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Kritische Nachbemerkung
zur DEM der Kinder – Eine Polemik
"Schachspieler können ausgezeichnet
Varianten am Schachbrett berechnen, aber nicht im
realen Leben. Zu stark ist der Individualismus im
Schach ausgeprägt, und für viele ist ein
kleiner momentaner persönlicher Vorteil wichtiger
als ein weit größerer Vorteil von morgen."
Anatoly Karpov
Man liest und hört es allenthalben,
wo immer Schachspieler sich treffen, in unzähligen
Büchern ist es als unumstößliche Wahrheit
manifestiert: Schach fördere die Konzentration,
trainiere das Urteilsvermögen, schule Geduld und
Fantasie, helfe Problemlösungsstrategien zu entwickeln
und dergleichen mehr. Gern werden diese Aussagen liebevoll
mit Zitaten von Klassikern, genialen Köpfen wie
Goethe, Schopenhauer oder Benjamin Franklin garniert
und legitimiert. Derart wurde die unantastbare Wahrheit
auch zur Deutschen Meisterschaft der Kinder und Jugendlichen
in Oberhof werbewirksam verkündet, um selbst bei
den Kleinen einen Zweifel gar nicht erst aufkommen zu
lassen.
Viel Wundersames mutet man dem Spiel
da zu und hält all dies für wahr, weil
es ungezählte Male in aller Variationen wiederholt
wurde. Tatsächlich aber, man muss das trotz der
Banalität ausdrücklich betonen, tatsächlich
aber steht die Häufigkeit einer Aussage in keinerlei
Beziehung zu deren Wahrheitsgehalt. Mehr noch, gebetsmühlenartiges
Herunterleiern vermeintlicher Gewissheiten sollte in
Bezug auf deren Wahrheitsgehalt eher verunsichern, denn
eine wesentliche und substanzielle Aussage dürfte
es nicht nötig haben durch Penetranz des Vortrages
bestätigt zu werden.
Dem aufmerksamen Betrachter einer schachlichen
Veranstaltung, der mehr als nur die Konstellationen
der Partien beachtet fällt bald auf, wie sehr Anspruch
und Realität offensichtlich auseinander
klaffen, insbesondere bei von Kindern ausgetragenen
Wettkämpfen. Voraussetzung ist freilich, dass man
benannte Glaubenssätze noch zu hinterfragen wagt.
Dann nämlich lässt sich wahrnehmen, wie wenig
Empirie und "Theorie" korrelieren.
Daran ändern auch zahlreiche, vor
allem psychologisch motivierte wissenschaftliche Untersuchungen
nichts, wie sie in den letzten Jahrzehnten zahlreich
erschienen sind, die uns in immer neuen Varianten von
besagten und von vornherein feststehenden "Wahrheiten"
zu überzeugen versuchen.
Man benötigt viel weniger Aufwand,
um das tatsächliche Geschehen abschätzen zu
können: lebende Skepsis und kritische Wahrnehmungsbereitschaft,
ein offenes Auge und ein sensibles Ohr, vor allem aber
einen gesunden Menschenverstand, auch jenseits des Schachs.
Aber bevor man das glauben wird –
und nur mit diesen Instrumentarien kann man das eigentliche
Thema, den Leistungssport bei Kindern adäquat besprechen
– muss noch eine These entworfen werden, die die
intellektuelle Selbstsicherheit des Schachspielers zu
erschüttern sucht, um ihn dann aufnahmebereit,
wahrnehmungsfähig für die Fehlentwicklungen
zu machen. Schach, so liest man in einem Werbeblatt
des Deutschen Schachbundes "bildet die Persönlichkeit",
eben weil es Urteilsvermögen, logisches Denken,
Geduld, Konzentration, Kreativität und Fantasie
fördere. Aber stimmt das? Und ist die Überschreitung
in den Moralbereich statthaft? Sind Schachspieler –
es sei erlaubt diese plumpe Kausalkette fortzuspinnen
– tatsächlich die besseren Menschen, sind
sie Persönlichkeiten? Sind sie vollkommener entwickelt
oder zumindest intelligenter? Ist es die große
Familie – gens una sumus – von Liebhabern
eines Spiels, das alle anderen Konflikte überdecken
könnte? Entwickelt der Schachspieler in der Tat
– ich zitiere wieder – "Willensstärke,
Ausdauer, Disziplin", erlernt er "durch Selbstkritik
Verantwortung zu tragen"? Die Reihe der Fragen,
der Infragestellungen ließe sich fortsetzen, gleich
den ungezählten Selbstbejubelungen.
