|
Gerhard Willeke:
"Geschichte des deutschen Arbeiterschach"
Wenn Texte und Handeln, insbesondere dann auch Geschichtentexte, die vom Handeln handeln, Macht-Texte mit dem Ziel der Handlungsermächtigung, eng miteinander verwoben sind, ohne dass man schnell mit Identifizierungen beider Sphären arbeiten dürfte, dann muss hier wohl der Umschlagplatz des kommunikativen Textes sein. An ihm leisten es die Geschichten, mittels der sozialen und der temporalen Reflexion auf dem objektivierenden Weg der Verständigung und Synchronisation historische Objektivität als Intertemporalität und Intersubjektivität zugleich zu erzeugen und sie mittels sozialer und temporaler Proflexion in die objektivierenden Wege der Verfremdung und des Beschlusses, sowie der Symprojektierung und der Erwartung einzuleiten und so in so etwas wie Handlungsobjektivität umzusetzen.
Kurt Röttgers [1]
Was bedeutet "Geschichte"?
Bevor man Gerhard Willekes Buch "Geschichte
des deutschen Arbeiterschach" adäquat kritisieren
und die Kritik verstehen kann, sollte man, so glaube
ich, zwei, drei Sätze – es werden immer zu
wenig sein – über das Problem der Geschichte
fallen lassen.
Wenn es einen gefährlicheren Job
als den des Philosophen gibt – "Der Philosoph
ist nicht Experte, sondern der Stuntman des Experten:
sein Double fürs Gefährliche" [2] –
dann ist es der des Historikers. Um ihn erfolgreich,
d.h. risikoarm ausüben zu können, genügt
es nicht, "die Fakten" erkundet zu haben,
man muss vielmehr schon wissen oder zumindest so tun,
als hätte man dieses Wissen, was "Geschichte"
eigentlich ist – die Philosophen dürfen hier
noch Ahnungslosigkeit mimen – und dies setzt unter
anderem und vor allem für den Historiker die Kenntnis
der Geschichte der Geschichte voraus, die selbst
eine sehr aufschlussreiche Geschichte ist. Wer eine
Geschichte schreibt, sollte sich der Geschichte der
Geschichte und der Philosophie der Geschichte bewusst
sein, das gilt für den Autor von "Weltgeschichtlichen
Betrachtungen" (Burckhardt), oder einer "Morphologie
der Weltgeschichte" (Spengler) oder einer Universalgeschichte,
für denjenigen Autoren also, der die Geschichte
verfasst oder über "Ursprung und Ziel der
Geschichte" (Jaspers), den "Sinn der Geschichte"
(Berdjajew) nachdenkt weit mehr, als für den Verfasser
einer Mikrogeschichte wie der dreifach eingeengten "Geschichte
des deutschen Arbeiterschach", aber selbst dieser
hat sich die geschichtsphilosophische Verantwortung
bewusst zu machen. Geschieht dies nicht, so wird der
Text unbewusst verortet – was viel schlimmer ist,
als ein Lokalisationsfehler -, der Autor wird von seinem
Text übermannt.
Der Begriff der Geschichte selbst ist
ambivalent – "Geschichte ist in eins Geschehen
und Selbstbewusstsein dieses Geschehens, Geschichte
und Wissen von Geschichte" [3] -, aber ganz gleich,
welcher historischen Schule man sich zugehörig
fühlt, wird man die Geschichte als nachträglichen
Sinnzusammenhang des Geschehenen begreifen dürfen,
auch wenn der Sinn stets uneinholbar vorauseilt oder
aber gar nicht existiert: "Das Problem der Geschichte
ist innerhalb ihres eigenen Bereiches nicht zu lösen.
Geschichtliche Ereignisse als solche enthalten nicht
den mindesten Hinweis auf einen umfassenden, letzten
Sinn. Die Geschichte hat kein letztes Ergebnis" [4]
.
Arthur C. Danto hat in seinem bahnbrechenden
Werk "Analytische Philosophie der Geschichte"
zwischen substantialistischer und analytischer Geschichtsphilosophie
und Geschichtsschreibung unterschieden. Erstere stellt
den Anspruch, darzulegen, was in der Vergangenheit geschehen
ist, letztere widmet sich dem Verständnis der Schreibung
der Geschichte und stößt zwangsläufig
auf das Paradox, dass der Historiker selbst Teil der
Historie ist, da er diese erst konstituiert, indem er
das Gewesene strukturiert. Geschichtsschreibung unterliegt
narrativen Gesetzmäßigkeiten, sprich der
Logik der Sprache und hat demzufolge primär sprachanalytische
Implikationen. Geschichte kann aber selbst nicht anders
denn als Geschichtsschreibung/-sprechung erinnert werden.
