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LITERATUR
28. Januar 2003

Gerhard Willeke:
"Geschichte des deutschen Arbeiterschach"

Wenn Texte und Handeln, insbesondere dann auch Geschichtentexte, die vom Handeln handeln, Macht-Texte mit dem Ziel der Handlungsermächtigung, eng miteinander verwoben sind, ohne dass man schnell mit Identifizierungen beider Sphären arbeiten dürfte, dann muss hier wohl der Umschlagplatz des kommunikativen Textes sein. An ihm leisten es die Geschichten, mittels der sozialen und der temporalen Reflexion auf dem objektivierenden Weg der Verständigung und Synchronisation historische Objektivität als Intertemporalität und Intersubjektivität zugleich zu erzeugen und sie mittels sozialer und temporaler Proflexion in die objektivierenden Wege der Verfremdung und des Beschlusses, sowie der Symprojektierung und der Erwartung einzuleiten und so in so etwas wie Handlungsobjektivität umzusetzen.

Kurt Röttgers [1]


Was bedeutet "Geschichte"?

Bevor man Gerhard Willekes Buch "Geschichte des deutschen Arbeiterschach" adäquat kritisieren und die Kritik verstehen kann, sollte man, so glaube ich, zwei, drei Sätze – es werden immer zu wenig sein – über das Problem der Geschichte fallen lassen.

Wenn es einen gefährlicheren Job als den des Philosophen gibt – "Der Philosoph ist nicht Experte, sondern der Stuntman des Experten: sein Double fürs Gefährliche" [2] – dann ist es der des Historikers. Um ihn erfolgreich, d.h. risikoarm ausüben zu können, genügt es nicht, "die Fakten" erkundet zu haben, man muss vielmehr schon wissen oder zumindest so tun, als hätte man dieses Wissen, was "Geschichte" eigentlich ist – die Philosophen dürfen hier noch Ahnungslosigkeit mimen – und dies setzt unter anderem und vor allem für den Historiker die Kenntnis der Geschichte der Geschichte voraus, die selbst eine sehr aufschlussreiche Geschichte ist. Wer eine Geschichte schreibt, sollte sich der Geschichte der Geschichte und der Philosophie der Geschichte bewusst sein, das gilt für den Autor von "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" (Burckhardt), oder einer "Morphologie der Weltgeschichte" (Spengler) oder einer Universalgeschichte, für denjenigen Autoren also, der die Geschichte verfasst oder über "Ursprung und Ziel der Geschichte" (Jaspers), den "Sinn der Geschichte" (Berdjajew) nachdenkt weit mehr, als für den Verfasser einer Mikrogeschichte wie der dreifach eingeengten "Geschichte des deutschen Arbeiterschach", aber selbst dieser hat sich die geschichtsphilosophische Verantwortung bewusst zu machen. Geschieht dies nicht, so wird der Text unbewusst verortet – was viel schlimmer ist, als ein Lokalisationsfehler -, der Autor wird von seinem Text übermannt.

Der Begriff der Geschichte selbst ist ambivalent – "Geschichte ist in eins Geschehen und Selbstbewusstsein dieses Geschehens, Geschichte und Wissen von Geschichte" [3] -, aber ganz gleich, welcher historischen Schule man sich zugehörig fühlt, wird man die Geschichte als nachträglichen Sinnzusammenhang des Geschehenen begreifen dürfen, auch wenn der Sinn stets uneinholbar vorauseilt oder aber gar nicht existiert: "Das Problem der Geschichte ist innerhalb ihres eigenen Bereiches nicht zu lösen. Geschichtliche Ereignisse als solche enthalten nicht den mindesten Hinweis auf einen umfassenden, letzten Sinn. Die Geschichte hat kein letztes Ergebnis" [4] .