Angekündigte These wäre die
eine Antwort auf all diese Fragen und die kennt
zwei Möglichkeiten: Nein! und aber auch
Ja! Zuerst die gute Nachricht. Ja, der schachspielende
Mensch fördert sein Urteilsvermögen, trainiert
seine Kombinationsgabe, er verbessert seine intuitive
Erfassung komplexer Zusammenhänge, steigert die
geistige Belastbarkeit und vertieft seine Erinnerungsgabe
..., aber – das große ABER – nur
in einem sehr seltenen, situationsuntypischen, künstlich
herbeigeführten, wenig lebensweltbezogenen Ausnahmezustand,
nämlich dem Schachspiel selbst und vorerst
nur dort. All diese vor Selbstgewissheit strotzenden
Aussagen sind selbstreferentiell, oder, weniger akademisch
gesprochen, sie sind einfallslos, trivial, überflüssig.
Jeder Mensch dieser Welt, der sich an mehr als eine
Partie Schach in seinem Leben erinnern kann, dürfte
derartiges von sich geben und könnte es, kraft
seiner Erfahrung, bestätigen. Es lohnt sich kaum,
darüber sich aufzuhalten, woran auch die zahllosen
Wiederholungen nichts ändern. Deshalb zum zweiten
Teil, zur schlechten Nachricht: Nein, Schachspieler
sind durchaus nicht die besseren Menschen, und Persönlichkeit
ist unter ihnen genauso rar wie überall.
"Nette Menschen spielen Schach"?
– Unsinn, der bitte schön was besagen soll?
Dass Schach nett macht oder dass zum Nettsein das Schachspiel
gehört? Und wenn man die Reihe sogenannter Genies
vereinnahmend defilieren lässt, was soll das bedeuten?
Dass Schachspieler Genies sind oder das Genies Schach
spielen? War Bobby Fischer nett und ist Kasparow –
außer im Schach – ein Genie und weshalb ist
Einstein nicht der größte Schachmeister seiner
Zeit gewesen? Hüten wir uns also, die verschiedenen
Bereiche, die getrennten Welten einfach und ungeprüft
zu vermischen. Es gibt den Schachspieler eben
nicht, sondern es gibt Bobby Fischer oder Klaus Allwermann
beim Schachspiel, und dort sind sie eben nicht immer
nett, während Jochen Bandt zum Beispiel –
auch ein Schachspieler – dabei sehr nett sein kann.
Aber er ist es nicht als Schachspieler, sondern nur
als er selbst.
Es dürften nicht zuletzt jene durch
permanente Wiederholung fest verinnerlichten positiven
Vorurteile sein – immerhin hält man den Schachspieler
noch immer allerorten für intelligent, wo er doch
"nur" schachintelligent ist -, die insbesondere
viele Eltern dazu bewegen, ihr Kind zum Schachsport
zu bringen. Dabei soll gar nicht behauptet werden, dass
das Schachspiel nicht behilflich sein könnte,
um etwa ein hyperaktives Kind zu deaktivieren oder ein
konzentrationsschwaches Kind besser zu befähigen,
aber es sollte Schluss sein mit diesen Automatismen,
die letztlich auch den Erzieher von Verantwortung entlasten,
denn viel wichtiger ist doch die Frage, weshalb dieses
Kind an jenen Symptomen leidet. Genauso wenig wie die
bisherige Hyperkinese durch die Unkenntnis des Schachspiels
zu erklären ist, ebenso wenig wäre sie damit
zu heilen. Und vielleicht sind es ja gar nicht Spiel
und Training, welche dem Kind gut tun, sondern die neue
soziale Integration, die neuen Freunde und Spielpartner?
Wie dem auch sei, wenn man sich bei einem
Wettkampf für Kinder aufmerksam umsieht, dann könnte
jedenfalls sehr schnell der Eindruck entstehen, als
wäre Schach gerade nicht, ausdrücklich
nicht empfehlenswert für Kinder, insbesondere im
Alter, sagen wir mal unter zwölf Jahren. Das wird
umso augenfälliger, je "bedeutender"
und umfangreicher die Wettkämpfe sind. Was man
dort zum Teil zu sehen bekommt, sind Erscheinungen,
die Symptomen psychischer Zerrüttungen bedenklich
ähneln.