Daraus ergibt sich zum einen die absolute Notwendigkeit
der Geschichte als auch die Unmöglichkeit ihrer
Darstellung. Die konstitutive Zeit der Geschichte ist
nicht die Vergangenheit, wie man glauben möchte,
sondern die Zukunft: Ob und wie ein Ereignis geschichtlich
relevant ist, sein wird und gewesen sein wird, wird
stets die Zukunft zu zeigen haben. Geschichte muss sich
daher sowohl als Historie als auch als Fiktion begreifen,
sie kann sinnvollerweise nur im (Gestus des) Futur II
geschrieben werden und ist nie vollendet; ist sie vollendet,
dann ist sie nicht mehr [5].
Solange Geschichte zu schreiben ist,
gleich, ob vor substantialistischem oder analytischem
Horizont, und unerachtet der Größe des historisch
zu betrachtenden Zeitraums, gilt, was Jaspers apodiktisch
feststellt: "Es kommt darauf an, die Vielfachheit
dieser Linie, Gestalten, Einheiten zu erfassen, aber
offen zu bleiben für das darüber Hinausliegende,
in dem diese Phänomene stattfinden
" [6]
.
Diese intrinsische Forderung wird durch
eine externe Verantwortung ergänzt, die in der
Bedeutung der Geschichte als identitätsstiftendem
Faktor gründet, denn wer jemand oder was etwas
ist, lässt sich nur historisch erklären. Historische
Identität sichert vom anderen abgrenzende Individualität,
sprich: Einmaligkeit, klärt "über Richtung
des eigenen Tuns und Wollens" [7] auf und trägt
daher schweres moralisches Gepäck mit sich und
leistet wesentliche Kompensationsaufgaben im Angesicht
der Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Letztendlich
stiftet sich die Identität nicht über das
tatsächlich Gewesene, sondern über dem dies
darstellende Erzählen. Geschichte heißt per
definitionem Geschichte(n) erzählen. Jede dieser
Geschichten ist kausal-logisch, temporal, vor allem
aber linguistisch nach vorn und hinten offen, d.h. mit
anderen Geschichten als Gegebenheiten und Möglichkeiten
verknüpft. Entscheidend ist also, dass und wie
Geschichte erzählt wird; history ist story, der
Historiker ist Geschichtenerzähler: "Die Rolle
der Erzählungen in der Geschichte sollte nunmehr
klar sein. Sie werden verwendet, um Veränderungen
zu erklären, und zwar – was überaus charakteristisch
für sie ist – umfassende Veränderungen
Es ist die Aufgabe der Geschichte, uns diese Veränderungen
offenbar zu machen, die Vergangenheit zu zeitlichen
Ganzheiten zu organisieren und diese Veränderungen
gleichzeitig mit der Erzählung dessen, was sich
zugetragen hat, zu erklären – und sei es unter
Zuhilfenahme jener Art der zeitlichen Perspektive, die
linguistisch in erzählenden Sätzen widergespiegelt
wird" [8].
Zur "Geschichte des deutschen Arbeiterschach"
Wir müssen
damit brechen, dass Politik nicht in die Sportvereine
gehört, sie gehört auch dorthin, und muss
helfen die Arbeiter zu Revolutionären zu erziehen.
Es gibt nur dann keine Meinungsverschiedenheiten mehr,
wenn sie alle einer Meinung sind und das muss die revolutionäre
sein, wie sie der Kommunismus predigt.
Diskussionsbeitrag auf dem 1. Bundestag des DAS
Die verhältnismäßig gut
dokumentierte und historiographisch aufgearbeitete Geschichte
des deutschen Schachs leidet unter einem weißen
Fleck: das Arbeiterschach. Fast genau hundert Jahre
nach Gründung des ersten deutschen Arbeiterschachvereins,
1903 in Brandenburg, liegt nun eine ambitionierte Arbeit
zum Thema vor, die verspricht, jene Defizite aufzuarbeiten,
die die wenigen Vorgänger (Hellmund, Petzold, Denecke)
zurückließen. Ihr Verfasser, Gerhard Willeke,
konnte die Arbeit nicht zu Ende führen, er starb
im Oktober 2001. Das trotzdem vorliegende und "fast
fertiggestellte Buch ist nun ein Nachlass geworden"
(9).
