
vor der ausgerichteten Kopfmannigfaltigkeit" (358).
Tatsächlich führt ihn sein loses eklektisches
Maul manches Mal in die gefährliche Nähe unangenehmer
Nachbarn; dann ist schon mal von Kulturmenschen und
Lebensraum die Rede oder ganz lapidar: "Es gibt
ungezählte einfache Verrichtungen, die immer noch
der Hand eines Menschen anvertraut werden müssen.
Für solche Verrichtungen erschuf Gott den Neger!"
(46) Vidmars fürchterliche Simplifizierungen machen
sein Gerede in beide Richtungen kompatibel, die des
Nationalsozialismus und des Staatskommunismus; deshalb
kann er im selben Atemzug die italienische und die sowjetische
Planwirtschaft loben (367). Auch der liturgische Grundton
dieses 400-seitigen Gebets an die Menschheit wird so
stimmig. Immer wieder appelliert er an sie, die Menschheit,
als sei sie eine Person, nicht anders als der
Russe oder der Amerikaner (nur der Deutsche
fehlt interessanterweise), aber für jemanden, der
gegen den Zufall (als Person) kämpft, geführt
von dem Verstand (als Person) muss es da keine
Probleme geben: "Allmählich wird klar, daß
man es tun muß, daß man aus der Menschheit
heraussteigen muß, um sie ebenfalls von außen
sehen zu können, um der Menschenwelt gegenüber
denselben Standpunkt einzunehmen wie gegenüber
der Groß- und Kleinwelt. Tut man es, so verschwinden
rasch die quälenden Begriffsschwierigkeiten, und
das vernebelte, vom Menschheitsinnern aus erhältliche
Bild weicht sofort einfachen, klaren Einsichten. Von
außen sieht man sofort, daß alles, was die
Menschheit treibt, Kampf des Verstandes mit dem Zufall,
das heißt, Wirtschaft ist" (302). Mehr will
Vidmar im Grunde genommen nicht sagen: Kampf, Menschheit,
Zufall, Verstand, Glück - dies ist das heimliche
Pentagramm Vidmarscher Erlösungswahrheit. Philosophisch
auf den Punkt gebracht, im Vidmarschen Saft gekocht,
könnte man sagen: Im Lichtpunktmeer der Kopfmannigfaltigkeit
ist Vidmar eine besonders starke Leuchte, die besonders
viele Verstandesquanten ins Weltallgebilde ausstrahlt.
Nein, Spaß beiseite. Was er sagen will, ist dies:
die Menschheit befindet sich im Kampf mit dem Zufall,
den sie nur bezwingen kann, indem sie sich universell
verstandesgeleitet ausrichtet (wie ein Magnet), Kapitalismus
und Geld (Goldliebe) überwindet und ins Glück
voranschreitet. Glück aber, so schreibt er abschließend,
als Quintessenz, in kursiven Lettern, "das Glück
aber ist das Wissen um einen erkämpften wirklichen
Sieg" (407). Heißt das nicht Eulen nach
Athen tragen, denn wer wüßte das besser als
jeder x-beliebiger Schachspieler?
Kurioserweise kommt der selbsternannte
Philosoph zu diesem Schluß ausgerechnet über
das Schach. Weshalb er den welthistorischen Umweg wählte,
um uns diese Banalität schmackhaft zu machen, dieses
Geheimnis hat er mit ins Grab genommen. Uns gibt er
die Möglichkeit noch zwei, drei Sätze über
die schachliche Bedeutsamkeit seines Wälzers zu
verlieren. Man findet darin nicht nur einige nette Anekdoten
(15ff., 98, 260ff., 332ff., 401), die er jeweils nutzt,
um sich auch als Schachgenie zu erkennen zu geben, interessant
dürfte auch sein, dass die Kategorie des Kampfes
eine so zentrale Rolle spielt. Vielleicht ist es kein
Zufall, dass auch Laskers Philosophie - weitaus ernstzunehmender
- sich ausgerechnet um den Begriff des Kampfes drehte,
vielleicht tendieren Schachbesessene einfach dazu, ihre
eingeschränkte Weltsicht aufs Große und Ganze
zu übertragen, vielleicht trifft dies sogar auf
alle Menschen zu, um nicht zu sagen, die Menschheit?
Vidmars Problem lässt sich jedenfalls
auch anhand einer Schachanekdote aufzeigen. Da schreibt
er zu Beginn: "Plötzlich trifft mich eine
verblüffende Erkenntnis wie ein Blitz aus heiterem
Himmel: die amerikanische Freiheit ist lediglich ein
Abglanz der Seelenlosigkeit, der noch fehlenden Kultur
Nordamerikas" (94) und bringt als beweisendes Beispiel
eine Szene aus dem New Yorker Weltschachturnier 1927.
Dort wurden er und fünf weitere Großmeister
von einem amerikanischen Millionär zum Essen eingeladen,
in dessen Verlauf der Ami gesteht, dass Schach ihm zu
langwierig sei, zumindest in der nun gespielten Form.
Blitzschach sei die Lösung - "wir Amerikaner
sind keine Freunde langen Nachdenkens". So spielen
sie also vor den Augen des amerikanischen Magnaten Blitzschach,
machen sich zu Hampelmännern, die Herren Aljechin,
Nimzowitsch, Lasker, Capablanca, aber Vidmar will daraus
große Schlüsse ziehen (als hätte es
nie einen Morphy oder Pillsbury gegeben): "In dem
gründlich verschiedenen Verhalten dem Schach gegenüber
äußert sich mir schlagend der Unterschied
zwischen Europa und Amerika" (98).
"Das alles ist doch sonnenklar"
(349)
Milan Vidmar: Das Ende des Goldzeitalters.
Die Menschheit im Umbruch. Braunschweig 1942 (2. Auflage)
418 Seiten
--- Jörg Seidel, 15.09.2008 ---
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