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Vom Mythos zum Logos
und zurück in anderthalb Stunden.
über eine "kulturgeschichtliche Studie"
Wie oft hat sich
das grausige Spiel wiederholt, sind wir nicht alle,
einschließlich der Großen dieser Welt, nur Statisten
auf der Weltbühne, dem Schachbrett des Lebens! Wartet
am Ende nicht auf alle der unschlagbare Großmeister
der Weltgeschichte, dem noch keiner gewachsen war!
W. W.
Das Herz eines jeden Schachfans mit im
weitesten Sinne philosophischem Interesse stockt unweigerlich,
wenn er folgende Ankündigung eines ihm noch vollkommen
unbekannten Buches liest:
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Ironie der
Geschichte: Die spielenden Affen des Naumburger Doms als Titelbild
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"Mit vorliegender Studie versucht
der Verfasser, den geheimnisvollen Ursprung des Königlichen
Spiels aufzuspüren, seine Entwicklung vom Mythos
zum Logos aufzuzeigen, seinen dunklen Sinn philosophisch
zu ergründen, seine kulturgeschichtliche Bedeutung,
besonders für Kunst und Literatur, zu erfassen.
Daneben werden die ältesten mittelalterlichen Quellen
festgestellt und in ihren Beziehungen zueinander untersucht.
Dem eingestreuten Abriß über die moderne
Schachgeschichte schließt sich eine Betrachtung
über die früheren Bemühungen der Menschheit
an, den menschlichen Geist einschließlich seiner
Intuitionen durch Schachmaschinen, die Vorläufer
der modernen Elektronengehirne, zu automatisieren. (Damit
werden gefährliche, aber auch trostvolle Ausblicke
auf die zukünftige Entwicklung der Zivilisation
sichtbar, die über diese Studie hinausweisen.)
Ein Ausschnitt bibliographischer Angaben ist zur weiterführenden
Vertiefung, eine sorgfältige Auswahl von Illustrationen
zur Veranschaulichung der Darstellung bestimmt."
Was für ein gigantisches Vorhaben!!
Dies genau sind die Worte des Umschlagtextes
des vielversprechenden Titels: "DAS KÖNIGLICHE
SPIEL. EINE KULTURGESCHICHTLICHE STUDIE V. WALDEMAR
WEIGAND" und sie erschienen unversehens im weiten
Angebot des Internetauktionshauses eBay, dem überlegenen
Marktführer der Branche. Sofort war der Kaufentschluss
gefasst, eine ausgedehnte Recherche in diversen Bibliographien
und Antiquariatskatalogen bestätigte die Entscheidung
nur, denn das Buch schien es bislang nicht gegeben zu
haben, man konnte hier möglicherweise noch einen
Schatz heben: du mußt dieses Werk haben, das allein
wegen seiner vollmundigen Versprechungen zum Grundlagenwerk
erkoren werden mußte. Und wenn da in der Annonce
von 80 Seiten die Rede war, so konnte es sich nur um
einen Druckfehler handeln; 800 Seiten hätten wohl
einem guten Schreiber nur mit Ach und Krach gelangt,
die ganze Palette wirklich abzudecken.
Nun, heute morgen kam es, das Buch, ganz
bescheiden im Briefumschlag versteckt und schon anderthalb
Stunden später sitze ich hier und rezensiere es,
das Heft, das Heftchen, welches mich 40 Mark in einer
wilden finalen Überbietungshysterie während
der letzten Sekunden gekostet hat. Ein wahres Schnäppchen,
im Sinne des Wortes, im Sinne des Diminutivs. Dabei
war ich noch nicht mal voreingenommen, traute einem
genialen Kopf durchaus zu, vielleicht im Stile Wittgensteins,
die annoncierte Themenvielfalt tatsächlich abzudecken,
zumindest das objektive Dilemma zwischen Prognose und
Form halbwegs intelligent zu lösen. Vielleicht
so hoffte ich, ließe es sich wenigstens in die
spärliche Reihe der Schachphilosophien ordnen,
in die sämtlich zwar ungenügenden, aber doch
verdienstvollen Arbeiten von Junk, Siebert, Seifert.
Nein, alles Hoffen war umsonst, das mit großem
Tamtam daherkommende Blättchen ist seine eigene
Besprechung nicht wert. Das wage ich nach erster (und
wohl letzter) Lektüre zu behaupten. Was Weigand
hier im Jahre 1958 ankündigte, ist weder königlich
noch eine Studie und kulturgeschichtlich belangvoll
schon gar nicht, es klärt nicht den "geheimnisvollen
Ursprung" noch die Entwicklung vom "Mythos
zum Logos" (worauf ich mich besonders gefreut hatte).