Arthur C. Danto hat in seinem bahnbrechenden Werk "Analytische Philosophie der Geschichte" zwischen substantialistischer und analytischer Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung unterschieden. Erstere stellt den Anspruch, darzulegen, was in der Vergangenheit geschehen ist, letztere widmet sich dem Verständnis der Schreibung der Geschichte und stößt zwangsläufig auf das Paradox, dass der Historiker selbst Teil der Historie ist, da er diese erst konstituiert, indem er das Gewesene strukturiert. Geschichtsschreibung unterliegt narrativen Gesetzmäßigkeiten, sprich der Logik der Sprache und hat demzufolge primär sprachanalytische Implikationen. Geschichte kann aber selbst nicht anders denn als Geschichtsschreibung/-sprechung erinnert werden. Daraus ergibt sich zum einen die absolute Notwendigkeit der Geschichte als auch die Unmöglichkeit ihrer Darstellung. Die konstitutive Zeit der Geschichte ist nicht die Vergangenheit, wie man glauben möchte, sondern die Zukunft: Ob und wie ein Ereignis geschichtlich relevant ist, sein wird und gewesen sein wird, wird stets die Zukunft zu zeigen haben. Geschichte muss sich daher sowohl als Historie als auch als Fiktion begreifen, sie kann sinnvollerweise nur im (Gestus des) Futur II geschrieben werden und ist nie vollendet; ist sie vollendet, dann ist sie nicht mehr [5].

Solange Geschichte zu schreiben ist, gleich, ob vor substantialistischem oder analytischem Horizont, und unerachtet der Größe des historisch zu betrachtenden Zeitraums, gilt, was Jaspers apodiktisch feststellt: "Es kommt darauf an, die Vielfachheit dieser Linie, Gestalten, Einheiten zu erfassen, aber offen zu bleiben für das darüber Hinausliegende, in dem diese Phänomene stattfinden…" [6] .

Diese intrinsische Forderung wird durch eine externe Verantwortung ergänzt, die in der Bedeutung der Geschichte als identitätsstiftendem Faktor gründet, denn wer jemand oder was etwas ist, lässt sich nur historisch erklären. Historische Identität sichert vom anderen abgrenzende Individualität, sprich: Einmaligkeit, klärt "über Richtung des eigenen Tuns und Wollens" [7] auf und trägt daher schweres moralisches Gepäck mit sich und leistet wesentliche Kompensationsaufgaben im Angesicht der Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Letztendlich stiftet sich die Identität nicht über das tatsächlich Gewesene, sondern über dem dies darstellende Erzählen. Geschichte heißt per definitionem Geschichte(n) erzählen. Jede dieser Geschichten ist kausal-logisch, temporal, vor allem aber linguistisch nach vorn und hinten offen, d.h. mit anderen Geschichten als Gegebenheiten und Möglichkeiten verknüpft. Entscheidend ist also, dass und wie Geschichte erzählt wird; history ist story, der Historiker ist Geschichtenerzähler: "Die Rolle der Erzählungen in der Geschichte sollte nunmehr klar sein. Sie werden verwendet, um Veränderungen zu erklären, und zwar – was überaus charakteristisch für sie ist – umfassende Veränderungen… Es ist die Aufgabe der Geschichte, uns diese Veränderungen offenbar zu machen, die Vergangenheit zu zeitlichen Ganzheiten zu organisieren und diese Veränderungen gleichzeitig mit der Erzählung dessen, was sich zugetragen hat, zu erklären – und sei es unter Zuhilfenahme jener Art der zeitlichen Perspektive, die linguistisch in erzählenden Sätzen widergespiegelt wird" [8].

 

Zur "Geschichte des deutschen Arbeiterschach"

Wir müssen damit brechen, dass Politik nicht in die Sportvereine gehört, sie gehört auch dorthin, und muss helfen die Arbeiter zu Revolutionären zu erziehen. Es gibt nur dann keine Meinungsverschiedenheiten mehr, wenn sie alle einer Meinung sind und das muss die revolutionäre sein, wie sie der Kommunismus predigt.

Diskussionsbeitrag auf dem 1. Bundestag des DAS

 

Die verhältnismäßig gut dokumentierte und historiographisch aufgearbeitete Geschichte des deutschen Schachs leidet unter einem weißen Fleck: das Arbeiterschach. Fast genau hundert Jahre nach Gründung des ersten deutschen Arbeiterschachvereins, 1903 in Brandenburg, liegt nun eine ambitionierte Arbeit zum Thema vor, die verspricht, jene Defizite aufzuarbeiten, die die wenigen Vorgänger (Hellmund, Petzold, Denecke) zurückließen. Ihr Verfasser, Gerhard Willeke, konnte die Arbeit nicht zu Ende führen, er starb im Oktober 2001. Das trotzdem vorliegende und "fast fertiggestellte Buch ist nun ein Nachlass geworden" (9).

