Jochen Wedegärtner:
Sardisches Roulette
Dies ist ein Buch für alle Liebhaber Sardiniens.
Wer die raue Trauminsel einmal mit offenen Augen betrat,
dessen Fernweh wird selten an ihr vorbei können.
Insbesondere der abwechslungsreiche Norden, die Costa
Smeralda, das Gennargentu, die Barbagia,
wo Armut und Reichtum, üppiges Leben und Dürre,
jahrtausendealte Tradition und Moderne so malerische
Kontraste abgeben [1], vor
allem aber das Meer, das türkisblaue Meer
Es ist auch ein Buch für die Freunde
witziger und intelligenter Dialoge, deren Pointen oft
so schnell sind, dass man besinnlich verharrt. "Von
Psychologie verstehe ich gar nichts. Bloß von
Menschen". Vermutlich zieht das Buch daraus seine
größten literarischen Reize: "Es gab
hier ohnehin bloß Spaghetti, sie würden ihn
nur noch mehr verwirren".
Aber auch die Krimifans kommen auf ihre
Kosten, denn wenn es auch nicht vor Spannung platzt,
so gleitet der Lesefluss doch ungestört dahin und
garantiert eine angenehme Urlaubslektüre.
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Schließlich, wenn auch nur ganz
am Rande, ist es auch ein Buch für Spieler jeglicher
Couleur, nicht zuletzt für Schachspieler. Bellack,
der abenteuergesinnte, millionenschwere Playboy, der
sich selbst als Student bezeichnet, ist ein Spieler
durch und durch und wenn er nicht leiblich am Spieltisch
sitzt oder im sportlichen Wettkampf kämpft, so
biegt er willentlich Lebens- in Spielsituationen um.
"Er sagt: Ich bin im Spiel" – fast zu
jeder Situation. Das Spiel ist eine verworrene Entführungsgeschichte,
in der sardische Bräuche ebenso eine Rolle spielen
wie Familienzwiste oder Kunstspekulationen.
Bellacks ausgesprochene Spielintelligenz
ist bald mittendrin: "Sie war hochtrainiert auf
Spiele: Schach, Bridge, was es auch sei, an ihr sollte
es nicht scheitern". Sie zieht ihre Weisheit, ganz
eklektisch, aus allem was zur Verfügung steht,
Hauptsache, es lässt sich in Spielbegriffe übersetzen.
Und als Bellack mit dem Entführer verhandelt –
der im Übrigen doppeldeutig "Il Matto"
heißt [2] – da offenbart er sich auch als schachversiert,
wenn er des Verbrechers Strategie dolmetscht:
"Der will Sie schon vor der Verhandlung
kleinkriegen. Das ist die eine Methode, die Position
des Gegners zu schwächen. Die andere ist, ihm zu
schmeicheln. Über das Thema sollte ich mal ein
Buch schreiben."
"Es gibt schon welche darüber:
Schachbücher. Diese Methoden sind Eröffnungen
wie im Schach: Die schmeichlerische ist die italienische
Eröffnung, die harte wäre die sardische."
"Gegen welche spielen Sie lieber?"
"Gegen die italienische Eröffnung
bin ich machtlos."
"Im Schach?"
"Im Leben. Und die sardische Eröffnung
gibt es leider nicht im Schach."
"Wieso leider?"
"Sonst hätte ich nachschlagen
können, was Bobby Fischer dagegen gespielt hat."
Nun, das stimmt nicht ganz. Man kann
durchaus von der sardischen Eröffnung sprechen,
ebenso wie man vom sardischen Mittelspiel, in dem Bellack
"Il Matto" und die seinen auch im spielerischen
Zweikampf besiegt [3], und selbst vom sardischen Endspiel,
durch dessen superbe Behandlung der Held mehr als nur
die Partie gewinnt.
Fazit: Ein netter Roman, den besonders
diejenigen genießen können, die die zärtliche
Liebe zu Sardinien und zum Spiel teilen.
--- Jörg Seidel, 16.07.2004 ---
[1]
Niemand hat das einfühlsamer beschrieben als die
sardische Schriftstellerin Grazia Deledda, die 1926
den Literaturnobelpreis erhielt. Vielleicht muss man
ihre Werke kennen, um Wedegärtners oft hart, übertrieben
und antiquiert klingende Beschreibungen nachzuempfinden.
[2] "matto" bedeutet
sowohl "verrückt" als auch "matt"
[3] In einer Szene, die
allzu sehr an James Bond erinnert (208). Spätestens
hier wird das heimliche Vorbild Wedegärtners sichtbar;
es bestätigt sich an mehr als einer Passage.
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