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Gedanken zur Ferne im Fernschach
"Im Dasein
liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe."
Martin Heidegger [1]
Das Schachspiel eroberte Europa während
der Zeit des Hochmittelalters. Es blieb, soweit wir
den Quellen trauen dürfen, eine dem Adel vorbehaltene
Betätigung. Die Wettkampfform des Turniers
in moderner Gestalt ist überhaupt erst der ritterlichen
Kultur zu danken. Dort standen sich, nach festen Regeln
eines Ehrenkodex, zwei Rivalen gegenüber –
im ritterlichen Zweikampf, im wechselseitigen Schlagabtausch
verwoben sie sich für einen kurzen Moment zu einem
einheitlichen Gebilde.
Der Kampf im Turnier bestand in einer
Nähe-Erfahrung, die Lanze als Distanzwaffe
erlaubte es, den Gegner auf wenige Meter zu treffen,
der Schwertkampf bedeutete den direktesten Kontakt.
Auch im Kriege, in der Schlacht, hieß den Feind
bekämpfen, ihn zu sehen, zu hören, zu riechen,
zu fühlen. Nicht umsonst wurden frühe Fernwaffen,
wie der Triboc, mit einer Reichweite bis zu 400 Metern,
schon als "teuflisches Werkzeug" [2]
bezeichnet. Man stand dem Feinde Aug in Aug,
man maß ihn mit dem Blick, bevor es zum Kampfe
kam und änderte dementsprechend auch seine Strategie
und Taktik. Das Besiegen eines Feindes aus großer
Distanz gehörte zum Undenkbaren, im Krieg wie im
Schach.
Wenn es eine Analogie zwischen beiden
gibt, Krieg und Schach, dann liegt sie weniger in der
Gewalt und deren Substitution als in der Nähe-Erfahrung.
Auch das Schach lässt sich als wechselseitigen
Schlagabtausch nach einem Kodex definieren, bei dem
sich zwei Gegner für eine kurze Zeit zu einer Sphäre
verweben. Man kann daher, mit ein bisschen gutem Willen,
die These aufstellen, dass die kriegstechnische Entwicklung
mit der schachtechnischen korrespondiert, ohne daraus
auf direkte Abhängigkeiten zu schlussfolgern, es
sei denn, sie ließen sich auf ein Drittes, die
"Ent-fernung" [3]
zurückführen. Im Zuge der terrestrischen Globalisierung
(Schifffahrt, Post, Telegraph, Telefon, Internet etc.)
[4], wurde es erst sinnvoll,
ein räumlich gedehntes Schachspiel überhaupt
zu denken. Wie im Kriege so schuf die neu entdeckte
Fernwirkung auch im spielerischen Ersatz neuartige Gegebenheiten
und Möglichkeiten. Die hehren moralischen Ideale
mussten an Wert, besser an Zuständigkeit verlieren.
Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten wurden plötzlich
möglich ohne Gewissens-, ja Wissensbelastung. Welche
Wirkung die Granate haben wird, ließ sich nur
vermuten, selten verifizieren, aber mit hoher statistischer
Wahrscheinlichkeit ging sie ja doch ins Leere. Das erklärt,
weshalb Hunderttausende aus den großen Schlachten
des vorigen Jahrhunderts zurückkehren konnten,
mit der festen Überzeugung, persönlich nicht
getötet zu haben.
Die ersten erhaltenen Fernschachpartien
fallen, wie z.B. auch die ersten aus Informationsvorsprung
(auf Grund von Fernwirkung) gemachten Börsengewinne
[5], in die Zeit der napoleonischen
Kanonaden, die ersten internationalen Fernschachturniere
hielt man nach dem furchtbaren Schlachten des Ersten
Weltkrieges ab [6]. Sie
alle profitierten vom Gewinn der Ferne durch Technik.
Es bleibt die Frage, ob die Fernpartie wie der Fernkrieg
zum ethikfreien Raum werden mußte. Der Gebrauch
unerlaubter Hilfsmittel wurde nicht mehr als problematisch
angesehen, ja man mußte ihn einrechnen, weil die
Verantwortung in die unerkennbare Ferne projiziert wurde.
Einem Gegner, dem ich nicht mehr direkt antworten kann,
fühle ich mich auch nicht mehr direkt verantwortlich.
Schon die klassische Postkartenpartie stand immer unter
dem Dauerverdacht, gegen eine andere Person, gegen einen
Unbekannten gespielt zu werden; die Ferne gestattete
den Wechsel der Identität oder unterstellte unausgesprochen
den Verdacht.
Wie die Brutalität im Kriege, so
liegen die Ungerechtigkeiten beim Fern-Schach im System
begründet, nicht im Einzelverhalten, weil Entfernung
sich immer mit Entfremdung paart; sie müssen mit
bestimmten Wahrscheinlichkeiten zwangsläufig auftreten.
Wer einen Krieg oder eine Fernschachpartie beginnt,
muß mit ihnen rechnen und jede nachherige moralische
Entrüstung über folternde Soldaten oder schummelnde
Spieler stellt entweder eine verwerfliche Hypokrisie
oder eine bedauerliche Selbsttäuschung dar. Anders
gesagt: den Menschen als schwachen Menschen vorausgesetzt,
muß der Betrug als unverhinderbare Konsequenz
akzeptiert werden, man kann den Menschen schließlich
auch als das Tier, das lügt, definieren [7].
Man sollte also von vornherein vom Fernschachspieler
nicht erwarten, auf den Gebrauch unerlaubter Hilfsmittel
zu verzichten, ebenso wenig wie man vom modernen Kanonier
auf unmittelbare Nächstenliebe hoffen darf. Schach
als Näheerlebnis wurde in Form des Fern-Schachs
und erst recht mithilfe des Computers, letztgültig
ad absurdum geführt. Die neue Qualität liegt
hierin: Im Fern-Schach ist die Ferne und nicht das
Schach konstituierend, im Nahschach – einer
Tautologie, die erst mit dem Fern-Schach eine Halbsignifikanz
erhält –, im Schach hingegen ist nicht die
Nähe, sondern das Schach konstituierend, insofern
das eine im anderen enthalten ist.
--- Jörg Seidel, 29.08.2005 ---
[1]
Martin Heidegger: Sein und Zeit. § 23. Die Räumlichkeit
des In-der-Welt-Seins
[2] Michael Kirchschlager:
Das teuflische Werkzeug - Eine literarische Chronik.
Weißensee 2000
[3] siehe Heidegger. a.a.O
[4] vgl. Peter Sloterdijk:
Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische
Theorie der Globalisierung. Frankfurt/Main 2005
[5] vgl. Stefan Zweig: Die
Weltminute von Waterloo. In: Sternstunden der Menschheit
[6] Klaus Lindörfer:
Großes Schachlexikon. München 1982. S. 90
[7] vgl. Eugen Drewermann:
Ein Plädoyer für die Lüge oder: Vom Unvermögen
zur Wahrheit. In: Psychoanalyse und Moraltheologie.
Bd. 3. S. 199-236
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