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POLEMIK
27. Januar 2004

Schach und Ebay

Aber Gott sprach zu ihm:
Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern;
und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?
Lukas 12.20

Quizfrage: Wo trifft sich allabendlich die größte Schachgemeinde? Zu Hause am Kamin? In der Kneipe nebenan? Im Verein? Beim Turnier? Nee, nee mein Freund, das war mal, das waren die "Goldenen Schachzeiten". Im Internet? Ja, da kommen wir der Sache schon näher. Also auf den Schachservern? Kann sein, aber ich gehe jede Wette ein, dass es woanders ist, dort, wo sich alle Gemeinden neuerdings treffen, die Modelleisenbahner, die Theologiestudenten, die Bibliophilen, die Antikhaie…, dort treffen sich neuerdings auch die Schachspieler: bei Ebay!

Glaub mir, der das schreibt, weiß wovon er spricht. Aktiver Ebayer seit drei Jahren mit über 400 Aktionen! Im Klartext: einige hundert Bücher, davon fünf, sechs Dutzend Schachbücher, ein Schachcomputer "Mephisto Exclusive", diverse Spielutensilien, meterweise Zeitschriftenjahrgänge, ’ne ganze Reihe an Chessbase Eröffnungskram und andere CD ROM, selbst mein Laptop, die Digicam und die 143 Goethebände, alles von Ebay. Zurzeit sind ständig mehr als 2000 Schachartikel im Angebot, davon 1000 Bücher, und täglich kommen 300 neue hinzu. Ich kenne sie alle, "Aljechin", "Euwe", "Lasker" und "Kortschnoj", "Schachfrucht" und "echessplayer", "thomegg" "bdomsgen" und all die anderen Ebayjunkies. Die einen verkaufen, die andern kaufen und die meisten tun beides zur gleichen Zeit. Schließlich muss ja der ganze Krempel irgendwo hin, den man sich anschafft.

Nimm ein Schachbuch, eins von den hundert oder fünfhundert, die bei dir im Regal verstauben, und selbst wenn’s nur zehn sind, das ändert nichts an der Sache; nimm dieses Schachbuch und lies es! Kann man ein Schachbuch lesen wie einen Roman, einen Krimi? Man muss es d u r c h a r b e i t e n. Sechs Stunden pro Partieanalyse sollte man veranschlagen, hat mal einer gesagt, der es wissen muss (Karpow oder Tal oder Boleslawski, egal, Recht hatte der Mann). Hast du sechs Stunden Zeit am Tag um eine Meisterpartie zu analysieren? Das braucht zwei, drei Tage mindestens. Tarraschs "300 Schachpartien" – ein Buch, das ich immer noch bei Ebay suche – wird dann zur Lebensaufgabe. Fazit: eigentlich kann man im normalen Schachleben kaum mehr als zehn oder zwanzig Bücher gewinnbringend lesen, das macht gerade mal 10% der Klassiker aus. Aber jeder neue Titel flüstert dir zu: Hier steht die endgültige Wahrheit, die du schon immer wissen wolltest; dies hier musst du kennen, um endlich ein ernstzunehmender Spieler zu werden; du brauchst bessere Eröffnungskenntnisse; nein, dein Mittelspiel ist zu ideenlos; ach was, wie viele Partien hast du durch planloses Endspiel vergeigt?; Halt!, was dir fehlt ist das Wissen um die richtige Strategie; aber was nützt dir die Strategie, wenn du schon wieder den taktischen Schlag nicht gesehen hast?; und überhaupt solltest du mehr auf die Psychologie achten; außerdem brauchst du endlich eine wissenschaftliche Trainingsmethode; vor allem musst du endlich damit beginnen, die alten Meister zu studieren, nur so kannst du Kasparow und Schirow verstehen und das willst du doch, oder? Was also macht man: man liest Schachbücher wie Krimis und kann am Wochenende wieder die Bauernmehrheit am Damenflügel nicht verwerten. Klar, also muss ein Buch über die Verwertung der Bauernmehrheit am Damenflügel ran, und, dank Ebay, sind da gerade vier Stück im Angebot. Am Besten, du nimmst sie gleich alle.

Einer der originellsten deutschsprachigen Denker bringt es auf die griffige Formel: Man lebt eigentlich nur, um einzukaufen oder zu parken" [1]. Und, so möchte man fortfahren, um den unerfüllbaren Träumen nachzulaufen.

