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BIG BROTHER IS WATCHING
YOU!
Oder: Ein Lob der Naivität.
"In this game that we're playing, we can't win."
George Orwell
George Orwells Grab in Sutton Courtenay
(aufgenommen am 4.2.2007)
Es gibt gute Gründe, George Orwells
"Nineteen Eighty-Four" immer mal wieder in
die Hand zu nehmen. Liest man das Buch als konkrete
negative Utopie, als Dystopie, kann es enttäuschend
wirken, so weit entfernt scheint es vom modernen Alltag
zu sein; seine tieferen Wahrheiten findet man auf abstrakter
Ebene.
In Schachkreisen hat man nun mindestens
dreifach Grund, sich des Klassikers zu besinnen, dessen
tiefste Einsicht in die Formel gefasst werden kann:
Schein ist Sein. Medien schaffen Realität, vollkommen
unabhängig davon, ob sie die Wahrheit sagen oder
nicht. "Reality", so muss sich Winston, der
rebellische Parteikader von seinem Foltermeister OBrien
sagen lassen – "Reality is not external. Reality
exists in the human mind, and nowhere else. Not in the
individual mind, which can make mistakes, and in any
case soon perishes: only in the mind of the Party, which
is collective and immortal. Whatever the Party holds
to be truth, is truth. (261) Man muss nur das
Wort "Partei mit dem Wort "Medien
ersetzen und die Aktualität der Zeilen wird unübersehbar.
Geschichte ist ein Palimpsest [1] (42), ein Blatt Papier,
dessen Oberfläche immer wieder neu gelöscht
und beschrieben werden kann. Nur die aktuellste Oberfläche,
oder die am stärksten aufgetragene, bleibt im Gedächtnis,
die spektakulärste. Man wird z. B. Clinton noch
in 100 Jahren mit Spermaflecken verbinden, wenn er als
Politiker so vergessen sein wird wie heutzutage Grover
Cleveland, und als vor wenigen Tagen britische Polizisten
eine Gruppe junger Muslime in Birmingham festnahmen,
die geplant haben sollen, einen in der Army dienenden
Glaubensgenossen zu entführen, vor laufender Kamera
zu enthaupten und die grausamen Bilder zu veröffentlichen,
da trat ein Vater vor die Linse und erklärte: Wenn
mein Sohn unschuldig sein sollte, werden dann wieder
hunderte Kameras vor meinem Haus stehen und seine Unschuld
verkünden? Natürlich nicht! Dieser Mensch
ist ein Terrorist und wird es bleiben, er mag es gewesen
sein oder nicht. Je perverser die Schandtat, umso gewisser
der Stempel. Geschichte heute ist ein Palimpsest.
Hat man diese Logik einmal begriffen,
dann bekommen die unerhörten Anschuldigungen gegen
Kramnik plötzlich Sinn. In seinem Nachruf wird
einst der Satz zu lesen sein: Bei der WM 2006 in Elista
wurde er von seinem bulgarischen Gegner Topalow des
Betrugs bezichtigt – ganz gleich, ob sich auch
nur ein Gran Wahrheit in dieser Behauptung findet. Dabei
spielen die Schiedsrichter schon längst die Rolle
Big Brothers, hatten sie weniger das Brett denn die
Ruheräume der Kombattanten via Videoüberwachung
zu kontrollieren. Freilich gab es einen blinden Fleck,
unserer Noch-Prüderie geschuldet: die Toilette.
Dass es ihn gab, enthält schon den Verdacht
und wer sich dort aufhält, der hat Finsteres im
Sinn, dem muss man schon misstrauen. Vielleicht suchte
er nur Einsamkeit? Hatte er einen "taste for solitude?"
Wusste er denn nicht, dass in einer Überwachungsgesellschaft
gilt: "even to go for a walk by yourself, was slightly
dangerous.
Ownlife, it was called"
(85)
und ist natürlich unerwünscht.
Alle, die noch in der brave old world
des Schachs leben, hätten diesen abstoßenden
Gedanken gar nicht fassen können, hätten ihn
im Orwellschen Vokabular als "Thoughtcrime"
– das Undenkbare denken – charakterisiert,
aber unter zweckzynischem Vorzeichen war die Idee nur
konsequent. Die Verursacher gehen volles Risiko, sie
müssen schließlich gewusst haben, dass die
akute Gefahr besteht, wenn schon nicht aus der Realgeschichte
so doch aus der Moralgemeinschaft ausgeschlossen zu
werden, "abolished, annihilated: vaporized was
the usual word" (21).
Wie tief wir schon in der Big-Brother-Welt
versunken sind, zeigen die Gegenvorwürfe, in denen
der Ankläger zum Verbrecher gestempelt wird, wie
Winston im legendären Room 101. Dabei geht es nicht
nur um Rache, sondern mehr noch um die Unterminierung
der Glaubwürdigkeit, denn wer einmal bescheißt,
der tuts immer und dem können wir nicht mehr
glauben, auch rückwirkend nicht. Da soll sich nun
Topalows Manager, dessen Rolle seit Jahren umstritten
ist (ich sage das, um wenigstens die Illusion
des integren Sportsmannes aufrecht zu erhalten), des
schweren Vergehens des Zeichengebens schuldig gemacht
haben. Was man Kramnik auf dem stillen Örtchen
zutraute, das soll nun in aller Öffentlichkeit
– nach dem alten Motto: Auffälligkeit ist
das beste Versteck – geschehen sein: der Computer
wurde zu Hilfe genommen. Wusste Danailow denn nicht?:
"It was terribly dangerous to let your thoughts
wander when you were in any public place or within range
of a telescreen. The smallest thing could give you away.
A nervous tic, an unconscious look of anxiety, a habit
of muttering to yourself – anything that carried
with it the suggestion of abnormality, of having something
to hide
Facecrime it was called.