Dass zwei Partien mit je bis zu vier
Stunden Spielzeit prinzipiell zu viel sind für
Sechs- bis Zwölfjährige – von den didaktisch
und lernpsychologisch vollkommen unsinnigen,
zwölfstündigen Nonstop-Schachmarathonen in
sogenannten Trainingslagern ganz zu schweigen-, lässt
sich unschwer an fast allen Tischen ausmachen. Kaum
ein Sprössling, der Ruhe ausstrahlt - und bei den
wenigen Stillsitzern ist gerade dies beunruhigend –
Ruhe im Sinne einer gespannten Aufmerksamkeit, die ein
authentisches Interesse am Spiel verriete. Vielmehr
wird sich auf den Stühlen hin und her gewälzt,
werden Positionen gewechselt, gekippelt und gerutscht,
wird sehnsüchtig aus dem Fenster, gelangweilt in
den Saal geschaut, bewegen sich alle Gliedmaßen
... Wie sollte es auch anders sein, bei einem kindlichen
Körper, der sich durch Bewegung entfalten muss.
Aber nicht die physische Bewegungslosigkeit, sondern
die damit verbundene seelische Tortur ist das eigentliche
Problem. Manche Kinder reagieren dann mit Schnellspielen,
gleich wie die Partie ausgeht, Hauptsache man ist nach
einer halben Stunde wieder raus. Ich habe einige Partien
gesehen, in denen nicht die schachliche Kompetenz, wohl
aber das ausgeprägtere Sitzfleisch siegte. Glücklich
durften sich noch jene Kinder schätzen, denen diese
Option offen steht. Andere, meist in der Tat die Besseren
(die Erfolgreicheren) haben diese Möglichkeit nicht.
Mutmaßlich nicht etwa, weil sie das Spiel gewinnen
wollen, nein, sondern weil sie gewinnen müssen
oder zumindest glauben, suggeriert bekommen, es gewinnen
zu müssen. Da gibt es eben Trainer, die ihre Jungs
– meist handelt es sich um Jungen – dazu vergattern,
sich nicht vor drei Stunden außerhalb des Spielsaales
blicken zu lassen. Natürlich ist man damit erfolgreich,
aber was ist Erfolg? Kann darunter nur der Titel, nur
die Medaille, nur die Wertungszahl gerechnet werden
und ist dies dann überhaupt noch Erfolg, wenn er
so erkauft – gehandelt gegen die Freiheit des Kindes
-, so erzwungen ist?
Insbesondere die "erfolgreichen"
Kinder, jene also, die nicht über die Beendigungsoption
verfügten, zeigten mitunter Verhaltensweisen, die
sich für den sensiblen Blick nur als Verhaltensstörung
entschlüsseln lassen. Die eine frisst – das
Wort kennt in diesem Zusammenhang keinen Ersatz –
ununterbrochen Süßigkeiten in sich hinein
(orale Ersatzbefriedigung), der andere kaut seine Nägel
blutig. Ein dritter scheint die Augen kaum noch offen
halten zu können und ein vierter blitzt seinen
Gegner mit bösen Blicken an, als wollte er ihm
ans Leben. Später zelebriert er das Matt mit sadistischer
Geste, als wäre das Leben das Feindes tatsächlich
auszulöschen. Ein fünfter schließlich
verfällt wiederholte Male in hektische, ja panische
Phasen, knallt die Figuren aufs Brett und kritzelt Unleserliches
auf sein Formular. Am schlimmsten aber sind jene Deprivations-
und Hospitalismuserscheinungen, die in der Psychologie
auf schwere soziale Störungen zurückgeführt
werden, auf frühe Mutterentbehrung, auf Mangel
an sensorischen, insbesondere taktilen und verbalen
Reizen, auf Angst vor Strafe. Gemeint sind jene rhythmischen
Bewegungen des Oberkörpers, das Schaukeln des Kopfes,
das Verdrehen der Augen, in schweren Fällen von
unnatürlichen Verrenkungen des Halses begleitet.
Ganz zu schweigen von der zur Schau getragenen Arroganz,
von diesen überheblichen Blicken und Gesten, diesem
altklugen Getue und großtuerischem Gehabe am Brett
(... übrigens nur am Brett. Seltsamerweise werden
die jungen Schachgenies von morgen urplötzlich
gewöhnliche, liebenswerte Jungen, wenn ihnen ein
Ball auf grüner Wiese vor den Füßen
liegt.) Ein einziger dieser Blicke genügt, um die
Kausal-Legende Schachspieler = netter Mensch = besserer
Mensch = Persönlichkeit etc., zumindest für
Kinder ad absurdum zu führen. Dass hier nicht über
das Spiel an sich, sondern über den fahrlässigen
Umgang mit ihm gesprochen wird, sollte keiner näheren
Ausführung bedürfen.