Es ist keine Frage, das im März 2002 beim von Godehard Murkisch geleiteten Verlag herausgegebene Buch (http://www.nightrider-unlimited.de) hat alle Berechtigung, auch im unvollendeten Zustand veröffentlicht zu werden, auch wenn es nicht genügt, den weißen Fleck zu tilgen. Man kann nur darüber spekulieren, ob Willeke bei Vollendung des Projektes in der Lage gewesen wäre, diese Arbeit besser zu leisten, aber da es methodisch krankt, darf das eher bezweifelt werden. Das beginnt bereits bei der Vermischung von "eigener Biographie, großer Liebe zum Schachspiel und historischem Interesse" (9); keine allzu gute Ausgangssituation für die historische Forschung, die zuviel Liebe und biographische Involviertheit nur bei absoluter Souveränität des Autors verkraftet. Noch entscheidender aber ist der methodische Widerspruch zwischen dem Anspruch, "die Geschichte der Arbeiter-Schachbewegung umfassend darzustellen" und zugleich "möglichst viele Arbeiterschachspieler selbst zu Wort kommen zu lassen, um ihr Denken und Fühlen dem heutigen Leser zu vermitteln" (10) – die Differenz von Geschichte und Chronik.

Was Willeke nachfolgend reproduziert liest sich phasenweise spannend wie ein Krimi, vor allem hinsichtlich der politischen Auseinandersetzungen innerhalb des "Deutschen Arbeiter Schachbundes" (DAS). An dieser Stelle erlangt die Arbeit auch umfassenderes Interesse, denn der verbandsinterne Kampf zwischen "Rechtssozialisten" und Kommunisten, zwischen SPD-nahen und USPD/KPD-nahen Mitgliedern, stellt nichts Geringeres dar als ein Spiegelbild der politischen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und die hat in der Tat bis heute nichts von ihrer Faszination und von ihrem Lehrreichtum verloren. Trotz dieser internen Zwistigkeiten, die schließlich zum Scheitern der Bewegung – im Großen wie im Kleinen - führen wird, ist die Geschichte des DAS eine Erfolgsstory. Stärkstes und alleiniges Argument Willekes dafür ist der pure numerische Fakt der Mitgliederzahlen. Rasch und stetig stieg die Zahl der schachspielenden und vereinsgebundenen Arbeiter an, wurde lediglich durch die Wirren des 1. Weltkrieges unterbrochen, um danach erneut anzusteigen. Zu seinen besten Zeiten vereinigte der DAS mehr als 11000 Mitglieder, deutlich mehr als der Deutsche Schachbund je vorweisen konnte.

Doch war der Wurm schon an der Wurzel. Robert Oehlschläger (Berlin), der äußerst verdienstvolle Gründer des ersten Arbeiterschachklubs, rechnete sich der "revolutionären" Arbeiterbewegung zu und als es 1910 zu ersten Vereinigungsbestrebungen der mittlerweile über 20 Vereine kam, da wurde schon in einem von Oehlschläger beeinflussten Fragebogen nach der politischen Gesinnung gefragt, was die Gemüter stark erregte. Auf der Gründungsveranstaltung 1912 in Nürnberg kam es dann zu heftigen Debatten; dieser Abschnitt gehört zum Besten des Buches. Der sozialdemokratische Gegenspieler war der Münchener Tischlermeister Max Wingefeld – beide führten Fraktionen an. Oehlschlägers zwischenzeitlicher Triumph endete 1919 auf dem Chemnitzer Bundestag, wo sein Antrag mehrheitlich abgelehnt wurde, dass in den Bundesvorstand "nur solche Mitglieder gewählt werden, die auf dem Boden des revolutionären Klassenkampfes stehen. Rechtssozialisten sind ausgeschlossen. …. Mitglieder die einem dem Bund angeschlossenen Verein angehören, dürfen nicht Mitglieder in einem bürgerlichen Verein sein" (69) und auch keinen spielerischen Kontakt zu diesen pflegen. Von da an übernimmt der bedächtigere Alfred Gläser (Chemnitz) das Zepter und führt den DAS bis 1933, dem Jahr seiner Zerschlagung. Diese dramatischen Auseinandersetzungen sind hervorragend dokumentiert. Die dramatischen Effekte freilich liegen in der Sache selbst.