Nach drei Jahren Ebay hast du also ein Problem: zu viele Bücher.

Aber zum Glück gibt es dafür auch eine Lösung und die lautet: Ebay! Es gibt keinen besseren Platz, allen Überfluss loszuwerden, als das Internetauktionshaus. Nicht nur gibt es dort alles, was man sich nur denken kann und vieles, von dem du nicht mal zu träumen wagtest, sondern Leute kaufen dort auch alles, was es gibt. Du kriegst dort alles los, sofern ein paar grundlegende Hinweise beachtet werden. Mehr noch, man kann richtig gutes Geld machen. Aus den einst begehrten Büchern wird umgekehrt begehrenswertes Geld. Eifrige Händler wie, "zimt" oder "tflirgn" wissen, was ich meine. Lustig ist nur, dass dieselben Leute, von denen du einst gekauft hast, nun von dir kaufen. Gerade die Ebay-Schachszene ist großteils eine geschlossene: Waren und Gelder kursieren dort im Kreislauf.

Ein paar Tipps zum Bieten und Einstellen gefällig? Nicht zu viele, damit es mir nicht ergeht wie olle Rubinstein, der ganz naiv seine Eröffnungstricks veröffentlichte und dafür heftig einstecken musste [2]. Jeder Leser ist potentieller Konkurrent.

Grundregel Nr. 1: nur die letzte Minute zählt. Wer vorher bietet, treibt lediglich den Preis hoch. Außerdem bekommt der Frühbieter so gut wie nie, was er will, es sei denn, er hat einen utopischen Betrag in die Tastatur gehämmert. Und da jeder darauf hofft, ein Schnäppchen zu machen, sollte es zum Ehrenkodex jedes sich selbstachtenden Ebayers gehören, nur am Ende der Auktion zu bieten. Das ist dann wie eine ge/missglückte Abschlusskombination in einer Blitzpartie. Wer verkaufen will, sollte unbedingt ein gutes und schnell ladendes Bild zufügen. Niemand kauft heutzutage, wo sich fast alle Wünsche visuell ankündigen, ungesehen. Außerdem den Artikel gut, übersichtlich und ausführlich beschreiben, ohne einen Roman zu verfassen oder zu deutlich verbal zu werben. Die Sache muss sich selbst anpreisen. Unbedingt die Versandkosten mit angeben und diese so niedrig als möglich. Erfahrung besagt, dass Betrüger, die über extraordinäre Versandkosten noch Zusatzprofite einstreichen wollen, oftmals aus Prinzip auf der Ware sitzen bleiben, sei sie noch so attraktiv. Einstiegspreis sollte stets 1 Euro sein. Die Leute wollen das Gefühl haben, vor einer Gelegenheit zu stehen. Wer hoch einstellt, verkauft meist schlechter. Bieten ist ein Wettkampf, ein Sport und hat etwas mit Wettintelligenz, Nervenstärke, Cleverness zu tun. Der Käufer will nicht nur sein Haben-Bedürfnis befriedigen, sondern auch sein Selbstwertgefühl. Also muss man ihm die Gelegenheit geben, sich im Wettbewerb bewähren zu können. Man könnte problemlos eine Psychologie des Bieters erstellen. Am Ende hat man, nicht anders als im Schach, gewonnen oder verloren und man lässt sich genau so erschöpft und glücklich in den Sessel sinken oder über strategisch-taktische Fehler grübeln, wie nach einer guten Partie. Je höher der Einsatz, je wünschenswerter das Objekt der Begierde, umso größer die An- und Entspannung. Präsenz ist das Schlüsselwort: du musst nicht nur da sein, wenn es zählt (und nur dann!), sondern auch geistig wach.

Vorbildliche Präsentation von Power Seller "Schachfrucht"

