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AKTUELLES
9. Februar 2007

BIG BROTHER IS WATCHING YOU!
Oder: Ein Lob der Naivität.

"In this game that we're playing, we can't win."

George Orwell

 

George Orwells Grab in Sutton Courtenay (aufgenommen am 4.2.2007)

 

Es gibt gute Gründe, George Orwells "Nineteen Eighty-Four" immer mal wieder in die Hand zu nehmen. Liest man das Buch als konkrete negative Utopie, als Dystopie, kann es enttäuschend wirken, so weit entfernt scheint es vom modernen Alltag zu sein; seine tieferen Wahrheiten findet man auf abstrakter Ebene.

 

In Schachkreisen hat man nun mindestens dreifach Grund, sich des Klassikers zu besinnen, dessen tiefste Einsicht in die Formel gefasst werden kann: Schein ist Sein. Medien schaffen Realität, vollkommen unabhängig davon, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht. "Reality", so muss sich Winston, der rebellische Parteikader von seinem Foltermeister O’Brien sagen lassen – "Reality is not external. Reality exists in the human mind, and nowhere else. Not in the individual mind, which can make mistakes, and in any case soon perishes: only in the mind of the Party, which is collective and immortal. Whatever the Party holds to be truth, is truth.” (261) Man muss nur das Wort "Partei” mit dem Wort "Medien” ersetzen und die Aktualität der Zeilen wird unübersehbar. Geschichte ist ein Palimpsest [1] (42), ein Blatt Papier, dessen Oberfläche immer wieder neu gelöscht und beschrieben werden kann. Nur die aktuellste Oberfläche, oder die am stärksten aufgetragene, bleibt im Gedächtnis, die spektakulärste. Man wird z. B. Clinton noch in 100 Jahren mit Spermaflecken verbinden, wenn er als Politiker so vergessen sein wird wie heutzutage Grover Cleveland, und als vor wenigen Tagen britische Polizisten eine Gruppe junger Muslime in Birmingham festnahmen, die geplant haben sollen, einen in der Army dienenden Glaubensgenossen zu entführen, vor laufender Kamera zu enthaupten und die grausamen Bilder zu veröffentlichen, da trat ein Vater vor die Linse und erklärte: Wenn mein Sohn unschuldig sein sollte, werden dann wieder hunderte Kameras vor meinem Haus stehen und seine Unschuld verkünden? Natürlich nicht! Dieser Mensch ist ein Terrorist und wird es bleiben, er mag es gewesen sein oder nicht. Je perverser die Schandtat, umso gewisser der Stempel. Geschichte heute ist ein Palimpsest.

 

Hat man diese Logik einmal begriffen, dann bekommen die unerhörten Anschuldigungen gegen Kramnik plötzlich Sinn. In seinem Nachruf wird einst der Satz zu lesen sein: Bei der WM 2006 in Elista wurde er von seinem bulgarischen Gegner Topalow des Betrugs bezichtigt – ganz gleich, ob sich auch nur ein Gran Wahrheit in dieser Behauptung findet. Dabei spielen die Schiedsrichter schon längst die Rolle Big Brothers, hatten sie weniger das Brett denn die Ruheräume der Kombattanten via Videoüberwachung zu kontrollieren. Freilich gab es einen blinden Fleck, unserer Noch-Prüderie geschuldet: die Toilette. Dass es ihn gab, enthält schon den Verdacht und wer sich dort aufhält, der hat Finsteres im Sinn, dem muss man schon misstrauen. Vielleicht suchte er nur Einsamkeit? Hatte er einen "taste for solitude?" Wusste er denn nicht, dass in einer Überwachungsgesellschaft gilt: "even to go for a walk by yourself, was slightly dangerous. … Ownlife, it was called" (85) …und ist natürlich unerwünscht.

Alle, die noch in der brave old world des Schachs leben, hätten diesen abstoßenden Gedanken gar nicht fassen können, hätten ihn im Orwellschen Vokabular als "Thoughtcrime" – das Undenkbare denken – charakterisiert, aber unter zweckzynischem Vorzeichen war die Idee nur konsequent. Die Verursacher gehen volles Risiko, sie müssen schließlich gewusst haben, dass die akute Gefahr besteht, wenn schon nicht aus der Realgeschichte so doch aus der Moralgemeinschaft ausgeschlossen zu werden, "abolished, annihilated: vaporized was the usual word" (21).

