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"Das Schachspiel in philosophischen Hauptwerken"
–
so könnte eine interne Reihe der METACHESS Rubrik
benannt werden, die sich zur Aufgabe macht, in unregelmäßigen
Abständen wichtige Werke der Philosophiegeschichte
vorzustellen, in denen das Schach in irgendeiner Form
eine Rolle spielt. Hauptaugenmerk muss demzufolge auf
dem Werk liegen. Damit wendet sich diese Rubrik vor
allem an die philosophisch interessierten Leser. Um
den vordergründig schachlich Interessierten die
Lektüre zu erleichtern, werden die nicht schachrelevanten
Passagen durch braune Schrift kenntlich gemacht.
Eduard von Hartmann:
Philosophie des Unbewussten
"Losing
hurts more than winning is nice."
Nigel Short
"Die unbewusste
Intelligenz ist allemal zweifellos sicher, das Rechte
zu ergreifen, oder vielmehr der Zweifel kommt ihr niemals
an, und darum ergreift sie fast immer das Rechte im
rechten Moment."
Eduard von Hartmann
Eduard von Hartmann war ein eminent produktiver
Denker. Sein umfangreiches Werk stellt nichts Geringeres
dar als einen umfassenden Systementwurf, den es seit
Hegel in diesem Ausmaß nicht mehr gegeben hatte; ein
derartiges Projekt verlor spätestens mit den vielfältigen
wissenschaftlichen Erkenntnissen zusehends an Attraktivität.
Selbst seine Kritiker kamen zu dem Schluss: "Wer aber
an philosophischen Systemen noch seine Freude haben
kann, der muss zugeben, dass Hartmanns Lebenswerk nicht
Mosaik wurde sondern ein Ganzes, ein Regal, in welchem
wie von selbst alle möglichen Geistes- und Naturwissenschaften
Unterkunft zu finden schienen" [1].
Alles will da noch mal passen und sich zu fügen, alles
scheint sich tatsächlich diesem einen Begriff, dem Unbewussten,
unterzuordnen.
Die "Philosophie
des Unbewussten", die Hartmann im unglaublichen
Alter von noch nicht mal 25 Jahren veröffentlichte,
blieb sein bekanntestes Werk, auch wenn er sich bald
schon von ihr distanzierte, auch wenn er mit seiner
"Kategorienlehre", der "Philosophie des
Schönen", mit "Das sittliche Bewusstsein"
und "Die Religion des Geistes", die er als
eigentliche Hauptwerke betrachtete, und vielen anderen
dickleibigen Büchern deren Ergebnisse relativierte
und vertiefte, so war Hartmann doch der Philosoph des
Unbewussten. Dieses Buch bestimmte seinen frühen
Ruhm – seine Anhänger hielten sein Gesamtwerk
"für die größte Leistung der deutschen
Philosophie überhaupt" [2];
und seine spätere Missachtung, ja selbst den nicht
seltenen Spott – Nietzsche etwa denunzierte Hartmanns
Denken als "Spass-Philosophie" und "Philosophie
der unbewussten Komik" [3].
Beide Urteile treffen
nicht den Kern. Allein schon der Begriff des Unbewussten,
den man heutigentags fast ausschließlich mit der
Psychoanalyse verbindet und den Freud ausdrücklich
an Nietzsche anlehnte [4],
musste Beachtung finden. Zwar war auch er um 1869 kein
gänzlich unbekannter Begriff mehr, aber ins öffentliche
Bewusstsein hob ihn tatsächlich erst Eduard von
Hartmann. Mit der psychoanalytischen Kategorie ist er
allerdings kaum noch zu vergleichen, denn im Gegensatz
zu Freud, der darunter eine psychische Region verstanden
haben wollte, die dem menschlichen Bewusstsein vorgelagert
ist, versteht ihn der Philosoph in viel umfassenderem
ontologischen und metaphysischen Sinn als das allem
Seiendem Gemeinsame, als die Substanz oder als Ersatz
für den Hegelschen "absoluten Geist".
Eine positive Bestimmung des Terminus konnte er nicht
geben, allein schon die Negativität des Begriffes
("Un") verhinderte dies. Differenziert wird
er nur als unbewusster Wille und als unbewusste Vorstellung
und das sie beide verbindende unbewusste transzendentale
Subjekt.
