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LITERATUR
10. Juli 2002

Vom Mythos zum Logos und zurück in anderthalb Stunden.
über eine "kulturgeschichtliche Studie"

Wie oft hat sich das grausige Spiel wiederholt, sind wir nicht alle, einschließlich der Großen dieser Welt, nur Statisten auf der Weltbühne, dem Schachbrett des Lebens! Wartet am Ende nicht auf alle der unschlagbare Großmeister der Weltgeschichte, dem noch keiner gewachsen war!

W. W.

Das Herz eines jeden Schachfans mit im weitesten Sinne philosophischem Interesse stockt unweigerlich, wenn er folgende Ankündigung eines ihm noch vollkommen unbekannten Buches liest:

Ironie der Geschichte: Die spielenden Affen des Naumburger Doms als Titelbild

"Mit vorliegender Studie versucht der Verfasser, den geheimnisvollen Ursprung des Königlichen Spiels aufzuspüren, seine Entwicklung vom Mythos zum Logos aufzuzeigen, seinen dunklen Sinn philosophisch zu ergründen, seine kulturgeschichtliche Bedeutung, besonders für Kunst und Literatur, zu erfassen. Daneben werden die ältesten mittelalterlichen Quellen festgestellt und in ihren Beziehungen zueinander untersucht. Dem eingestreuten Abriß über die moderne Schachgeschichte schließt sich eine Betrachtung über die früheren Bemühungen der Menschheit an, den menschlichen Geist einschließlich seiner Intuitionen durch Schachmaschinen, die Vorläufer der modernen Elektronengehirne, zu automatisieren. (Damit werden gefährliche, aber auch trostvolle Ausblicke auf die zukünftige Entwicklung der Zivilisation sichtbar, die über diese Studie hinausweisen.) Ein Ausschnitt bibliographischer Angaben ist zur weiterführenden Vertiefung, eine sorgfältige Auswahl von Illustrationen zur Veranschaulichung der Darstellung bestimmt."
Was für ein gigantisches Vorhaben!!

 

Dies genau sind die Worte des Umschlagtextes des vielversprechenden Titels: "DAS KÖNIGLICHE SPIEL. EINE KULTURGESCHICHTLICHE STUDIE V. WALDEMAR WEIGAND" und sie erschienen unversehens im weiten Angebot des Internetauktionshauses eBay, dem überlegenen Marktführer der Branche. Sofort war der Kaufentschluss gefasst, eine ausgedehnte Recherche in diversen Bibliographien und Antiquariatskatalogen bestätigte die Entscheidung nur, denn das Buch schien es bislang nicht gegeben zu haben, man konnte hier möglicherweise noch einen Schatz heben: du mußt dieses Werk haben, das allein wegen seiner vollmundigen Versprechungen zum Grundlagenwerk erkoren werden mußte. Und wenn da in der Annonce von 80 Seiten die Rede war, so konnte es sich nur um einen Druckfehler handeln; 800 Seiten hätten wohl einem guten Schreiber nur mit Ach und Krach gelangt, die ganze Palette wirklich abzudecken.

Nun, heute morgen kam es, das Buch, ganz bescheiden im Briefumschlag versteckt und schon anderthalb Stunden später sitze ich hier und rezensiere es, das Heft, das Heftchen, welches mich 40 Mark in einer wilden finalen Überbietungshysterie während der letzten Sekunden gekostet hat. Ein wahres Schnäppchen, im Sinne des Wortes, im Sinne des Diminutivs. Dabei war ich noch nicht mal voreingenommen, traute einem genialen Kopf durchaus zu, vielleicht im Stile Wittgensteins, die annoncierte Themenvielfalt tatsächlich abzudecken, zumindest das objektive Dilemma zwischen Prognose und Form halbwegs intelligent zu lösen. Vielleicht so hoffte ich, ließe es sich wenigstens in die spärliche Reihe der Schachphilosophien ordnen, in die sämtlich zwar ungenügenden, aber doch verdienstvollen Arbeiten von Junk, Siebert, Seifert. Nein, alles Hoffen war umsonst, das mit großem Tamtam daherkommende Blättchen ist seine eigene Besprechung nicht wert. Das wage ich nach erster (und wohl letzter) Lektüre zu behaupten. Was Weigand hier im Jahre 1958 ankündigte, ist weder königlich noch eine Studie und kulturgeschichtlich belangvoll schon gar nicht, es klärt nicht den "geheimnisvollen Ursprung" noch die Entwicklung vom "Mythos zum Logos" (worauf ich mich besonders gefreut hatte). Es ergründet keinen Sinn und erst recht keinen philosophischen... es leistet überhaupt nur eines: es vervollständigt meine Sammlung, wenn auch nicht ideell, so doch wenigstens der puren Masse nach, wenngleich auch hier nicht sonderlich beeindruckend, mit seinen vier Millimetern Dicke.