Wie tief wir schon in der Big-Brother-Welt versunken sind, zeigen die Gegenvorwürfe, in denen der Ankläger zum Verbrecher gestempelt wird, wie Winston im legendären Room 101. Dabei geht es nicht nur um Rache, sondern mehr noch um die Unterminierung der Glaubwürdigkeit, denn wer einmal bescheißt, der tut’s immer und dem können wir nicht mehr glauben, auch rückwirkend nicht. Da soll sich nun Topalows Manager, dessen Rolle seit Jahren umstritten ist (ich sage das, um wenigstens die Illusion des integren Sportsmannes aufrecht zu erhalten), des schweren Vergehens des Zeichengebens schuldig gemacht haben. Was man Kramnik auf dem stillen Örtchen zutraute, das soll nun in aller Öffentlichkeit – nach dem alten Motto: Auffälligkeit ist das beste Versteck – geschehen sein: der Computer wurde zu Hilfe genommen. Wusste Danailow denn nicht?: "It was terribly dangerous to let your thoughts wander when you were in any public place or within range of a telescreen. The smallest thing could give you away. A nervous tic, an unconscious look of anxiety, a habit of muttering to yourself – anything that carried with it the suggestion of abnormality, of having something to hide … Facecrime it was called.” (65) Wer plump mit Sonnenbrille ankommt, Grimassen zieht und Zeichen gibt, der macht sich der Gesichtskriminalität schuldig und gehört von der "Thought Police" eingesperrt, egal, ob was dran ist oder nicht. Diesmal lief der eifrige Impresario selbst in die laufende Aufmerksamkeit und Kamera eines Journalisten, der ganz zufälligerweise wiederum mit Kramnik assoziiert wird [2]. In dessen Lager macht man sich wenigstens nicht selbst die Hände schmutzig; schon deshalb verdient er – ob des weitgreifenderen strategischen Verständnisses – Weltmeister genannt zu werden. Dieses Verhalten ist nun umso dümmer, als man mit erhöhter Beflissenheit hatte rechnen müssen. Aber es zeigt auch, wie schwer die Logik der Totalüberwachung zu begreifen ist. Auch hinter der Kamera ist vor der Kamera. Nun wird der Henker gehenkt, und selbst dazu hatte Orwell schon den passenden Text verfasst: "The enemy of the moment always represented absolute evil, and it followed that any past or future agreement with him was impossible." (36). Im zweiten Satzteil lesen wir, was auf uns zukommen könnte; Stichwort Revanchekampf. Kein Grund zur Panik jedoch. Das Spiel ist unendlich und kann morgen schon ganz anders aussehen, schon morgen kann Topalow wieder everybody’s darling sein. "Everything faded into mist. The past was erased, the erasure was forgotten, the lie became truth." (78)

Das umschreibt das ganze Geheimnis: Die Sendung ist die Wahrheit, nicht der Inhalt. Die Behauptung überlebt, nicht ihre Widerlegung. Die Veröffentlichung eines dauerhaften Buches (Sendung) über den Toilettenkrieg – von Topalows Partei aus – zeigt den unbedingten Willen, Lebensbahnen zu zerstören und die Angst, selber dem Medienurteil zu erliegen.

Nur wer das Medientheater ernst nimmt, steht vor dem bösen Dilemma des doublethink, "the power of holding two contradictory beliefs in one’s mind simultaneously, and accepting both of them." (223) Der naive Geist steht verstört vor dem unlösbaren Konflikt: Königliches Spiel und Bäuerliches Verhalten. Das Royalitätsattribut, sofern es Berechtigung besitzt, erlangt das Schach nicht, weil in ihm eine Figur namens "König" eine gewisse Rolle spielt – das ist nur Konvention, am Spiel würde sich nichts ändern, nennte man sie "Gnom" oder "Esel" oder nur "Figur 1" –, der hohe Status lässt sich nur durch seine majestätische Dimension spielintrinsich begründen, der auf seiner Komplexität beruht, aber auch auf der fast vollständigen Abwesenheit des Zufalls, in anderen Worten der Möglichkeit des Betrugs. Deshalb haben sich seit je Könige und Edle angezogen gefühlt. Wenn sich Schachspieler, die man ja gerne als "Denker" auszeichnet, wie gewöhnliche Menschen verhalten, um so mehr wenn es sich um öffentliche Personen handelt, wenn sie innerhalb des Milieus aber außerhalb des Schachs betrügen (oder dies sich gegenseitig vorwerfen), bringen sie das Spiel aus dem Gleichgewicht (doublethink) und in Verruf. Wer weiß, vielleicht sind die Heroen auch nur Orwellsche "proles" oder reine Schachhirne in Nadelstreifen, verkleidete Nichtse?

 

Und wer weiß, vielleicht ist sogar das Schach nur ein Kältetrainingsinstrument? In Oceania, im Gruselreich des Big Brother scheint es jedenfalls neue Blüten zu treiben, zum Volkssport der Einsamen geworden zu sein. Ja, der gesamte gesellschaftliche Aufbau gleicht mit seiner spiegelbildlichen Organisation einer gigantischen Schachpartie; eine genaue Analyse könnte vermutlich das gesamte Buch als Schachbuch enttarnen, seine Handlung als Partie, seine Konstellation als schachliche. "War is Peace", "Ignorance is Strength" etc., all diese scheinbar absurden Gleichungen, bedeuten so viel wie "Black is White" und "Gut ist Böse", zumindest genauso, wie Böse böse ist …

Keine andere Beschäftigung findet in Orwells Entwurf so oft Erwähnung. Man spielt es in den seelenlosen Bars (80), es figuriert in den inhaltslosen philosophischen Traktaten – "Ingsoc in relation to chess" (115) [3] –, man wagt mit ihm in einer leb- und bildlosen Sprache die letzten Metaphern (115) und die Zwangskonformierten vertiefen sich, wenn überhaupt, nur noch in Schachrätsel (301-310) [4]. Warum wohl? Weshalb schien es Orwell so geeignet für diese Welt der toten Seelen?

Literatur: George Orwell: Nineteen Eighty-Four (1949). London 1990. Penguin Books
Orwell Chess: http://home.earthlink.net/~guardcaptain/OrwellW.html

Szene aus dem Film "Nineteen Eighty-Four" von Michael Radford (1984) mit John Hurt in der Hauptrolle

 

--- Jörg Seidel, 09.02.2007 ---


[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Palimpsest
[2] http://sport.guardian.co.uk/chess/story/0,,2001010,00.html
[3] Orwells deutlichster Verweis auf die innere schachanaloge Organisation.
[4] http://www.youtube.com/watch?v=WNuVVgh1HTw


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