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LITERATUR
15. September 2008

Das alles ist doch sonnenklar –
Milan Vidmars "Das Ende des Goldzeitalters"

…daß nur der Schachkampf zu einem eigenartigen Erleben, zum Glück, das sonst dem menschlichen Leben versagt bleibt, führen kann.


Denker und Dichter widmeten sich dem Schach, das wussten wir; dass es hervorragende Schachspieler zu anderweitig großartigen Geisteshöhen schafften, ist weit seltener und hat meist mit Mathematik oder Musik zu tun, seltener mit Philosophie. Fast einsam ragt Lasker heraus, der freilich als Philosoph wirkungslos und vergessen blieb.

Sein slowenischer Zeitgenosse Milan Vidmar (1885 – 1962), auch ein Schachstern erster Ordnung, versuchte sich Ende der 30er Jahre ebenfalls als Philosoph: "Das Buch bekam den Titel ‚Med Evropo in Ameriko’ (Zwischen Europa und Amerika). Es war, kaum erschienen, fast schon vergriffen", so schreibt Vidmar in aller Bescheidenheit, "Es war umstürzlerisch, beunruhigend, notwendig". Auch wenn derartige Zeilen stutzig machen, so wecken sie doch ein gewisses Interesse auf die stark bearbeitete und aktualisierte deutsche Ausgabe unter dem bedeutungsschweren Titel "Das Ende des Goldzeitalters" von 1941. Immerhin, Vidmars autobiographisch anekdotisches Schachbuch "Goldene Schachzeiten" ist auch heute noch ein viel gesuchter und gelobter, wenn auch etwas geschwätziger, Klassiker.

Lassen wir uns also die Welt erklären. Dass er auch hier einem eher redseligen Stil frönt, wird schnell deutlich, ist aber verzeihbar, wo Dichter und Denker eins sind. So zumindest lautet Vidmars Selbstverdacht. In diesem Sinne fängt er an zu fabulieren, von einer Schiffsreise über den großen Ozean auf der "Bremen", die ganz unmerklich zur Metapher verschwimmt, ganz im Sinne: "Wo komme ich her, wo gehe ich hin" usw. Damit ist auch schon sein Grundmuster verraten: Metapher finden und frei assoziieren. Später müssen statt der "Bremen" die Wolkenkratzer herhalten oder die Stadt New York oder er meditiert über eine Brücke, über Kulissen, Bühnen, Pendel, das Schach und dergleichen, ja sogar der Müller und seine Mühle werden zum Erkenntnis spendenden Objekt, schließlich sind wir ja alle Müller, nicht wahr?, "die ersten Müller waren gewiß Bauern, aber auch "der Schmied, der Schlosser, der Schneider, der Tischler… lauter Müller" (251). Vidmar sieht angesichts der größten Menschheitsprobleme Bilder, vertieft sich in diese und findet schließlich die Erleuchtung: "Ja, so ist es, so muß es sein! Dieses Bild, das da plötzlich vor mir aufsteigt, erklärt den seltsamen Unterschied zwischen Europa und Amerika" (54) und andere Schicksalsfragen. Dass ein Bild nicht erklären kann, sondern sichtbar macht, wen kümmert’s?