Es ist keine Frage, das im März
2002 beim von Godehard Murkisch geleiteten Verlag herausgegebene
Buch (http://www.nightrider-unlimited.de)
hat alle Berechtigung, auch im unvollendeten Zustand
veröffentlicht zu werden, auch wenn es nicht genügt,
den weißen Fleck zu tilgen. Man kann nur darüber
spekulieren, ob Willeke bei Vollendung des Projektes
in der Lage gewesen wäre, diese Arbeit besser zu
leisten, aber da es methodisch krankt, darf das eher
bezweifelt werden. Das beginnt bereits bei der Vermischung
von "eigener Biographie, großer Liebe zum
Schachspiel und historischem Interesse" (9); keine
allzu gute Ausgangssituation für die historische
Forschung, die zuviel Liebe und biographische Involviertheit
nur bei absoluter Souveränität des Autors
verkraftet. Noch entscheidender aber ist der methodische
Widerspruch zwischen dem Anspruch, "die Geschichte
der Arbeiter-Schachbewegung umfassend darzustellen"
und zugleich "möglichst viele Arbeiterschachspieler
selbst zu Wort kommen zu lassen, um ihr Denken und Fühlen
dem heutigen Leser zu vermitteln" (10) – die
Differenz von Geschichte und Chronik.
Was Willeke nachfolgend reproduziert
liest sich phasenweise spannend wie ein Krimi, vor allem
hinsichtlich der politischen Auseinandersetzungen innerhalb
des "Deutschen Arbeiter Schachbundes" (DAS).
An dieser Stelle erlangt die Arbeit auch umfassenderes
Interesse, denn der verbandsinterne Kampf zwischen "Rechtssozialisten"
und Kommunisten, zwischen SPD-nahen und USPD/KPD-nahen
Mitgliedern, stellt nichts Geringeres dar als ein Spiegelbild
der politischen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung
und die hat in der Tat bis heute nichts von ihrer Faszination
und von ihrem Lehrreichtum verloren. Trotz dieser internen
Zwistigkeiten, die schließlich zum Scheitern der
Bewegung – im Großen wie im Kleinen - führen
wird, ist die Geschichte des DAS eine Erfolgsstory.
Stärkstes und alleiniges Argument Willekes dafür
ist der pure numerische Fakt der Mitgliederzahlen. Rasch
und stetig stieg die Zahl der schachspielenden und vereinsgebundenen
Arbeiter an, wurde lediglich durch die Wirren des 1.
Weltkrieges unterbrochen, um danach erneut anzusteigen.
Zu seinen besten Zeiten vereinigte der DAS mehr als
11000 Mitglieder, deutlich mehr als der Deutsche Schachbund
je vorweisen konnte.
Doch war der Wurm schon an der Wurzel.
Robert Oehlschläger (Berlin), der äußerst
verdienstvolle Gründer des ersten Arbeiterschachklubs,
rechnete sich der "revolutionären" Arbeiterbewegung
zu und als es 1910 zu ersten Vereinigungsbestrebungen
der mittlerweile über 20 Vereine kam, da wurde
schon in einem von Oehlschläger beeinflussten Fragebogen
nach der politischen Gesinnung gefragt, was die Gemüter
stark erregte. Auf der Gründungsveranstaltung 1912
in Nürnberg kam es dann zu heftigen Debatten; dieser
Abschnitt gehört zum Besten des Buches. Der sozialdemokratische
Gegenspieler war der Münchener Tischlermeister
Max Wingefeld – beide führten Fraktionen an.
Oehlschlägers zwischenzeitlicher Triumph endete
1919 auf dem Chemnitzer Bundestag, wo sein Antrag mehrheitlich
abgelehnt wurde, dass in den Bundesvorstand "nur
solche Mitglieder gewählt werden, die auf dem Boden
des revolutionären Klassenkampfes stehen. Rechtssozialisten
sind ausgeschlossen.
. Mitglieder die einem dem
Bund angeschlossenen Verein angehören, dürfen
nicht Mitglieder in einem bürgerlichen Verein sein"
(69) und auch keinen spielerischen Kontakt zu diesen
pflegen. Von da an übernimmt der bedächtigere
Alfred Gläser (Chemnitz) das Zepter und führt
den DAS bis 1933, dem Jahr seiner Zerschlagung. Diese
dramatischen Auseinandersetzungen sind hervorragend
dokumentiert. Die dramatischen Effekte freilich liegen
in der Sache selbst.