Tatsächlich
schien Hartmann nichts anderes zu leisten, als die Platonische
Idee, den Wille Schopenhauers und Hegels Geist zusammenzuwerfen
und dies im Sinne von Schellings Prinzip des Einen miteinander
zu verrühren; Spinozas Pantheismus ebenso wie Leibniz
Monadologie und Theodizee bilden neben buddhistischen,
taoistischen und kryptognostischen Elementen die abstimmenden
Ingredienzien und so gesehen darf es nicht verwundern,
wenn man Hartmann immer wieder Eklektizismus vorgeworfen
hat. Das ist natürlich im Bestand richtig gesehen,
aber Eklektizismus ist kein negativer Wert an sich.
Resultat des Ganzen ist ein allerstrengster und bewunderungswürdig
einsichtiger metaphysischer Monismus, der sich auf alle
philosophischen Bereiche bezieht und dessen Kernsubstanz
eben das Unbewusste ist und dem es sogar gelingt, die
Materie in Wille und Vorstellung aufzulösen (II,
65ff.) und damit den "Unterschiede zwischen Geist
und Materie aufzuheben", Materialismus und Idealismus
zu "versöhnen".
Phänomenologie des Unbewussten
Im ersten Band, der "Phänomenologie
des Unbewussten", versucht Hartmann nun eine Bestandsaufnahme
des Unbewussten vorzunehmen, ausgehend von unbewussten
Vorgängen in der toten Materie, im Pflanzen- und
Tierreich, über primäre Reflex- und Instinktbewegungen,
Naturheilkräfte und organische Funktionen bis hin
zu geistigen Erscheinungen wie der geschlechtlichen
Liebe, dem Gefühl, dem Charakter, dem sittlichen
und ästhetischen Urteil, der Sprache, dem Denken,
der sinnlichen Wahrnehmung usw. – alles wird durch
das Unbewusste gelenkt, hervorgerufen, ist dessen Ausdruck;
ja selbst der Geschichtsprozess und die religiöse
mystische Erfahrung können in diesem derart aufgeblähten
Begriff Platz finden. Hier verarbeitete er die seinerzeit
neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ebenso
wie die Resultate der klassischen deutschen Philosophie
und zeigt eine beeindruckende Wissensfülle.
Manches liest sich
aus heutiger Sicht natürlich ganz anders: Nietzsches
Unterstellung der unfreiwilligen Komik wird nach 150
Jahren erst recht verständlich, etwa wenn er vom
Atomwillen spricht. Anderes hingegen liest sich unglaublich
modern, bedenkt man etwa die Heisenbergsche Unschärferelation
und andere relativierende quantenmechanische Erkenntnisse
und wenn Hartmann von "Empfindung und Bewusstsein
der Pflanzen" spricht, ohne allerdings mit ethischen
Schlussfolgerungen aufzuwarten, dann meint man mitunter
einen Aktivisten der ganzheitlich ökologischen
Bewegung sprechen zu hören (II, 45ff.).
Metaphysik des Unbewussten
Im zweiten Band, "Der Metaphysik
des Unbewussten", versucht Hartmann die erlangten
Einsichten erkenntnistheoretisch, ontologisch und religionsphilosophisch
zu verwerten. Diese Herangehensweise entspricht seiner
induktiven Methode, die vom konkreten Erfahrungsinhalt
ausgeht um das Wesentliche dahinter zu erschließen,
wobei es sich z.T. freilich um einen Selbstirrtum handelt,
denn natürlich war dem Philosophen der übergreifende
Begriff längst schon bewusst, deduzierte er also
schon, als er sich den natürlichen Grundprozessen
widmete (und dies kann auch gar nicht anders sein, wie
man im Schachzusammenhange noch sehen wird).