Im bürgerlichen Leben war Vidmar Elektroingenieur, wen wundert’s also, dass seine Bilder oft aus physikalischen Kontexten stammen, seine Ansprachen viel von Kräften, Schwingungen, Strömen, Druck, Ventil und Dämmen schwatzen? Wofür große Köpfe wie Adam Smith, Marx, Simmel, Weber, Schumpeter, Wundt, Spengler … ausgefeilte ökonomische, soziologische, psychologische oder topologische Denksysteme beanspruchten, die doch alle zu einfach waren, um die komplexe Realität einzufangen, da setzt Vidmar, der kaum einen dieser Köpfe als Inspiration erwähnt - alles ist offensichtlich auf seinem Mist gewachsen -, da setzt Vidmar auf eine Art Behälterphysik, die alles zu erklären vorgibt: Wirtschaft und Politik, das Geld, den Kapitalismus, die Geschichte und die Zukunft. All das geschieht unter dem unbewiesenen Apriori: "Der Physiker sieht tiefer", "der Physiker sieht richtig" (76/79). Wie ein größenwahnsinniger Imperator steht er vor der Weltkarte und verschiebt großzügig seine Divisionen in Raum und Zeit: hier der Russe, dort der Tatar und soundso schlagen wir den Türken. Danach stemmt er theatralisch die Fäuste in die Seite, in guter alter Duce-Manier, und lächelt zufrieden: "Ich durchschaue den Kriegsplan des grimmigen Weltallbeherrschers. Er fürchtet sich vor der ausgerichteten Kopfmannigfaltigkeit" (358). Tatsächlich führt ihn sein loses eklektisches Maul manches Mal in die gefährliche Nähe unangenehmer Nachbarn; dann ist schon mal von Kulturmenschen und Lebensraum die Rede oder ganz lapidar: "Es gibt ungezählte einfache Verrichtungen, die immer noch der Hand eines Menschen anvertraut werden müssen. Für solche Verrichtungen erschuf Gott den Neger!" (46) Vidmars fürchterliche Simplifizierungen machen sein Gerede in beide Richtungen kompatibel, die des Nationalsozialismus und des Staatskommunismus; deshalb kann er im selben Atemzug die italienische und die sowjetische Planwirtschaft loben (367). Auch der liturgische Grundton dieses 400-seitigen Gebets an die Menschheit wird so stimmig. Immer wieder appelliert er an sie, die Menschheit, als sei sie eine Person, nicht anders als der Russe oder der Amerikaner (nur der Deutsche fehlt interessanterweise), aber für jemanden, der gegen den Zufall (als Person) kämpft, geführt von dem Verstand (als Person) muss es da keine Probleme geben: "Allmählich wird klar, daß man es tun muß, daß man aus der Menschheit heraussteigen muß, um sie ebenfalls von außen sehen zu können, um der Menschenwelt gegenüber denselben Standpunkt einzunehmen wie gegenüber der Groß- und Kleinwelt. Tut man es, so verschwinden rasch die quälenden Begriffsschwierigkeiten, und das vernebelte, vom Menschheitsinnern aus erhältliche Bild weicht sofort einfachen, klaren Einsichten. Von außen sieht man sofort, daß alles, was die Menschheit treibt, Kampf des Verstandes mit dem Zufall, das heißt, Wirtschaft ist" (302). Mehr will Vidmar im Grunde genommen nicht sagen: Kampf, Menschheit, Zufall, Verstand, Glück - dies ist das heimliche Pentagramm Vidmarscher Erlösungswahrheit. Philosophisch auf den Punkt gebracht, im Vidmarschen Saft gekocht, könnte man sagen: Im Lichtpunktmeer der Kopfmannigfaltigkeit ist Vidmar eine besonders starke Leuchte, die besonders viele Verstandesquanten ins Weltallgebilde ausstrahlt. Nein, Spaß beiseite. Was er sagen will, ist dies: die Menschheit befindet sich im Kampf mit dem Zufall, den sie nur bezwingen kann, indem sie sich universell verstandesgeleitet ausrichtet (wie ein Magnet), Kapitalismus und Geld (Goldliebe) überwindet und ins Glück voranschreitet. Glück aber, so schreibt er abschließend, als Quintessenz, in kursiven Lettern, "das Glück aber ist das Wissen um einen erkämpften wirklichen Sieg" (407). Heißt das nicht Eulen nach Athen tragen, denn wer wüßte das besser als jeder x-beliebiger Schachspieler?

Kurioserweise kommt der selbsternannte Philosoph zu diesem Schluß ausgerechnet über das Schach. Weshalb er den welthistorischen Umweg wählte, um uns diese Banalität schmackhaft zu machen, dieses Geheimnis hat er mit ins Grab genommen. Uns gibt er die Möglichkeit noch zwei, drei Sätze über die schachliche Bedeutsamkeit seines Wälzers zu verlieren. Man findet darin nicht nur einige nette Anekdoten (15ff., 98, 260ff., 332ff., 401), die er jeweils nutzt, um sich auch als Schachgenie zu erkennen zu geben, interessant dürfte auch sein, dass die Kategorie des Kampfes eine so zentrale Rolle spielt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass auch Laskers Philosophie - weitaus ernstzunehmender - sich ausgerechnet um den Begriff des Kampfes drehte, vielleicht tendieren Schachbesessene einfach dazu, ihre eingeschränkte Weltsicht aufs Große und Ganze zu übertragen, vielleicht trifft dies sogar auf alle Menschen zu, um nicht zu sagen, die Menschheit?

Vidmars Problem lässt sich jedenfalls auch anhand einer Schachanekdote aufzeigen. Da schreibt er zu Beginn: "Plötzlich trifft mich eine verblüffende Erkenntnis wie ein Blitz aus heiterem Himmel: die amerikanische Freiheit ist lediglich ein Abglanz der Seelenlosigkeit, der noch fehlenden Kultur Nordamerikas" (94) und bringt als beweisendes Beispiel eine Szene aus dem New Yorker Weltschachturnier 1927. Dort wurden er und fünf weitere Großmeister von einem amerikanischen Millionär zum Essen eingeladen, in dessen Verlauf der Ami gesteht, dass Schach ihm zu langwierig sei, zumindest in der nun gespielten Form. Blitzschach sei die Lösung - "wir Amerikaner sind keine Freunde langen Nachdenkens". So spielen sie also vor den Augen des amerikanischen Magnaten Blitzschach, machen sich zu Hampelmännern, die Herren Aljechin, Nimzowitsch, Lasker, Capablanca, aber Vidmar will daraus große Schlüsse ziehen (als hätte es nie einen Morphy oder Pillsbury gegeben): "In dem gründlich verschiedenen Verhalten dem Schach gegenüber äußert sich mir schlagend der Unterschied zwischen Europa und Amerika" (98).

… "Das alles ist doch sonnenklar" (349)

Milan Vidmar: Das Ende des Goldzeitalters. Die Menschheit im Umbruch. Braunschweig 1942 (2. Auflage) 418 Seiten

--- Jörg Seidel, 15.09.2008 ---


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