Dort, wo Willeke in seiner Rolle als
Historiker erzählend eingreift, geschieht dies
oft recht plump (z.B.: "Was einst als Abgrenzung
gegenüber bürgerlichen Schachspielern begonnen
hatte, erwies sich nun als Bumerang, der die Arbeiterschachspieler
in Anhänger der SPD und der KPD spaltete, die sich
unversöhnlich gegenüberstanden und nicht mehr
zu einer Einigung fähig waren. Einen wesentlichen
Anteil daran hatte auch die Weltwirtschaftskrise mit
dem gewaltigen Anstieg der Arbeitslosigkeit auch in
Arbeiterkreisen. Man suchte nach Schuldigen dafür
und hatte viel Zeit, sich gegenseitig anzugiften".
S. 232) und hilft selten anstehende Fragen aufzuklären
oder überhaupt Probleme zu benennen. Meist beschränkt
er sich darauf, das Originalzitat in eigenen Worten
zu wiederholen, anstatt erklärend, deutend, verstehend,
systematisierend, hinweisend, verknüpfend einzugreifen.
Willeke hat die Erzählfäden nicht in der Hand.
Ringt er sich doch zu Wertungen durch, so sind diese
mitunter tendenziös (pro SPD) und ermangeln unbedingt
notwendiger Objektivität (z.B.: 157, 228). Eine
Einordnung in größere Zusammenhänge
erfolgt fast nie und wenn doch, dann in Form von weiteren
Zitaten aus einem Geschichtsbuch von 1930!, das im Übrigen
das einzige übergreifende zu Rate gezogene Werk
zu sein scheint, oder aber die historischen Einordnungen
erfolgen an vollkommen anderem Ort (so erfährt
man erst auf S. 221, dass Oehlschläger auch Vorsitzender
des Berliner Sportkartells war, eine Information die
ganz wesentlich ist, diese wichtige historische Persönlichkeit
zu verstehen). Störend wirkt auch, wenn Willeke
andere, bessere Autoren kritisiert, etwa Manfred von
Fondern (213), dessen Interpretation, dass die 1928
erfolgte Spaltung des DAS vor allem "auf Betreiben
der SPD-Führung" erfolgte, er verwirft, obwohl
die fleißig zusammengetragenen Dokumente genau
diesen Schluss nahe legen, oder aber wenn er seitenweise
Joachim Petzold zitiert, um in Detailfragen zu nörgeln.
Dabei stellt der Petzold gewidmete Abschnitt –
der natürlich nur aus Zitaten besteht – gewissermaßen
das Herzstück der Kompilation dar, denn da argumentiert
endlich ein Historiker von Rang und erst an dieser Stelle
(310-316) werden viele Zusammenhänge und Bedeutungen
klar. Willekes mangelnde Kritikfähigkeit, die nicht
intentional ist – das muss man zur Verteidigung
sagen -, macht sich in einem dritten Punkt bemerkbar,
dort, wo er nicht in der Lage ist, das Wesentliche vom
Unwesentlichen zu scheiden (Kritik kommt von grch. krinein
= scheiden, trennen). Es ist etwa nicht einzusehen,
weshalb ganze Satzungen und Konferenztagesabläufe
(81ff.), Spielordnungen (143f.), Ausschreibungen (147)
oder Mitgliederlisten des Arbeiter-Schachklubs Geyer
unkommentiert wiedergegeben werden. Überhaupt reduziert
sich die "Geschichte des Arbeiterschach" vordergründig
auf die Geschichte der Bundestage des DAS, ganz davon
zu schweigen, dass unorganisierte Arbeiterschachspieler
mit keiner Silbe erwähnt werden.
Am schlimmsten jedoch leidet das Buch
unter den unzähligen nervigen Wiederholungen, in
denen sich Willekes Arbeitsweise wohl widerspiegelt,
der vermutlich aufsatzweise niederschrieb ohne die jeweiligen
Aufsätze inhaltlich aufeinander abzustimmen. Das
wenige, was er zu sagen hat, sagt er daher zig Mal und
auch die Quellen werden nicht selten zweifach, dreifach
zitiert.