In der "Metaphysik"
– bei Hartmann tatsächlich noch eine Meta–Physik
im aristotelischen Sinne – wird es wirklich interessant,
insbesondere auf theologischem und ethischem Gebiet
kommt er zu radikalen und doch bedenkenswerten Schlussfolgerungen,
die in unserem Kontext leider nicht diskutiert werden
können; nur soviel sei dem Interessierten angedeutet:
Selbst Gott wird als Emanation des Unbewussten und als
unbewusster Gott entworfen bzw. durch diesen ersetzt,
sein Schöpfungsakt als der einer irrationalen Kraft
verstanden. Daraus ergibt sich, dass die Welt zwar,
wie in Leibniz Theodizee, die beste aller möglichen
sei, aber trotzdem noch immer so schlecht, dass es besser
wäre, es gäbe sie gar nicht erst. In Hartmanns
großer Weltgleichung gibt es immer ein deutliches
Übergewicht an Unlust und Leid: Verlieren schmerzt
immer mehr, als Gewinn Freude bringt. Das Ziel des Weltprozesses
ist daher nicht wie bei Hegel die Erkenntnis seiner
selbst, sondern die Erkenntnis der Seinsunwürdigkeit
und mithin die Vernichtung der Welt, die Erlösung
von der Daseinsqual, die ewige Ruhe des Nichts. Das
einzelne Individuum habe sich damit zu identifizieren,
habe daran affirmativ mitzuwirken (was als Aufruf zum
Gattungsselbstmord missverstanden wurde, u.a. von Nietzsche).
Das Sein als Nichtnichtsein begreifen, eröffnet
in der Tat faszinierende neue Perspektiven [5].
Schachmeisterschaft ist unbewusst
Das Schach kommt nun als Beweismaterial
ins Spiel, speziell um das "Unbewusste im Denken"
(Bd. I, S. 125-139) zu verdeutlichen.
"Alles kommt beim Denken darauf an, dass einem
die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt"
(129). Denken ist in seinem Grundbestand aber nichts
anderes als "Teilen, Vereinen und Beziehen der
Vorstellung", sprich, das den Bestandteilen Gemeinsame
auszumachen, sei es nun in "räumlichen oder
zeitlichen" oder "in abstrahierenden"
Akten. "Mit anderen Worten, wenn man die vielen
Einzelnen hat, muss Einem die Vorstellung des allen
gemeinsamen gleichen Stückes einfallen. Dies ist
ebenso gewiss ein Einfallen..." (130). Die Fähigkeit
des Einfallens oder auch der Intuition ist in weiterem
Sinn das Kennzeichen des künstlerischen Genies,
des überragenden Kopfes, aber streng besehen natürlich
nichts anders als die Arbeit des Unbewussten. Es arbeitet
im Kopf, besser im Nervensystem des Menschen und beschert
ihm den Einfall. Der Einfall ist meist nichts anderes
als das Finden des richtigen Begriffes. Die Wahrscheinlichkeit
eines solchen Einfalles kann durch bewusste Arbeit lediglich
erhöht werden - Newton konnte der bahnbrechende
Begriff der Gravitation nur einfallen, weil er das entsprechende
physikalische Wissen besaß -, aber der Einfall
lässt sich bewusst nicht erzwingen. Mit anderen
Worten: das abstrahierende Vermögen, das Gleichheit,
Kausalität, Urteil, Grund und Folge usw. wohl zu
unterscheiden weiß, ein Hirn, das trainiert ist,
"zu allgemeinen Obersätzen zu kommen",
wird sich leichter dem Einfall öffnen. Dies geschieht
mithilfe der Induktion; aus mehreren empirischen Daten
zu einer allgemeinen Regel zu gelangen. Der "natürliche
Verstand induziert instinktiv, und findet das Resultat
als etwas Fertiges im Bewusstsein, ohne über das
Wie nähere Rechenschaft geben zu können. Daher
bleibt nichts übrig, als die Annahme, dass das
unbewusste Logische im Menschen dem bewusst Logischen
diesen Prozess abnimmt, der für das Bestehen des
Menschen erforderlich ist, und doch die Kräfte
des unwissenschaftlichen Bewusstseins übersteigt"
(133).
Überhaupt zeigt sich, dass das Unbewusste
hauptsächlich induktiv operiert, wohingegen das
Bewusstsein sich wesentlich auf die Deduktion beschränkt,
also "durch stufenweise Schlussfolgerungen nach
dem Satze vom Widerspruch aus zugegebenen Prämissen"
(134). Beide arbeiten im Denken als Ganzem zusammen.