Dort, wo Willeke in seiner Rolle als Historiker erzählend eingreift, geschieht dies oft recht plump (z.B.: "Was einst als Abgrenzung gegenüber bürgerlichen Schachspielern begonnen hatte, erwies sich nun als Bumerang, der die Arbeiterschachspieler in Anhänger der SPD und der KPD spaltete, die sich unversöhnlich gegenüberstanden und nicht mehr zu einer Einigung fähig waren. Einen wesentlichen Anteil daran hatte auch die Weltwirtschaftskrise mit dem gewaltigen Anstieg der Arbeitslosigkeit auch in Arbeiterkreisen. Man suchte nach Schuldigen dafür und hatte viel Zeit, sich gegenseitig anzugiften". S. 232) und hilft selten anstehende Fragen aufzuklären oder überhaupt Probleme zu benennen. Meist beschränkt er sich darauf, das Originalzitat in eigenen Worten zu wiederholen, anstatt erklärend, deutend, verstehend, systematisierend, hinweisend, verknüpfend einzugreifen. Willeke hat die Erzählfäden nicht in der Hand. Ringt er sich doch zu Wertungen durch, so sind diese mitunter tendenziös (pro SPD) und ermangeln unbedingt notwendiger Objektivität (z.B.: 157, 228). Eine Einordnung in größere Zusammenhänge erfolgt fast nie und wenn doch, dann in Form von weiteren Zitaten aus einem Geschichtsbuch von 1930!, das im Übrigen das einzige übergreifende zu Rate gezogene Werk zu sein scheint, oder aber die historischen Einordnungen erfolgen an vollkommen anderem Ort (so erfährt man erst auf S. 221, dass Oehlschläger auch Vorsitzender des Berliner Sportkartells war, eine Information die ganz wesentlich ist, diese wichtige historische Persönlichkeit zu verstehen). Störend wirkt auch, wenn Willeke andere, bessere Autoren kritisiert, etwa Manfred von Fondern (213), dessen Interpretation, dass die 1928 erfolgte Spaltung des DAS vor allem "auf Betreiben der SPD-Führung" erfolgte, er verwirft, obwohl die fleißig zusammengetragenen Dokumente genau diesen Schluss nahe legen, oder aber wenn er seitenweise Joachim Petzold zitiert, um in Detailfragen zu nörgeln. Dabei stellt der Petzold gewidmete Abschnitt – der natürlich nur aus Zitaten besteht – gewissermaßen das Herzstück der Kompilation dar, denn da argumentiert endlich ein Historiker von Rang und erst an dieser Stelle (310-316) werden viele Zusammenhänge und Bedeutungen klar. Willekes mangelnde Kritikfähigkeit, die nicht intentional ist – das muss man zur Verteidigung sagen -, macht sich in einem dritten Punkt bemerkbar, dort, wo er nicht in der Lage ist, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden (Kritik kommt von grch. krinein = scheiden, trennen). Es ist etwa nicht einzusehen, weshalb ganze Satzungen und Konferenztagesabläufe (81ff.), Spielordnungen (143f.), Ausschreibungen (147) oder Mitgliederlisten des Arbeiter-Schachklubs Geyer unkommentiert wiedergegeben werden. Überhaupt reduziert sich die "Geschichte des Arbeiterschach" vordergründig auf die Geschichte der Bundestage des DAS, ganz davon zu schweigen, dass unorganisierte Arbeiterschachspieler mit keiner Silbe erwähnt werden.

Am schlimmsten jedoch leidet das Buch unter den unzähligen nervigen Wiederholungen, in denen sich Willekes Arbeitsweise wohl widerspiegelt, der vermutlich aufsatzweise niederschrieb ohne die jeweiligen Aufsätze inhaltlich aufeinander abzustimmen. Das wenige, was er zu sagen hat, sagt er daher zig Mal und auch die Quellen werden nicht selten zweifach, dreifach zitiert.