Nun soll ich wohl auch noch den Inhalt besprechen? Aber wie, wo doch keiner ist! Gut, es sind ein paar schöne Bilder drin (die beanspruchen schon ca. 20 Seiten) aber sonst gibt es da nicht viel. Soll ich die Leser etwa mit abgeschmacktem Eurozentrismus langweilen?: "Die Fortbildung des Schachspiels zu moderner Gestaltung blieb allerdings der dynamischen Erfassung und Durchdringung des abendländischen Geistes vorbehalten" (14) oder mit Klischees wie diesem: "Diese charmante einmalige Chance", "diese liebenswürdige Umdeutung" - nämlich den männlichen Wesir des arabischen Vorfahren in die DAME zu verwandeln, "wurde von unseren französischen Nachbarn selbstverständlich prompt wahrgenommen" (18) usw. Das gipfelt in der fast, wie bei allen historischen Moralismen, an Dummheit grenzenden Aussage: "Die Völker der Welt hätten sich seit Jahrhunderten viel Gut und Blut, viel Leid und Elend ersparen können, wenn sie ihre Streitigkeiten ... auf einem Schachbrett, statt auf dem Schlachtfeld ausgetragen hätten" (31). Und selbst in diesen Banalitäten wird ersichtlich, daß ein eigenständiger Gedanke nicht auszumachen ist. Und dort, wo, unter glücklichen Umständen ein solcher vielleicht hätte entfaltet werden können, etwa als Weigand dazu ansetzt, die inhärente Dualität des Spiels, die sich zudem im Schwarz-Weiß-Kontrast versinnbildlicht, von der zoroastrischen Religion herzuleiten, dort zieht er nach diesem Verweis einfach zurück, bringt weder Vertiefungen noch Beweise und macht die ganze Aussage zu Unsinn, nicht anders als er die Entwicklung vom Mythos zum Logos (schon auf Seite 14!) mit dem "Übergang vom Vier- zum Zweischach" ausreichend erläutert glaubt, mit dem enigmatischen Zusatz, daß die Entwicklung damit noch nicht abgeschlossen sei. Hmm! Das Werklein strotzt - wenn man bei einem solch kümmerlichen Produkt so sprechen darf - von derartigen Halbgedanken und Platitüden und das bißchen Wortgeklimper à la "progressive Zerebration" (71) erreicht nur das Gegenteil der vermuteten Intention, es macht die inhaltliche Armut nur noch greifbarer. Der Autor hat offensichtlich ein paar Bücher zum Thema gelesen und sein Surrogat gebraut. Vermutlich hat er das mit der gleichen Hingabe getan wie liebevolle Rentner Flaschen in Bast einspinnen, aus Streichhölzchen Schiffchen bauen oder Schaukelstühle aus Holzklammern. Man kann daraus allerhöchstens die eine oder andere Literaturanregung erlangen, aber auch nur, wenn man sonst nichts zum Thema kennt. Ich gehe jede Wette ein, daß Weigand pensionierter Lehrer war und sich sein trauriges Rentnerdasein als selbsternannter "Schachphilosoph" versüßte, um ein bisschen an der Unsterblichkeit zu basteln.

Bleibt abschließend die Frage Wozu zu beantworten. Wozu so sein Buch? Ich weiß es nicht! Aber wozu solch ein Buch dann besprechen? Um dem Grundgedanken dieser Artikelserie Rechnung zu tragen, eine Art Archiv über vergessene, nicht-, noch nicht-, oder kaum bekannte, fehlinterpretierte und mißverstandene Schachtexte aller Art anzulegen, denn das ist die Stärke der hier besprochenen "Studie", daß sie in dieses Archiv, mehr als Kuriosum denn als Beitrag, eingeht. Lassen wir sie dort in Frieden ruhen.

(Waldemar Weigand: Das königliche Spiel. Eine kulturgeschichtliche Studie. De Gruyter Berlin 1959. 80 Seiten 25 Abbildungen.)

 

--- Jörg Seidel, 10.07.2002 ---


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