Nicht anders beim Schach, wo der Meister
sich vom gewöhnlichen Spieler eben durch die unbewusste
Fähigkeit unterscheidet. "Der geübte
Schachspieler überlegt wohl den Erfolg dieses und
jenes Zuges nach drei oder vier Zügen, aber hundert
Tausend andere mögliche Züge zu überlegen,
fällt ihm gar nicht ein, von denen der schlechte
Schachspieler vielleicht noch fünf oder sechs überlegt,
ohne auf die beiden zu verfallen, welche allein die
Aufmerksamkeit des guten Spielers in Anspruch nehmen.
Woher kommt es nun, dass letzterer diese fünf bis
sechs Züge gar nicht beachtet, die sich wahrscheinlich
doch auch erst nach Verlauf von zwei bis drei anderen
Zügen als minder gut herausstellen? Er sieht das
Schachbrett an, und ohne Überlegung sieht er unmittelbar
die beiden einzig guten Züge. Es ist dies das Werk
eines Momentes, auch wenn er als Zuschauer an eine fremde
Partie herantritt" (136).
Während der schwache Spieler sich
bewusst deduktiv einem mehr oder weniger starken Zug
anzunähern versucht – so könnte man ins
Schachkonkrete umformulieren -, liegt im induktiv vorgehenden
Unbewussten des Meisters, der gute Zug ihm schon zu
Füßen. Ersterer kennt oder erfindet sich
gewisse Regeln, wägt sie gegeneinander ab, vergleicht
sie mit der Situation und kreist schließlich einige
Möglichkeiten ein. Er weiß etwa im Übergang
vom Mittel- zum Endspiel, dass sein König die Brettmitte
anstreben sollte, die Opposition zum gegnerischen König
ereichen muss, dass er sich einen Freibauern verschaffen
sollte und dass dieser gedeckt werden muss, dass er
durch vorgerückte Bauern Raum gewinnen sollte,
er kennt möglicherweise Quadrat- und Dreiecksregel
und all das aber er weiß nicht zwingend, welche
Regel in der jeweiligen Situation nun die entscheidende
ist und wird sich unter den fünf oder sieben halbwegs
einsichtigen Zügen, mehr oder weniger auf mechanischem
Spielverständnis beruhend, schließlich einen
auswählen. Das Unbewusste des Meisters hingegen
liefert diesem im Augenblick, denn "das Denken
des Unbewussten ist zeitlos" (II, 3), konkrete
Zugvorschläge, die dahinter sich verbergende Regel
spielt nur im geistigen Hintergrund eine Rolle. Sein
Denkaufwand ist an sich geringer, zumindest um zu vernünftigen
Entscheidungen zu gelangen, da er sich mit Unwesentlichem
nicht abgibt. Dies ermöglicht ihm – neben
seiner Erfahrung und neben seiner besseren Rechenfähigkeit,
die tiefere konkrete Berechnung. Ebenso "sieht
der geniale Feldherr den Punkt für die Demonstration
oder den entscheidenden Angriff: auch ohne Überlegung"
(ebd.), er fühlt ihn gleichsam.
Instinkt und Intuition im kreativen
Prozess und im Schach
Hartmann verbalisiert nichts anderes
als die hundertfach betonte Rolle des Instinktes und
der Intuition beim Schach, von der die Meister immer
wieder sprechen, die aber eben nur für diese relevant
ist. Wenn der Meisterspieler rät: Verlasse dich
auf deine Intuition, dann hat das für den Normalspieler
nur bedingten Wert, weil sie ihm nicht oder in viel
geringerem Maße zu Verfügung steht oder anders
gesagt: Seine Intuition ist die falsche, sie ist nicht
an das Unbewusste gebunden, sie ist bewusst herbeigeführt
und mangelt daher der unendlichen Weisheit des Unbewussten.
Sie ist also gar keine Intuition, sie gibt sich im Bewusstseinsprozess
nur als solche aus. Gegen ihre Korrektheit spricht die
Bewusstheit!