(65) Wer plump mit Sonnenbrille ankommt, Grimassen zieht
und Zeichen gibt, der macht sich der Gesichtskriminalität
schuldig und gehört von der "Thought Police"
eingesperrt, egal, ob was dran ist oder nicht. Diesmal
lief der eifrige Impresario selbst in die laufende Aufmerksamkeit
und Kamera eines Journalisten, der ganz zufälligerweise
wiederum mit Kramnik assoziiert wird [2]. In dessen Lager
macht man sich wenigstens nicht selbst die Hände
schmutzig; schon deshalb verdient er – ob des weitgreifenderen
strategischen Verständnisses – Weltmeister
genannt zu werden. Dieses Verhalten ist nun umso dümmer,
als man mit erhöhter Beflissenheit hatte rechnen
müssen. Aber es zeigt auch, wie schwer die Logik
der Totalüberwachung zu begreifen ist. Auch hinter
der Kamera ist vor der Kamera. Nun wird der Henker
gehenkt, und selbst dazu hatte Orwell schon den passenden
Text verfasst: "The enemy of the moment always
represented absolute evil, and it followed that any
past or future agreement with him was impossible."
(36). Im zweiten Satzteil lesen wir, was auf uns zukommen
könnte; Stichwort Revanchekampf. Kein Grund zur
Panik jedoch. Das Spiel ist unendlich und kann morgen
schon ganz anders aussehen, schon morgen kann Topalow
wieder everybodys darling sein. "Everything
faded into mist. The past was erased, the erasure was
forgotten, the lie became truth." (78)
Das umschreibt das ganze Geheimnis: Die
Sendung ist die Wahrheit, nicht der Inhalt. Die
Behauptung überlebt, nicht ihre Widerlegung. Die
Veröffentlichung eines dauerhaften Buches (Sendung)
über den Toilettenkrieg – von Topalows Partei
aus – zeigt den unbedingten Willen, Lebensbahnen
zu zerstören und die Angst, selber dem Medienurteil
zu erliegen.
Nur wer das Medientheater ernst nimmt,
steht vor dem bösen Dilemma des doublethink,
"the power of holding two contradictory beliefs
in ones mind simultaneously, and accepting both
of them." (223) Der naive Geist steht verstört
vor dem unlösbaren Konflikt: Königliches Spiel
und Bäuerliches Verhalten. Das Royalitätsattribut,
sofern es Berechtigung besitzt, erlangt das Schach nicht,
weil in ihm eine Figur namens "König"
eine gewisse Rolle spielt – das ist nur Konvention,
am Spiel würde sich nichts ändern, nennte
man sie "Gnom" oder "Esel" oder
nur "Figur 1" –, der hohe Status lässt
sich nur durch seine majestätische Dimension spielintrinsich
begründen, der auf seiner Komplexität beruht,
aber auch auf der fast vollständigen Abwesenheit
des Zufalls, in anderen Worten der Möglichkeit
des Betrugs. Deshalb haben sich seit je Könige
und Edle angezogen gefühlt. Wenn sich Schachspieler,
die man ja gerne als "Denker" auszeichnet,
wie gewöhnliche Menschen verhalten, um so mehr
wenn es sich um öffentliche Personen handelt, wenn
sie innerhalb des Milieus aber außerhalb des Schachs
betrügen (oder dies sich gegenseitig vorwerfen),
bringen sie das Spiel aus dem Gleichgewicht (doublethink)
und in Verruf. Wer weiß, vielleicht sind die Heroen
auch nur Orwellsche "proles" oder reine Schachhirne
in Nadelstreifen, verkleidete Nichtse?
Und wer weiß, vielleicht ist sogar
das Schach nur ein Kältetrainingsinstrument? In
Oceania, im Gruselreich des Big Brother scheint es jedenfalls
neue Blüten zu treiben, zum Volkssport der Einsamen
geworden zu sein. Ja, der gesamte gesellschaftliche
Aufbau gleicht mit seiner spiegelbildlichen Organisation
einer gigantischen Schachpartie; eine genaue Analyse
könnte vermutlich das gesamte Buch als Schachbuch
enttarnen, seine Handlung als Partie, seine Konstellation
als schachliche. "War is Peace", "Ignorance
is Strength" etc., all diese scheinbar absurden
Gleichungen, bedeuten so viel wie "Black is White"
und "Gut ist Böse", zumindest genauso,
wie Böse böse ist
Keine andere Beschäftigung findet
in Orwells Entwurf so oft Erwähnung. Man spielt
es in den seelenlosen Bars (80), es figuriert in den
inhaltslosen philosophischen Traktaten – "Ingsoc
in relation to chess" (115) [3] –, man wagt mit
ihm in einer leb- und bildlosen Sprache die letzten
Metaphern (115) und die Zwangskonformierten vertiefen
sich, wenn überhaupt, nur noch in Schachrätsel
(301-310) [4]. Warum wohl? Weshalb schien es Orwell so
geeignet für diese Welt der toten Seelen?
Literatur: George Orwell: Nineteen
Eighty-Four (1949). London 1990. Penguin Books
Orwell Chess: http://home.earthlink.net/~guardcaptain/OrwellW.html
Szene aus dem Film
"Nineteen Eighty-Four" von Michael Radford (1984)
mit John Hurt in der Hauptrolle
--- Jörg Seidel, 09.02.2007 ---
[1]
http://de.wikipedia.org/wiki/Palimpsest
[2] http://sport.guardian.co.uk/chess/story/0,,2001010,00.html
[3] Orwells deutlichster
Verweis auf die innere schachanaloge Organisation.
[4] http://www.youtube.com/watch?v=WNuVVgh1HTw
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