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Schach und Ebay
Aber Gott
sprach zu ihm:
Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern;
und wem wird dann gehören, was du angehäuft
hast?
Lukas 12.20
Quizfrage: Wo trifft sich allabendlich
die größte Schachgemeinde? Zu Hause am Kamin?
In der Kneipe nebenan? Im Verein? Beim Turnier? Nee,
nee mein Freund, das war mal, das waren die "Goldenen
Schachzeiten". Im Internet? Ja, da kommen wir der
Sache schon näher. Also auf den Schachservern?
Kann sein, aber ich gehe jede Wette ein, dass es woanders
ist, dort, wo sich alle Gemeinden neuerdings treffen,
die Modelleisenbahner, die Theologiestudenten, die Bibliophilen,
die Antikhaie
, dort treffen sich neuerdings auch
die Schachspieler: bei Ebay!
Glaub
mir, der das schreibt, weiß wovon er spricht.
Aktiver Ebayer seit drei Jahren mit über 400 Aktionen!
Im Klartext: einige hundert Bücher, davon fünf,
sechs Dutzend Schachbücher, ein Schachcomputer
"Mephisto Exclusive", diverse Spielutensilien,
meterweise Zeitschriftenjahrgänge, ne ganze
Reihe an Chessbase Eröffnungskram und andere CD
ROM, selbst mein Laptop, die Digicam und die 143 Goethebände,
alles von Ebay. Zurzeit sind ständig mehr als 2000
Schachartikel im Angebot, davon 1000 Bücher, und
täglich kommen 300 neue hinzu. Ich kenne sie alle,
"Aljechin", "Euwe", "Lasker"
und "Kortschnoj", "Schachfrucht"
und "echessplayer", "thomegg" "bdomsgen"
und all die anderen Ebayjunkies. Die einen verkaufen,
die andern kaufen und die meisten tun beides zur gleichen
Zeit. Schließlich muss ja der ganze Krempel irgendwo
hin, den man sich anschafft.
Nimm ein Schachbuch, eins von den hundert
oder fünfhundert, die bei dir im Regal verstauben,
und selbst wenns nur zehn sind, das ändert
nichts an der Sache; nimm dieses Schachbuch und lies
es! Kann man ein Schachbuch lesen wie einen Roman, einen
Krimi? Man muss es d u r c h a r b e i t e n.
Sechs Stunden pro Partieanalyse sollte man veranschlagen,
hat mal einer gesagt, der es wissen muss (Karpow oder
Tal oder Boleslawski, egal, Recht hatte der Mann). Hast
du sechs Stunden Zeit am Tag um eine Meisterpartie zu
analysieren? Das braucht zwei, drei Tage mindestens.
Tarraschs "300 Schachpartien" – ein Buch,
das ich immer noch bei Ebay suche – wird dann zur
Lebensaufgabe. Fazit: eigentlich kann man im normalen
Schachleben kaum mehr als zehn oder zwanzig Bücher
gewinnbringend lesen, das macht gerade mal 10% der Klassiker
aus. Aber jeder neue Titel flüstert dir zu: Hier
steht die endgültige Wahrheit, die du schon immer
wissen wolltest; dies hier musst du kennen, um endlich
ein ernstzunehmender Spieler zu werden; du brauchst
bessere Eröffnungskenntnisse; nein, dein Mittelspiel
ist zu ideenlos; ach was, wie viele Partien hast du
durch planloses Endspiel vergeigt?; Halt!, was dir fehlt
ist das Wissen um die richtige Strategie; aber was nützt
dir die Strategie, wenn du schon wieder den taktischen
Schlag nicht gesehen hast?; und überhaupt solltest
du mehr auf die Psychologie achten; außerdem brauchst
du endlich eine wissenschaftliche Trainingsmethode;
vor allem musst du endlich damit beginnen, die alten
Meister zu studieren, nur so kannst du Kasparow und
Schirow verstehen und das willst du doch, oder? Was
also macht man: man liest Schachbücher wie
Krimis und kann am Wochenende wieder die Bauernmehrheit
am Damenflügel nicht verwerten. Klar, also muss
ein Buch über die Verwertung der Bauernmehrheit
am Damenflügel ran, und, dank Ebay, sind da gerade
vier Stück im Angebot. Am Besten, du nimmst sie
gleich alle.