Um diesen Gedanken Hartmanns vollends
verstehen zu können, muss man seinen Geniebegriff
kennen und nachvollziehen. Im ewigen Streit zwischen
angeborenen Fähigkeiten und Erziehungserfolg, im
Konflikt, ob das Genie oder das Talent, die überragende
Begabung – wie wir heute sagen würden –
erziehbar oder aber gänzlich den unbeeinflussbaren
geistig-physischen Dispositionen zu verdanken sei, würde
sich Hartmann mehr in letztere Richtung orientieren,
ohne erstere zu ignorieren. Der Versöhnungsversuch
ist unübersehbar, ebenso wie das Primat des Unbewussten
ihn zur Ansicht der dispositiven Genialität zwingt.
Damit wird die Genialität dem subjektiven Eingriff
im wesentlichen entzogen, das Genie ist für seine
genialen Einfälle nur sekundär verantwortlich
zu machen - ein Grund mehr zur Bescheidenheit -, die
eigentliche Anerkennung wird man dem Unbewussten zollen
müssen. Auch hier ist die geschichtsmetaphysische
Nähe zu Hegel unübersehbar. Vor diesem Hintergrund
wird eine Aussage wie die folgende, die direkt an die
schachspezifische Äußerung sich anschließt,
erst recht verständlich: "Übung ist ein
Wort, welches hier gar nicht die Frage berührt,
Übung kann die Überlegung erleichtern, aber
nie die fehlende ersetzen, außer bei mechanischen
Arbeiten, wo ein anderes Nervenzentrum für das
Gehirn ausgleichend eintritt. Aber hier, wo davon nicht
die Rede sein kann, fragt es sich: was vollzieht die
zweckmäßige Wahl momentan, wenn die bewusste
Überlegung es nicht ist? Offenbar das Unbewusste"
(136).
Was der Mensch tun kann ist höchstens
dies: den Boden bereiten, auf den die geniale Saat fallen
soll; auf die Saat wiederum darf er nur hoffen. Das
schließt nicht aus, dass man durch Übung,
Training, Arbeit etc. nicht Hervorragendes leisten könne,
nie aber Überragendes. Wie bei allen künstlerischen
Tätigkeiten spielt das einseitig orientierte Gedächtnis
dabei eine wichtige Rolle: "Jeder Psycholog und
Pädagog weiß, welcher Steigerung das Gedächtnis
durch Übung fähig ist, und dass diese Steigerung
auf einem Gebiete nicht unmittelbar in gleichem Maße
auch den übrigen Gebieten zustatten kommt. Der
eine spielt auswendig Schach, hat aber kein Gedächtnis
für Sprachen; der andere lernt eher das Vokabularium
einer neuen Sprache als eine Seite voll mathematischer
Formeln auswendig" [6].
Ohne Arbeit an der Materie geht es also
auch für das Genie nicht. "Das Genie muss
in seinem Fache geübt und gebildet sein, einen
reichen Vorrat einschlagender Bilder in seinem Gedächtnisse
aufgespeichert haben, und zwar in einer Auswahl des
Schönen, die mit feinem Sinne vollzogen sein muss.
Denn dieses Material ist der Stoff, in welchem sich
die im Unbewussten noch formlose Idee gestalten will"
(118). Denn:
"Die Übung erleichtert nur die Wirkung des
Unbewussten auf die Nervenzentra, und wo diese schon
ohne Übung genügend dazu vorbereitet sind,
sehen wir auch diese Übung nicht erforderlich
"
(137).
Dabei muss eine Balance gehalten werden zwischen bewusstem
Eingriff, bewusster Kontrolle und Offenheit dem Unbewussten
gegenüber, wobei das Primat eindeutig letzterem
zuzubilligen ist: "Wie weit aber die verständige
Arbeit eingreifen darf, ohne die Konzeption des Unbewussten
zu stören, dies vermag wiederum nicht sie selbst,
sondern nur der ästhetische Geschmack oder Takt
des Künstlers, d.h. sein unbewusst begründetes
Schönheitsgefühl zu bestimmen, und deshalb
muss während der ganzen Dauer der verständigen
Arbeit doch wieder das Unbewusste als Grenzaufseher
über dem bewussten Verstand Wache halten"
(119).