Worauf diese Kritik hinaus will, dürfte
nun klar sein; es geht ihr nicht um die zahlreichen
kleinen Fehler und Ungenauigkeiten (die schon beim fehlenden
Genitiv-s im Titel beginnen), um die mangelnden Quellenverweise,
die Druck- und Schreibfehler, die Sachfehler ("Paul
Lassalle") oder die schlechte Widergabequalität
der Abbildungen, sondern darum, dass es sich um alles
andere als eine Geschichte handelt! Nichts von dem,
was vom Historiker verlangt wird, leistet Willeke und
das ist – wir wiederholen es – in den paradigmatischen
Worten Diltheys: "Freudige Erzählkunst, bohrende
Erklärung, Anwendung des systematischen Wissens
auf sie, Zerlegung in einzelne Wirkungszusammenhänge
und Prinzip der Entwicklung, diese Momente summieren
sich und verstärken sich untereinander" [9].
Bei einem Buch, das zu 70, 80 Prozent
aus Zitaten besteht (mitunter über drei, fünf,
acht Seiten), kann das schon formal nicht überraschen.
Andererseits liegt darin die Stärke des Bandes:
man muss Willeke für die fleißige Sammlung
oft schwer aufzufindender signifikanter Dokumente (darunter
z.B. Ein Bericht über einen Vortrag Laskers zum
Arbeiterschach!) danken. Nennen wir es also besser Chronik
(wenngleich der chronologische Verlauf zu wünschen
übrig lässt) oder Materialsammlung oder Dokumentation
oder einfach "Zur Geschichte des deutschen Arbeiterschachs"
und man wird das Buch – gedämpft euphorisch
- begrüßen dürfen. Es ist auch als solches
bei weitem nicht vollständig und nicht optimal
organisiert, aber es bietet doch einiges, wovon ein
Fachhistoriker wird ausgehen können. Da es als
solches bislang einzigartig ist, kommt der Interessent
wohl nicht daran vorbei.
Anhang:
Der Vorteil einer Materialsammlung ist
die interpretative Offenheit. Der Leser hat die Möglichkeit,
sich selbst als Historiker zu betätigen, seinen
eigenen Kopf anzustrengen, um Strukturen wahrzunehmen.
Warum wollten und sollten Arbeiter organisiert
Schach spielen? Neben der ideologischen Abgrenzung zur
bürgerlichen Welt, taucht immer wieder folgender
Grund auf: "
Schach als edelste und billigste
Unterhaltung für die Proletarier, die geeignet
sei das geisttötende und öde Karten- und Würfelspiel
zu verdrängen und vom Alkoholgenuss abzuhalten"
(35; Oehlschläger), und weiter: "Der Zweck
sei doch der, die Arbeiter vom Biertrinken und Kartenspielen
abzulenken und zum Nachdenken anzuregen" (36).
Vor allem in bitteren Zeiten, etwa im Krieg, kam hinzu:
"Wenn irgendetwas, so ist es das Schachspiel, das
uns, wenn auch nur für kurze Zeit, die Leiden der
Gegenwart vergessen macht" (62).
Unter dem prägenden Eindruck des
Krieges, vor allem aber der revolutionären Ereignisse
in Russland und den deutlich spürbaren revolutionären
Entwicklungen in Deutschland, verschärft sich der
Ton bald deutlich, Klassenkämpfer- und Solidarparolen
bestimmen: "Sache des Schachklubs wird und muss
es sein, die hier zurückflutenden Massen in großen
Sammelbassins
aufzufangen und in das ruhige der
Spielabende zu leiten und nun hier wirklich veredelnd
zu wirken. Weiter ist eine wichtige Gegenwartsaufgabe
auch die, die durch den Arbeitsmangel mit sehr verkürzten
Schichten Arbeitenden, als auch die große Schar
der Arbeitslosen durch eine zweckmäßige Unterhaltung
über die schlechte Zeit hinwegzuhelfen.
aber
nicht Schachfanatiker wollen wir heranbilden, sondern
durch das Schach bei der Masse die Freude am selbständigen
Denken erwecken, um so zu unserem Teile an den Voraussetzungen
einer sozialistischen Republik mitzuarbeiten" (65,
Kaßler).
Oehlschläger agitiert dann fast
schon im Leninschen Stile: "An alle Arbeiter-Schachspieler!