Es müsste deutlich geworden sein,
dass die Kinder nur als Objekte fungieren, die dem Ehrgeiz
ihrer "Erzieher" – die selbst selten
zur spielerischen Elite zählen – verständnislos
ausgesetzt sind. Nicht das Mitfiebern ist gemeint, die
aktuelle Anspannung, die sich durchaus auch mal entladen
kann, sondern der systematische Aufbau von Erfolgsdruck
– welcher unter dem netten Begriff "Training"
firmiert -, der immer von Versagungsängsten begleitet
sein wird. Das erreichbare und anstrebenswerte Vergnügen
am Spiel bleibt verunmöglicht, weil der potentiell
genussträchtige Ist-Zustand des jugendlichen Spielers
durch von außen aufgezwungene Projektionen auf
Erfolg emotional zerstört wird. Der erwachsene
Mensch maßt sich dann an, darüber entscheiden
zu können, was das Kind eigentlich will, er oktroyiert
ihm seinen eigenen Willen auf. Aber wer sagt uns denn,
dass unser Wille der bessere, der richtigere sei? Es
stehen Wille gegen Wille und nicht das bessere Argument,
sondern die größere Macht entscheidet dann
– und zwar meist falsch. Vielleicht aber ist die
Sonne da draußen das bessere Argument? Und vielleicht
ist Spieler X damit zufrieden, trotz des Qualitätsgewinns
nur Remis gemacht zu haben? Vielleicht ist es gar nicht
sein Ziel des Spiels, zu siegen, den anderen zu besiegen,
sondern zu spielen?
Anders gesagt: Sind wir, weil wir es
aus irgendwelchen wahnwitzigen Gründen für
anstrebenswert halten, eine Metallscheibe um den Hals
gehängt zu bekommen, dazu berechtigt, dies von
anderen, Kindern dazu, zu verlangen oder auch nur zu
erwarten? Haben wir das Recht, Zehnjährige mit
"Halt deine Schnauze!" abzufertigen,
nur weil eine Partie verloren ging? (Was stiftet
den größeren Schaden?)
Wozu also das Schachspiel? So nur sollte
die finale Frage lauten. Und so nur die Antwort: Nicht,
um Urteilsvermögen, Gedächtnis, "das
Wesentliche" und vergleichbare Schimären zu
fördern – was sicherlich diskutierenswerte
Eigenschaften sein können, die das Schachspiel
sowohl in seiner inneren Logik als auch in der derzeitigen
Praxisform des Leistungssports überfordern -, sondern
weil es ein Spiel ist und damit jenseits aller Alltagswichtigkeiten.
Es ist angenehm, nachzudenken, sein Hirn zu beanspruchen.
Es verleiht die Gewissheit zu sein – cogito
ergo sum. Es gewährt die sehr seltene und nicht
selbstbetrügerische (à la TV) Erfahrung,
sich verlieren, sich und die Welt vergessen zu können,
denn es funktioniert nicht unähnlich der Meditation.
Es verleiht uns das Gefühl, wirkliche Probleme
lösen zu können, die deswegen so wirklich,
weil sie so unwirklich, so frei von Verantwortung und
Lebensrelevanz sind. Und es ist angenehm, nach dem Spiel
jene wohlwollende Erschöpfung zu spüren, die
signalisiert, etwas – und nicht mehr –
geleistet zu haben. Vor allem aber zeigt uns das Schachspiel
mehr wahrscheinlich als andere Spiele im europäischen
Kulturkreis, die Relativität unserer Probleme:
man kann spielend vergessen, dass die Arbeit verloren
ging, die Frau sich scheiden lassen will, das Auto eine
Schramme har oder der Nachbar eine Klage anstrebt, und
zwar nicht im Sinne einer Droge, sondern im Sinne der
Relativität. Denn nicht, wie die Welt ist, zu
sein scheint, ist entscheidend, sondern wofür wir
sie halten. Und wie lächerlich und sekundär
können – für den, der sich versenken
kann – doch all diese Alltäglichkeiten sein,
verglichen mit der unauslotbaren Tiefe eines Problems
dieses scheinbar unerschöpflichen Spiels?
Was also wollen wir mit dem Kinderschach?
Soll es tatsächlich der Großmeister sein,
der die Kellnerin unflätig beschimpft, weil sie
ihm die falsche Schokoladenmarke bringt – so der
gute Mensch von Aserbaidschan – oder soll es die
innerlich erfüllte und selbstdenkende junge Person
sein, deren Leben mit den üppigen Schätzen
des Spiels bereichert wird? Die Antwort dürfte
nicht schwer fallen: nicht der Sieg, nicht der Preis
ist entscheidend für das Spiel, vielmehr ist das
Spiel selbst Sieg und Preis.
--- Jörg Seidel, Juni 1999 ---
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