Und: "Die eben angestellte Betrachtung gilt für
die Ideenassoziation sowohl beim abstrakten Denken,
als sinnlichen Vorstellen und künstlerischen Kombinieren;
wenn ein Erfolg erzielt werden soll, muss sich die rechte
Vorstellung zur rechten Zeit aus dem Schatze des Gedächtnisses
willig darbieten, und dass es eben die rechte Vorstellung
sei, welche eintritt, dafür kann nur das Unbewusste
sorgen; alle Hilfsmittel und Kniffe des Verstandes können
dem Unbewussten nur sein Geschäft erleichtern,
aber niemals es ihm abnehmen" (120).
Hartmann wird nicht müde, in immer
neuen Anläufen zu betonen: "Die bewusste Vernunft
ist nämlich nur negierend, kritisierend, kontrollierend,
korrigierend, messend, vergleichend, kombinierend, ein-
und unterordnend, Allgemeines aus Besonderem induzierend,
den besonderen Fall nach der allgemeinen Regel einrichtend,
aber niemals ist sie schöpferisch produktiv, niemals
erfinderisch; hierin hängt der Mensch ganz vom
Unbewussten ab
" (185).
Das Genie wird erwählt
Das Genie wird stets erwählt vom
geschichtstragenden Subjekt, dem Unbewussten, das seine
Ziele "auf friedlicherem Wege erreicht, indem es
im rechten Augenblick das rechte Genie erweckt, das
befähigt ist, gerade diese Aufgabe zu lösen,
deren Lösung seine Zeit dringend bedarf" (167)
- und das gilt im Großen wie im Kleinen.
"So arbeitet das gewöhnliche
Talent, es produziert künstlerisch durch verständige
Auswahl und Kombination, geleitet durch sein ästhetisches
Urteil. Auf diesem Standpunkte steht der gemeine Dilettantismus
und der größte Teil der Künstler von
Fach; sie alle können aus sich heraus nicht begreifen,
dass diese Mittel, unterstützt durch technische
Routine, wohl recht Tüchtiges leisten können,
aber nie etwas Grosses zu erreichen, nie aus dem gebahnten
Geleise der Nachahmung zu schreiten, nie ein Original
zu schaffen im Stande sind; denn mit diesem Anerkenntnisse
müssten sie sich ihren Beruf absprechen und ihr
Leben für verfehlt erklären. Hier wird noch
Alles mit bewusster Wahl gemacht, es fehlt der göttliche
Wahnsinn, der belebende Hauch des Unbewussten, der dem
Bewusstsein als höhere unerklärliche Eingebung
erscheint, die es als Tatsache erkennen muss, ohne je
ihr Wie enträtseln zu können: die bewusste
Kombination lässt sich durch Anstrengung des bewussten
Willens, durch Fleiß und Ausdauer und dadurch
gewonnene Übung mit der Zeit erzwingen, die Konzeption
des Genies ist eine willenlose leidende Empfängnis,
sie kommt ihm beim angestrengtesten Suchen gerade nicht,
sondern ganz unvermutet wie vom Himmel gefallen, auf
Reisen, im Theater, im Gespräch, überall wo
es sie am wenigsten erwartet und immer plötzlich
und momentan; - die bewusste Kombination arbeitet mühsam
aus den kleinsten Details heraus und erbaut sich qualvoll
zweifelnd und kopfzerbrechend unter häufigem Verwerfen
und Wiederaufnehmen des Einzelnen allmählich das
Ganze; die geniale Konzeption empfängt als müheloses
Geschenk der Götter das Ganze aus Einem GUSS, und
gerade die Details sind es, die ihm noch fehlen, schon
deshalb fehlen müssen, weil bei größeren
Kompositionen (Gruppenbildern, Dichtwerken) der Menschengeist
zu eng ist, um mehr als den allgemeinsten Totaleindruck
mit Einem Blicke zu überschauen; - die Kombination
schafft sich die Einheit des Ganzen durch mühsames
Anpassen und Experimentieren im Einzelnen und kommt
deshalb trotz aller Arbeit nie mit ihr ordentlich zu
Stande, sondern lässt immer in ihrem Machwerke
das Konglomerat der vielen Einzelheiten durcherkennen;
das Genie hat vermöge der Konzeption aus dem Unbewussten
eine in der Unentbehrlichkeit, Zweckmäßigkeit
und Wechselbeziehung aller einzelnen Teile so vollkommene
Einheit, dass sie sich nur mit der ebenfalls aus dem
Unbewussten stammenden Einheit der Organismen in der
Natur vergleichen lässt" (117).