Es gibt aber auch spezifische Ärgernisse des Bietens; die können objektiver und subjektiver Natur sein. Oft wird man, sich seines Sieges sicher, in letzter Sekunde abgefangen. Selbst Schuld: zu früh geboten. Der andere war einfach besser, sich einem solchen Gegner zu beugen, stellt keine Schande dar. Riskiert man aber den letzten Augenblick, so kann es geschehen, dass man zu spät kommt; die Auktion ist beendet ohne deinen Beitrag, jemand hat den Artikel für einen lächerlich erscheinenden Preis erworben. Gönne es ihm. Besonders ärgerlich, wenn auch nicht zu ändern, sind Verbindungsunterbrechungen, aufgehängte Computer oder Übertragungslangsamkeit. Nicht nur einmal habe ich eine unbebotene Werkausgabe oder ein antikes Schachset verpasst, weil die Verbindung zusammenbrach. Andererseits fühlte ich mich moralisch besser, denn ebenso wie der Verkäufer seinen Kunden übers Ohr hauen kann, so mag auch der Käufer Nutznießer eines Einstellungsfehlers sein. Der Verkäufer wäre dann juristisch verpflichtet, einen Artikel weit unter Sachwert zu verkaufen. Trotz dieser moralischen Bedenken gilt: das gute Geschäft ist oft nur bei falsch oder schlecht eingestellten Artikeln zu machen. Wer seine Erstausgabe des "Schach von Wuthenow" in der Schachrubrik einstellt, wird die Fontanefreunde nicht finden. Ebay ist einem riesigen Labyrinth vergleichbar in dem jeder Nutzer seinem eigenen Ariadnefaden folgt; was davon abseits liegt, bleibt ihm verborgen. Ein ausgeklügeltes Suchsystem sollte sich der passionierte Ebayer jedenfalls zulegen und mit dessen Hilfe den Riesenwust an Ware tagtäglich durchkämmen. Mit anderen Worten: Eine halbe Stunde pro Tag wird man, mindestens, investieren müssen, um…hmm, mal nachrechnen, das macht 180 Stunden im Jahr, also siebeneinhalb Tage á 24 Stunden; bei sechs Stunden pro Partieanalyse könnte ich also 30 von den 300 richtig durcharbeiten und würde wahrscheinlich wirklich was lernen; in der Zeit, die ich damit verbringe Bücher zu erwerben, die ich lesen möchte, könnte ich diese Bücher lesen, statt sie zu erwerben…

 

Einmal einen Artikel auf dem Wunschzettel, sprich Beobachtungsliste, sollte man sich in einer ruhigen Minute ernsthaft befragen, wie viel er einem wert ist. Nur wer sein Begehren an der obersten Schmerzgrenze stoppen kann, entgeht dem Frust und der bitteren Selbsteinsicht, seiner Gier, aufgesessen zu sein. Ebay stellt viel mehr eine Schule des Entsagen- als des Haben-Könnens dar. Frei sein heißt Verzichten können, heißt, das "muss" aus dem Vokabular zu streichen, heißt sein-lassen. "Nicht wer zu wenig hat, sondern wer mehr begehrt, ist arm" [3]. Von den 30 Artikeln, die der Profi jederzeit beobachtet, wird er vielleicht nur jeden zehnten aktiv bebieten (alle anderen fallen zuvor wegen Grenzüberschreitung weg) und von diesen zehn Prozent wird er ca. jeden dritten erwerben. Man sollte nie vergessen: was einmal bei Ebay auftaucht, taucht auch wieder auf und früher oder später taucht alles einmal auf. Geduld und Gelassenheit sind des Bidders Kardinaltugenden. Aller Besitz verliert seine zerstörerische Kraft, wenn man auf ihn verzichten, wenn man sich und ihn sein lassen kann. Und: es gibt immer jemanden, der mehr Geld hat als du.

Ebay ist aber mehr als nur Kaufen und Verkaufen, es lehrt uns viel über uns selbst. Eines der faszinierendsten Phänomene, die man im Autoexperiment verfolgen kann, ist die Rationalisierung. Ob man nun zu viel oder zu wenig geboten, ob man gewonnen oder verloren hat, letztendlich redet man sich immer alles zu Recht. Am späten Abend, beim Glas Wein oder Bier, tendiert man zur Selbstüberschätzung. Es ist ratsam, dann Ebay zu meiden, ebenso wie man nie hungrig einkaufen gehen sollte. Geschieht es aber doch, hat man einen zu hohen Preis oder auf ein eher fragwürdiges Objekt geboten, vielleicht die Nacht schlecht geschlafen in der bangen Hoffnung, überboten worden zu sein, um am Morgen doch mit "Herzlichen Glückwunsch" begrüßt zu werden, so wird man schnell feststellen, wie die Sicht auf die Dinge sich ändert, wie notwendig man das Buch nun doch brauchte. Umgekehrt verliert selbst der begehrteste Artikel an ideellem Wert, im selben Moment, indem man überboten wurde: "Ich brauche das doch alles nicht, um glücklich zu sein", versichert sich die verletzte Seele.