Es ergründet keinen Sinn und erst recht keinen
philosophischen... es leistet überhaupt nur eines:
es vervollständigt meine Sammlung, wenn auch nicht
ideell, so doch wenigstens der puren Masse nach, wenngleich
auch hier nicht sonderlich beeindruckend, mit seinen
vier Millimetern Dicke.
Nun soll ich wohl auch noch den Inhalt
besprechen? Aber wie, wo doch keiner ist! Gut, es sind
ein paar schöne Bilder drin (die beanspruchen schon
ca. 20 Seiten) aber sonst gibt es da nicht viel. Soll
ich die Leser etwa mit abgeschmacktem Eurozentrismus
langweilen?: "Die Fortbildung des Schachspiels
zu moderner Gestaltung blieb allerdings der dynamischen
Erfassung und Durchdringung des abendländischen
Geistes vorbehalten" (14) oder mit Klischees wie
diesem: "Diese charmante einmalige Chance",
"diese liebenswürdige Umdeutung" - nämlich
den männlichen Wesir des arabischen Vorfahren in
die DAME zu verwandeln, "wurde von unseren französischen
Nachbarn selbstverständlich prompt wahrgenommen"
(18) usw. Das gipfelt in der fast, wie bei allen historischen
Moralismen, an Dummheit grenzenden Aussage: "Die
Völker der Welt hätten sich seit Jahrhunderten
viel Gut und Blut, viel Leid und Elend ersparen können,
wenn sie ihre Streitigkeiten ... auf einem Schachbrett,
statt auf dem Schlachtfeld ausgetragen hätten"
(31). Und selbst in diesen Banalitäten wird ersichtlich,
daß ein eigenständiger Gedanke nicht auszumachen
ist. Und dort, wo, unter glücklichen Umständen
ein solcher vielleicht hätte entfaltet werden können,
etwa als Weigand dazu ansetzt, die inhärente Dualität
des Spiels, die sich zudem im Schwarz-Weiß-Kontrast
versinnbildlicht, von der zoroastrischen Religion herzuleiten,
dort zieht er nach diesem Verweis einfach zurück,
bringt weder Vertiefungen noch Beweise und macht die
ganze Aussage zu Unsinn, nicht anders als er die Entwicklung
vom Mythos zum Logos (schon auf Seite 14!) mit dem "Übergang
vom Vier- zum Zweischach" ausreichend erläutert
glaubt, mit dem enigmatischen Zusatz, daß die
Entwicklung damit noch nicht abgeschlossen sei. Hmm!
Das Werklein strotzt - wenn man bei einem solch kümmerlichen
Produkt so sprechen darf - von derartigen Halbgedanken
und Platitüden und das bißchen Wortgeklimper
à la "progressive Zerebration" (71)
erreicht nur das Gegenteil der vermuteten Intention,
es macht die inhaltliche Armut nur noch greifbarer.
Der Autor hat offensichtlich ein paar Bücher zum
Thema gelesen und sein Surrogat gebraut. Vermutlich
hat er das mit der gleichen Hingabe getan wie liebevolle
Rentner Flaschen in Bast einspinnen, aus Streichhölzchen
Schiffchen bauen oder Schaukelstühle aus Holzklammern.
Man kann daraus allerhöchstens die eine oder andere
Literaturanregung erlangen, aber auch nur, wenn man
sonst nichts zum Thema kennt. Ich gehe jede Wette ein,
daß Weigand pensionierter Lehrer war und sich
sein trauriges Rentnerdasein als selbsternannter "Schachphilosoph"
versüßte, um ein bisschen an der Unsterblichkeit
zu basteln.
Bleibt abschließend die Frage Wozu
zu beantworten. Wozu so sein Buch? Ich weiß es
nicht! Aber wozu solch ein Buch dann besprechen? Um
dem Grundgedanken dieser Artikelserie Rechnung zu tragen,
eine Art Archiv über vergessene, nicht-, noch nicht-,
oder kaum bekannte, fehlinterpretierte und mißverstandene
Schachtexte aller Art anzulegen, denn das ist die Stärke
der hier besprochenen "Studie", daß
sie in dieses Archiv, mehr als Kuriosum denn als Beitrag,
eingeht. Lassen wir sie dort in Frieden ruhen.
(Waldemar Weigand: Das königliche
Spiel. Eine kulturgeschichtliche Studie. De Gruyter
Berlin 1959. 80 Seiten 25 Abbildungen.)
--- Jörg Seidel, 10.07.2002 ---
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