 

Worauf diese Kritik hinaus will, dürfte nun klar sein; es geht ihr nicht um die zahlreichen kleinen Fehler und Ungenauigkeiten (die schon beim fehlenden Genitiv-s im Titel beginnen), um die mangelnden Quellenverweise, die Druck- und Schreibfehler, die Sachfehler ("Paul Lassalle") oder die schlechte Widergabequalität der Abbildungen, sondern darum, dass es sich um alles andere als eine Geschichte handelt! Nichts von dem, was vom Historiker verlangt wird, leistet Willeke und das ist – wir wiederholen es – in den paradigmatischen Worten Diltheys: "Freudige Erzählkunst, bohrende Erklärung, Anwendung des systematischen Wissens auf sie, Zerlegung in einzelne Wirkungszusammenhänge und Prinzip der Entwicklung, diese Momente summieren sich und verstärken sich untereinander" [9].

Bei einem Buch, das zu 70, 80 Prozent aus Zitaten besteht (mitunter über drei, fünf, acht Seiten), kann das schon formal nicht überraschen. Andererseits liegt darin die Stärke des Bandes: man muss Willeke für die fleißige Sammlung oft schwer aufzufindender signifikanter Dokumente (darunter z.B. Ein Bericht über einen Vortrag Laskers zum Arbeiterschach!) danken. Nennen wir es also besser Chronik (wenngleich der chronologische Verlauf zu wünschen übrig lässt) oder Materialsammlung oder Dokumentation oder einfach "Zur Geschichte des deutschen Arbeiterschachs" und man wird das Buch – gedämpft euphorisch - begrüßen dürfen. Es ist auch als solches bei weitem nicht vollständig und nicht optimal organisiert, aber es bietet doch einiges, wovon ein Fachhistoriker wird ausgehen können. Da es als solches bislang einzigartig ist, kommt der Interessent wohl nicht daran vorbei.

 

Anhang:

Der Vorteil einer Materialsammlung ist die interpretative Offenheit. Der Leser hat die Möglichkeit, sich selbst als Historiker zu betätigen, seinen eigenen Kopf anzustrengen, um Strukturen wahrzunehmen.

Warum wollten und sollten Arbeiter organisiert Schach spielen? Neben der ideologischen Abgrenzung zur bürgerlichen Welt, taucht immer wieder folgender Grund auf: "…Schach als edelste und billigste Unterhaltung für die Proletarier, die geeignet sei das geisttötende und öde Karten- und Würfelspiel zu verdrängen und vom Alkoholgenuss abzuhalten" (35; Oehlschläger), und weiter: "Der Zweck sei doch der, die Arbeiter vom Biertrinken und Kartenspielen abzulenken und zum Nachdenken anzuregen" (36). Vor allem in bitteren Zeiten, etwa im Krieg, kam hinzu: "Wenn irgendetwas, so ist es das Schachspiel, das uns, wenn auch nur für kurze Zeit, die Leiden der Gegenwart vergessen macht" (62).

Unter dem prägenden Eindruck des Krieges, vor allem aber der revolutionären Ereignisse in Russland und den deutlich spürbaren revolutionären Entwicklungen in Deutschland, verschärft sich der Ton bald deutlich, Klassenkämpfer- und Solidarparolen bestimmen: "Sache des Schachklubs wird und muss es sein, die hier zurückflutenden Massen in großen Sammelbassins … aufzufangen und in das ruhige der Spielabende zu leiten und nun hier wirklich veredelnd zu wirken. Weiter ist eine wichtige Gegenwartsaufgabe auch die, die durch den Arbeitsmangel mit sehr verkürzten Schichten Arbeitenden, als auch die große Schar der Arbeitslosen durch eine zweckmäßige Unterhaltung über die schlechte Zeit hinwegzuhelfen. …aber nicht Schachfanatiker wollen wir heranbilden, sondern durch das Schach bei der Masse die Freude am selbständigen Denken erwecken, um so zu unserem Teile an den Voraussetzungen einer sozialistischen Republik mitzuarbeiten" (65, Kaßler).