Seneca: mit seinen Werken sollte der eifrige Ebayer vertraut sein!

Auch die Bewertung lässt oft tief blicken. Hier regieren Macht und Angst. Ähnlich dem ELO- oder DWZ-System muss man viele Punkte haben, um wer zu sein; schon eine einzige negative Bemerkung irgendeines Cholerikers kann die weiße Weste beflecken und zur Vertrauenseinbuße führen. Sein definiert sich in der Leistungsgesellschaft quantitativ; jemand sein heißt, besser sein als… Andererseits verleihen ELO und Ebay-Wertzahlen nicht nur das anreizende Gefühl des Wettbewerbs, sondern auch einer spezifischen Gemeinschaft Gleichgesinnter anzugehören, in der sich potentiell jeder mit jedem "treffen" und messen kann. Automatisch setzt eine Außendynamik ein, verdrängt die inneren Antriebe des Spiel- und Tauschaktes und führt in extremen Fällen regelrecht zur Furcht vor Punkt- und Statusverlust. Wie oft haben mich Leute angeschrieben, angefleht förmlich, ich möge ihnen doch eine positive Bewertung zukommen lassen. Wie kommen wildfremde Menschen dazu, zu flehen, zu bitten, zu betteln, zu schmeicheln, weshalb erregen sie sich endlos bei einer schlechten Bewertung, fühlen sich tief in ihrer Ehre verletzt? Es würde mich nicht wundern, einmal in der Morgenzeitung zu lesen: "Mord wegen negativer Bewertung!" Menschen brauchen Lob und Zuneigung. Selbst von Unbekannten und Fremden. Umso mehr, wenn Familienbanden sich lösen und Arbeitsklimas kälter werden. Menschen richten ihr Verhalten immer auf andere, wir sind für den anderen und nehmen uns durch den Spiegel des anderen wahr. Jedes "Geschäft" ist auch eine Interrelation, ein "Dialog" mit all seinen heimlichen Versprechungen und Risiken. Und Ebay ist der postmoderne melting pot.

Schließlich gibt es auch die Freude des Empfangens, die Vorfreude des Wartens, die Geschenksituation, der man nimmer müde wird und die kurzzeitig an die mütterliche Geborgenheit der Kindheit erinnern lässt. Weihnachten ist für den Ebayer das ganze Jahr! Umso mehr, da es ein Geschenk ist, das ich mir selbst bereite und auf das ich mich aufrichtig freue. Wenn Onanie Sex mit einer Person ist, die ich wirklich liebe [4], so ist der Ebay-Artikel das Geschenk von einem Menschen, den ich wirklich liebe und der mich wirklich liebt, ohne mich einer Dankesverpflichtung unterwerfen zu müssen.

Ebay ist mehr als ein gigantischer virtueller Trödelmarkt, es ist eine Lebenseinstellung.

 

Ein guter Freund hatte seinen ganzen Lebenshaushalt damit verdient. Er, seine Frau, die beiden kleinen Zwillinge haben gut, sehr gut davon leben können. Alte Klamotten aufkaufen und Einstellen. Einmal hatte er spaßeshalber eine alte leere Matchboxschachtel eingestellt und sage und schreibe 150 Euro dafür eingefahren. Ein Schiffsmodell aus der Kriegszeit verkaufte er noch für einen Tausender, kurz bevor er, 35jährig, am Computer starb: plötzlicher Herztod.

 

 

--- Jörg Seidel, 27.01.2004 ---


[1] Helge Schneider: Guten Tach. Auf Wiedersehn. Autobiographie, Teil I. S. 147. Dieser Geniestreich wird bei Ebay weit unter Wert gehandelt; ab 1 Euro ist man dabei!
[2] Vgl. Strouhal: Schach. Die Kunst des Schachspiels. S. 110 – ein ideenreicher Foliant, den man bei Ebay schon ab 5 Euro kriegen kann.
[3] Seneca: Philosophische Schriften Band III, S. 4 – des alten Lebemeisters Gesammelte Werke – ein Schatz, den auszuschöpfen ein Leben nicht reicht – kann man regelmäßig bei Ebay erwerben.
[4] Woody Allen in "Annie Hall", einer der 27 Allen DVD's, die ich bei Ebay zum Vorzugspreis erstand


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