RUBRIKEN
Home
Polemik/Aktuelles
Literatur
Philosophie/Psycho
Über den Autor
Summaries &
Translations
SK König Plauen
Mehr Philosophie:
seidel.jaiden.de
PHILOSOPHIE
29. August 2005

Gedanken zur Ferne im Fernschach

"Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe."
Martin Heidegger [1]

 

Das Schachspiel eroberte Europa während der Zeit des Hochmittelalters. Es blieb, soweit wir den Quellen trauen dürfen, eine dem Adel vorbehaltene Betätigung. Die Wettkampfform des Turniers in moderner Gestalt ist überhaupt erst der ritterlichen Kultur zu danken. Dort standen sich, nach festen Regeln eines Ehrenkodex, zwei Rivalen gegenüber – im ritterlichen Zweikampf, im wechselseitigen Schlagabtausch verwoben sie sich für einen kurzen Moment zu einem einheitlichen Gebilde.

Der Kampf im Turnier bestand in einer Nähe-Erfahrung, die Lanze als Distanzwaffe erlaubte es, den Gegner auf wenige Meter zu treffen, der Schwertkampf bedeutete den direktesten Kontakt. Auch im Kriege, in der Schlacht, hieß den Feind bekämpfen, ihn zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen. Nicht umsonst wurden frühe Fernwaffen, wie der Triboc, mit einer Reichweite bis zu 400 Metern, schon als "teuflisches Werkzeug" [2] bezeichnet. Man stand dem Feinde Aug’ in Aug’, man maß ihn mit dem Blick, bevor es zum Kampfe kam und änderte dementsprechend auch seine Strategie und Taktik. Das Besiegen eines Feindes aus großer Distanz gehörte zum Undenkbaren, im Krieg wie im Schach.

Wenn es eine Analogie zwischen beiden gibt, Krieg und Schach, dann liegt sie weniger in der Gewalt und deren Substitution als in der Nähe-Erfahrung. Auch das Schach lässt sich als wechselseitigen Schlagabtausch nach einem Kodex definieren, bei dem sich zwei Gegner für eine kurze Zeit zu einer Sphäre verweben. Man kann daher, mit ein bisschen gutem Willen, die These aufstellen, dass die kriegstechnische Entwicklung mit der schachtechnischen korrespondiert, ohne daraus auf direkte Abhängigkeiten zu schlussfolgern, es sei denn, sie ließen sich auf ein Drittes, die "Ent-fernung" [3] zurückführen. Im Zuge der terrestrischen Globalisierung (Schifffahrt, Post, Telegraph, Telefon, Internet etc.) [4], wurde es erst sinnvoll, ein räumlich gedehntes Schachspiel überhaupt zu denken. Wie im Kriege so schuf die neu entdeckte Fernwirkung auch im spielerischen Ersatz neuartige Gegebenheiten und Möglichkeiten. Die hehren moralischen Ideale mussten an Wert, besser an Zuständigkeit verlieren. Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten wurden plötzlich möglich ohne Gewissens-, ja Wissensbelastung. Welche Wirkung die Granate haben wird, ließ sich nur vermuten, selten verifizieren, aber mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit ging sie ja doch ins Leere. Das erklärt, weshalb Hunderttausende aus den großen Schlachten des vorigen Jahrhunderts zurückkehren konnten, mit der festen Überzeugung, persönlich nicht getötet zu haben.

Die ersten erhaltenen Fernschachpartien fallen, wie z.B. auch die ersten aus Informationsvorsprung (auf Grund von Fernwirkung) gemachten Börsengewinne [5], in die Zeit der napoleonischen Kanonaden, die ersten internationalen Fernschachturniere hielt man nach dem furchtbaren Schlachten des Ersten Weltkrieges ab [6]. Sie alle profitierten vom Gewinn der Ferne durch Technik. Es bleibt die Frage, ob die Fernpartie wie der Fernkrieg zum ethikfreien Raum werden mußte. Der Gebrauch unerlaubter Hilfsmittel wurde nicht mehr als problematisch angesehen, ja man mußte ihn einrechnen, weil die Verantwortung in die unerkennbare Ferne projiziert wurde. Einem Gegner, dem ich nicht mehr direkt antworten kann, fühle ich mich auch nicht mehr direkt verantwortlich. Schon die klassische Postkartenpartie stand immer unter dem Dauerverdacht, gegen eine andere Person, gegen einen Unbekannten gespielt zu werden; die Ferne gestattete den Wechsel der Identität oder unterstellte unausgesprochen den Verdacht.

Wie die Brutalität im Kriege, so liegen die Ungerechtigkeiten beim Fern-Schach im System begründet, nicht im Einzelverhalten, weil Entfernung sich immer mit Entfremdung paart; sie müssen mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten zwangsläufig auftreten. Wer einen Krieg oder eine Fernschachpartie beginnt, muß mit ihnen rechnen und jede nachherige moralische Entrüstung über folternde Soldaten oder schummelnde Spieler stellt entweder eine verwerfliche Hypokrisie oder eine bedauerliche Selbsttäuschung dar. Anders gesagt: den Menschen als schwachen Menschen vorausgesetzt, muß der Betrug als unverhinderbare Konsequenz akzeptiert werden, man kann den Menschen schließlich auch als das Tier, das lügt, definieren [7]. Man sollte also von vornherein vom Fernschachspieler nicht erwarten, auf den Gebrauch unerlaubter Hilfsmittel zu verzichten, ebenso wenig wie man vom modernen Kanonier auf unmittelbare Nächstenliebe hoffen darf. Schach als Näheerlebnis wurde in Form des Fern-Schachs und erst recht mithilfe des Computers, letztgültig ad absurdum geführt. Die neue Qualität liegt hierin: Im Fern-Schach ist die Ferne und nicht das Schach konstituierend, im Nahschach – einer Tautologie, die erst mit dem Fern-Schach eine Halbsignifikanz erhält –, im Schach hingegen ist nicht die Nähe, sondern das Schach konstituierend, insofern das eine im anderen enthalten ist.

 

 

--- Jörg Seidel, 29.08.2005 ---


[1] Martin Heidegger: Sein und Zeit. § 23. Die Räumlichkeit des In-der-Welt-Seins
[2] Michael Kirchschlager: Das teuflische Werkzeug - Eine literarische Chronik. Weißensee 2000
[3] siehe Heidegger. a.a.O
[4] vgl. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt/Main 2005
[5] vgl. Stefan Zweig: Die Weltminute von Waterloo. In: Sternstunden der Menschheit
[6] Klaus Lindörfer: Großes Schachlexikon. München 1982. S. 90
[7] vgl. Eugen Drewermann: Ein Plädoyer für die Lüge oder: Vom Unvermögen zur Wahrheit. In: Psychoanalyse und Moraltheologie. Bd. 3. S. 199-236


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

Impressum
Copyright © 2002 by Christian Hörr
www.koenig-plauen.de