Hartmanns Modernität
Dies alles klingt auffällig modern für Ohren,
die seit Jahrzehnten psychoanalytisches Vokabular sozusagen
unbewusst aufnehmen - was in zweiter Linie überrascht,
nicht zuletzt hinsichtlich der schachbezogenen Aussage.
Denn woher nimmt Hartmann diese Erkenntnis, gut dreißig
Jahre vor den psychostatistischen Untersuchungen Binets
und fast ein ganzes Jahrhundert vor Adrian de Groots
wichtigen Experimenten, die obige Aussage zum ersten
Mal in der Geschichte des Schachs und der Psychologie
empirisch bestätigten. Tatsächlich gestattet
Hartmanns Konzept des Unbewussten ihm die richtige Einsicht
– wenn auch aus falschen Prämissen –
in den Denkprozess des Schachmeisters. Noch weiß
er nichts von Pattern und Chunks, wenig von experimenteller
Psychologie und doch spricht er hier schon aus, was
man als de Groots bahnbrechende Erkenntnis feierte oder
anders gesagt: de Groot beweist nur, was Hartmann schon
wusste und sich offensichtlich nur aus der Praxis (und
der metaphysischen Grundlage) hat erschließen
können, sei es aus eigenem Spiel – wovon wir
nichts wissen -, sei es aus den Partien der Meister
seiner Zeit, die Anderssen und Morphy hießen,
oder auch Minkwitz, Horwitz, von der Lasa, Bilguer usw.
Selbstredend liegt die Prämisse bei den psychologischen
Experimenten eindeutig auf dem Lernprozess; was die
Schachmeister leisten, schaffen sie durch jahrelanges
Training, ein Unbewusstes im metaphysischen Sinne Hartmanns
ist nun nicht mehr notwendig, die Ergebnisse zu erklären.
Hartmanns Einsichten in das Wesen des
Genies mag manchen ehrgeizigen Schachspieler ernüchtern;
diesem sei noch einmal versichert (Und hat es nicht
etwas Erhebendes, sich als Repräsentant des Weltprozesses
zu sehen, selbst, wenn es den Eigenverdienst schmälert?):
"Wollte man nun aber durch diese Betrachtung sich
zu einer Geringschätzung der bewussten Überlegung
hinreißen lassen, so würde man dennoch einem
sehr großen Irrtume verfallen. Eben weil bei sprunghaften
Schlüssen leicht Irrtümer unterlaufen, ist
es dringend erforderlich, in wichtigen Fragen die einzelnen
Glieder durch diskursives Denken klar zu stellen und
bis auf so kleine Denkschritte herabzusteigen, dass
man vor Irrtümern in den Schlüssen sich möglichst
geschützt weiß. Eben weil bei den Ansichten,
deren wahre Begründung im Unbewussten liegt, die
Verfälschung des Urteils durch Interessen und Neigungen
sich jeder Kontrolle entzieht und ungeniert breitmacht,
ist es doppelt nötig, die subjektive Begründung
ans Licht zu ziehen, und mit den Resultaten diskursiv-logischer
Schlussfolgerungen zu konfrontieren, da nur in den letzteren
eine gewisse, wenn auch immer noch sehr mangelhafte
Garantie der Objektivität liegt. Ist auch für
den Augenblick das subjektive Vorurteil stärker,
mit der Zeit gewinnt die bewusste Logik doch an Boden,
und ist es nicht in einer Generation, so ist es im Laufe
vieler" (138).
So wird das geschichtstragende transzendentale
Subjekt zum finalen Trostbringer.
--- Jörg Seidel, 05.09.2002 ---
[1]
Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im
Abendlande. Stuttgart/Berlin 1923. Band 4. S. 290
[2] Wilhelm von Schnehen:
Ratschläge betreffs Hartmanns Schriften. In: Band 2.
Seite II.
Es ist unglaublich, mit welchen Attributen Hartmann
von seinen freilich wenigen Anhängern bedacht wurde.