Trotz der politischen Wirren, der wirtschaftlichen Kämpfe,
der tausendmal verfluchten Zersplitterung des Proletariats
eilen dem Arbeiter-Schachbunde viele neue Mitglieder
zu. Warum? Um im Kreise der Gesinnungsgenossen einige
Stunden am Schachbrett dem Weltgetriebe entrückt
zu sein, um die durch die politischen Geschehnisse jetzt
aufgepeitschten Nerven zu beruhigen, um auf eine kurze
Spanne Zeit sich den Schönheiten und dem Zauber
im Schach restlos hingeben zu können. Und das ist
recht so. Der Arbeiter braucht jetzt mehr als je eine
zeitweilig ablenkende vernünftige Unterhaltung,
die aber trotzdem den Geist rege erhält. Hierzu
ist das Schach mit seinen Kombinationen, Rätseln
und Tiefen am allergeeignetsten. Leider wird oft die
Beschäftigung mit Schach von den Parteifanatikern
bekämpft, weil es ihrer Meinung nach von der Parteitätigkeit
abzieht.
Die Arbeiter-Schachbewegung marschiert,
das Schach ist in der der Arbeiterschaft verankert"
(66). Schließlich wird das Schach auch in weitgreifendere
Gesellschaftsanalysen eingebettet und erhält mit
diesen internationalistischen und Missionscharakter:
"Das Schach ist international, kosmopolitisch,
es verbindet die Geister ohne Unterschied der Rasse,
Nation oder Konfession, und hat somit eine völkervereinigende
Sendung, deren Erfüllung auf dem Wege ist.
Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung mit ihrer
Mechanisierung droht die Arbeiter zu seelenlosen Maschinen
zu degradieren. Eingespannt in das Alltagsjoch ohne
Abwechslung, in ewiger Monotonie wird der Geist allmählich
abgestumpft und ertötet. Als Gegengewicht hierzu
ist das Schachspiel wie geschaffen, den Geist elastisch
zu erhalten.
Wir betrachten das Schachspiel als
ein Mittel, die Arbeiterschaft auf ein geistig höheres
Niveau zu heben. Dem Kartenspiel mit seinen demoralisierenden
Trinksitten, dem Spiel um schnöden materiellen
Gewinn überhaupt, dem wollen wir das charakterveredelnde
Schachspiel entgegenstellen" (282).
Dies alles scheint "das edle Schachspiel"
problemlos vertragen zu können, jede politische
Instrumentalisierung verzeiht es: Es ist wie eine billige
Hure, die sich jedem bereitwillig hingibt
Daher
kann es kaum überraschen, dieselben Argumente in
fast den gleichen Worten wenige Jahre später zu
vernehmen, diesmal im Dienste nationalsozialistischer
Interessen (1933 in der "deutschen Schachzeitung"):
"Es handelt sich darum, das Schachspiel in diesen
Dienst einzuordnen, weil es geeignet ist, nicht nur
die geistigen Kräfte zu stärken, sondern auch
Tugenden zu wecken und zu festigen, die für den
Aufbau des neuen Staates notwendig sind: Kampfesfreude,
Wagemut, Opferwilligkeit, Ausdauer, Ritterlichkeit,
brüderliche Gesinnung" (304). Wenig später
bringt es der niedersächsische "Schachführer"
Otto Fuß auf die eingängige Formel: "Das
geistige Wehrspiel muss zum Nationalspiel der Deutschen
werden!" (309).
J Aber
ist es denn nicht eigentlich ein demokratisches Spiel?!
J
(Gerhard Willeke: Geschichte des deutschen
Arbeiterschach. 343 Seiten, Nightrider Unlimited, Treuenhagen
2002)
andere Rezensionen:
--- Jörg Seidel, 28.01.2003 ---
[1]
Kurt Röttgers: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte
und Systematik. Freiburg/München 1990. S. 281
[2] Odo Marquard wiederholt
diesen Satz immer wieder gerne, z.B. in: Abschied vom
Prinzipiellen. Stuttgart 1991. S. 39
[3] Karl Jaspers: Vom Ursprung
und Ziel der Geschichte. München 1963 (1949). S.
290
[4] Karl Löwith: Weltgeschichte
und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen
der Geschichtsphilosophie. Stuttgart/Berlin/Köln
1990 (1949). S. 175
[5] der Gedanke wird ausführlich
erläutert in: Jörg
Seidel: Ondologie Fanomenologie Kynethik. Essen
1999. S. 43-50
[6] Karl Jaspers: a.a.O.
S. 322
[7] Emil Angehrn: Geschichtsphilosophie.
Stuttgart/Berlin/Köln 1991. S. 183
[8] Arthur C. Danto: Analytische
Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1990 (1965). S.
404f.
[9] Wilhelm Dilthey: Der
Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften.
Frankfurt 1981. S. 201
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.
|
|