Oehlschläger agitiert dann fast schon im Leninschen Stile: "An alle Arbeiter-Schachspieler! Trotz der politischen Wirren, der wirtschaftlichen Kämpfe, der tausendmal verfluchten Zersplitterung des Proletariats eilen dem Arbeiter-Schachbunde viele neue Mitglieder zu. Warum? Um im Kreise der Gesinnungsgenossen einige Stunden am Schachbrett dem Weltgetriebe entrückt zu sein, um die durch die politischen Geschehnisse jetzt aufgepeitschten Nerven zu beruhigen, um auf eine kurze Spanne Zeit sich den Schönheiten und dem Zauber im Schach restlos hingeben zu können. Und das ist recht so. Der Arbeiter braucht jetzt mehr als je eine zeitweilig ablenkende vernünftige Unterhaltung, die aber trotzdem den Geist rege erhält. Hierzu ist das Schach mit seinen Kombinationen, Rätseln und Tiefen am allergeeignetsten. Leider wird oft die Beschäftigung mit Schach von den Parteifanatikern bekämpft, weil es ihrer Meinung nach von der Parteitätigkeit abzieht. … Die Arbeiter-Schachbewegung ‚marschiert’, das Schach ist in der der Arbeiterschaft ‚verankert’" (66). Schließlich wird das Schach auch in weitgreifendere Gesellschaftsanalysen eingebettet und erhält mit diesen internationalistischen und Missionscharakter: "Das Schach ist international, kosmopolitisch, es verbindet die Geister ohne Unterschied der Rasse, Nation oder Konfession, und hat somit eine völkervereinigende Sendung, deren Erfüllung auf dem Wege ist. … Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung mit ihrer Mechanisierung droht die Arbeiter zu seelenlosen Maschinen zu degradieren. Eingespannt in das Alltagsjoch ohne Abwechslung, in ewiger Monotonie wird der Geist allmählich abgestumpft und ertötet. Als Gegengewicht hierzu ist das Schachspiel wie geschaffen, den Geist elastisch zu erhalten. … Wir betrachten das Schachspiel als ein Mittel, die Arbeiterschaft auf ein geistig höheres Niveau zu heben. Dem Kartenspiel mit seinen demoralisierenden Trinksitten, dem Spiel um schnöden materiellen Gewinn überhaupt, dem wollen wir das charakterveredelnde Schachspiel entgegenstellen" (282).

Dies alles scheint "das edle Schachspiel" problemlos vertragen zu können, jede politische Instrumentalisierung verzeiht es: Es ist wie eine billige Hure, die sich jedem bereitwillig hingibt… Daher kann es kaum überraschen, dieselben Argumente in fast den gleichen Worten wenige Jahre später zu vernehmen, diesmal im Dienste nationalsozialistischer Interessen (1933 in der "deutschen Schachzeitung"): "Es handelt sich darum, das Schachspiel in diesen Dienst einzuordnen, weil es geeignet ist, nicht nur die geistigen Kräfte zu stärken, sondern auch Tugenden zu wecken und zu festigen, die für den Aufbau des neuen Staates notwendig sind: Kampfesfreude, Wagemut, Opferwilligkeit, Ausdauer, Ritterlichkeit, brüderliche Gesinnung" (304). Wenig später bringt es der niedersächsische "Schachführer" Otto Fuß auf die eingängige Formel: "Das geistige Wehrspiel muss zum Nationalspiel der Deutschen werden!" (309).

 

J Aber ist es denn nicht eigentlich ein demokratisches Spiel?! J

(Gerhard Willeke: Geschichte des deutschen Arbeiterschach. 343 Seiten, Nightrider Unlimited, Treuenhagen 2002)

 

andere Rezensionen:

 

--- Jörg Seidel, 28.01.2003 ---


[1] Kurt Röttgers: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg/München 1990. S. 281
[2] Odo Marquard wiederholt diesen Satz immer wieder gerne, z.B. in: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1991. S. 39
[3] Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1963 (1949). S. 290
[4] Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart/Berlin/Köln 1990 (1949). S. 175
[5] der Gedanke wird ausführlich erläutert in: Jörg Seidel: Ondologie Fanomenologie Kynethik. Essen 1999. S. 43-50
[6] Karl Jaspers: a.a.O. S. 322
[7] Emil Angehrn: Geschichtsphilosophie. Stuttgart/Berlin/Köln 1991. S. 183
[8] Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1990 (1965). S. 404f.
[9] Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt 1981. S. 201


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