Sie bezeichneten sein Denkgebäude als "entschieden das
größte, umfassendste und vielseitigste Lehrgebäude,
das die Geschichte der Philosophie kennt. Wie Aristoteles
das gesamte Wissen des klassischen Hellenentums und
Thomas von Aquino das des christlichen Mittelalters,
so fasst Hartmann das seiner eigenen Zeit in Gedanken
zusammen. Und sein Gedankenbau ist um ebensoviel reicher,
tiefer und vielgestaltiger als die seiner beiden Vorgänger,
wie das Leben und Wissen des ausgehenden neunzehnten
Jahrhunderts reicher, tiefer und vielgestaltiger war…
Auch von den großen Denkern der Neuzeit kann sich an
Spannweite und innerem Reichtum seines Lehrgebäudes
keiner mit Hartmann messen". Und weiter: "…dass es in
dieser mehr als zweitausendjährigen Geschichte des abendländischen
Denkens drei tiefste und bedeutendste Einschnitte gibt:
drei große Wenden oder neue Anfänge, von denen jeder
ein großes, völlig neues Zeitalter einleitet. An diesen
drei Wenden aber stehen: Plato, Descartes und Hartmann"
(Wilhelm von Schnehen: Eduard von Hartmann. Stuttgart
1929. S. 384 und 394, vgl. 26, 45 und 67). Diese Begeisterung
wirkt fast schon wieder lächerlich, aber sie ist nicht
ohne Interesse, denn wie lässt sich eine derartige Wahrnehmungskluft
verstehen? Einerseits das vollkommene Vergessen und
die philosophische Diffamierung und andererseits der
Versuch uns einen überphilosophen, einen absoluten Denker
zu präsentieren. Man kann dieses Urteil nicht auf bloßes
Jüngerverhalten zurückführen, denn erstens ist Schnehens
Buch, von zitierten Passagen abgesehen, wirklich sehr
gut und jederzeit zu empfehlen, nicht nur demjenigen,
der sich über Hartmann informieren will, zweitens schätzten
auch Denker von erstem Range, wie etwa Fritz Mauthner,
Hartmann und bezeichneten ihn, wie Max Scheler etwa,
"als die einzige Persönlichkeit", "deren geistige Spannweite
alle philosophischen Antriebe des 19. Jahrhunderts
umfasste und dazu alle Fortschritte der positiven Natur-
und Geisteswissenschaften in ihr System einzuordnen
suchte, die einzige zugleich, die den tiefgehenden inneren
Bruch zwischen der deutschen Spekulation und der geistigen
Herrschaft der Spezialwissenschaften nicht mitgemacht
hat" (zit.: ebd. S. 387), und schließlich drittens,
kann sich jeder selbst bei der Lektüre, vor allem der
"Philosophie des Unbewussten" vom Gedankenreichtum Hartmanns
überzeugen. Mir schien er ein beachtenswerter Geist
zu sein, ein wiederzuentdeckender Denker und man kann
nur hoffen, dass sich ein objektiver und fachlich kompetenter
Kopf finden wird, ein zeitgemäßes Fazit zu ziehen. Die
Wahrheit wird irgendwo in der Mitte liegen, vermutlich
aber mit Tendenz nach wirklich großem Denken, zumindest
partiell (Ethik, Religionsphilosophie und Anthropologie
scheinen mir am brisantesten zu sein, Hartmanns Psychologie
ist z.T. bestätigt und allgemein anerkannt, metaphysisch
hingegen gibt’s wohl kaum was zu retten).
[3] KSA 1, S. 314-319 (Vom
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben)
[4] Sigmund Freud: Gesammelte
Werke. Band 15. Seite 79
[5] Dies ist auch die Perspektive,
aus der Hartmanns Denken für Ludger Lütkehaus interessant
wurde, der sich nicht nur für die Neuherausgabe des
Klassikers verantwortlich zeichnete, sondern ihm auch
ausführlich Platz einräumt in seinem sehr lesenswerten
Opus "Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst". Zürich
1999; vgl. insbesondere Seiten 223 – 262, wo Hartmanns
Ontodizee als Kakodizee (Rechtfertigung des Schlechten)
vorgestellt wird, die in Mainländers Denken noch einmal
radikalisiert wird.
[6] Eduard von Hartmann: Philosophie des Schönen. Berlin 1924. S. 540
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
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