Einer der originellsten deutschsprachigen
Denker bringt es auf die griffige Formel: Man lebt eigentlich
nur, um einzukaufen oder zu parken" [1]. Und, so möchte
man fortfahren, um den unerfüllbaren Träumen
nachzulaufen.
Nach drei Jahren Ebay hast du also ein
Problem: zu viele Bücher.
Aber zum Glück gibt es dafür
auch eine Lösung und die lautet: Ebay! Es gibt
keinen besseren Platz, allen Überfluss loszuwerden,
als das Internetauktionshaus. Nicht nur gibt es dort
alles, was man sich nur denken kann und vieles, von
dem du nicht mal zu träumen wagtest, sondern Leute
kaufen dort auch alles, was es gibt. Du kriegst dort
alles los, sofern ein paar grundlegende Hinweise beachtet
werden. Mehr noch, man kann richtig gutes Geld machen.
Aus den einst begehrten Büchern wird umgekehrt
begehrenswertes Geld. Eifrige Händler wie, "zimt"
oder "tflirgn" wissen, was ich meine. Lustig
ist nur, dass dieselben Leute, von denen du einst gekauft
hast, nun von dir kaufen. Gerade die Ebay-Schachszene
ist großteils eine geschlossene: Waren und Gelder
kursieren dort im Kreislauf.
Ein paar Tipps zum Bieten und Einstellen
gefällig? Nicht zu viele, damit es mir nicht ergeht
wie olle Rubinstein, der ganz naiv seine Eröffnungstricks
veröffentlichte und dafür heftig einstecken
musste [2]. Jeder Leser ist potentieller Konkurrent.
Grundregel Nr. 1: nur die letzte Minute
zählt. Wer vorher bietet, treibt lediglich den
Preis hoch. Außerdem bekommt der Frühbieter
so gut wie nie, was er will, es sei denn, er hat einen
utopischen Betrag in die Tastatur gehämmert. Und
da jeder darauf hofft, ein Schnäppchen zu machen,
sollte es zum Ehrenkodex jedes sich selbstachtenden
Ebayers gehören, nur am Ende der Auktion zu bieten.
Das ist dann wie eine ge/missglückte Abschlusskombination
in einer Blitzpartie. Wer verkaufen will, sollte unbedingt
ein gutes und schnell ladendes Bild zufügen. Niemand
kauft heutzutage, wo sich fast alle Wünsche visuell
ankündigen, ungesehen. Außerdem den Artikel
gut, übersichtlich und ausführlich beschreiben,
ohne einen Roman zu verfassen oder zu deutlich verbal
zu werben. Die Sache muss sich selbst anpreisen. Unbedingt
die Versandkosten mit angeben und diese so niedrig als
möglich. Erfahrung besagt, dass Betrüger,
die über extraordinäre Versandkosten noch
Zusatzprofite einstreichen wollen, oftmals aus Prinzip
auf der Ware sitzen bleiben, sei sie noch so attraktiv.
Einstiegspreis sollte stets 1 Euro sein. Die Leute wollen
das Gefühl haben, vor einer Gelegenheit zu stehen.
Wer hoch einstellt, verkauft meist schlechter. Bieten
ist ein Wettkampf, ein Sport und hat etwas mit Wettintelligenz,
Nervenstärke, Cleverness zu tun. Der Käufer
will nicht nur sein Haben-Bedürfnis befriedigen,
sondern auch sein Selbstwertgefühl. Also muss man
ihm die Gelegenheit geben, sich im Wettbewerb bewähren
zu können. Man könnte problemlos eine Psychologie
des Bieters erstellen. Am Ende hat man, nicht anders
als im Schach, gewonnen oder verloren und man lässt
sich genau so erschöpft und glücklich in den
Sessel sinken oder über strategisch-taktische Fehler
grübeln, wie nach einer guten Partie. Je höher
der Einsatz, je wünschenswerter das Objekt der
Begierde, umso größer die An- und Entspannung.
Präsenz ist das Schlüsselwort: du musst nicht
nur da sein, wenn es zählt (und nur dann!), sondern
auch geistig wach.
Vorbildliche Präsentation von Power
Seller "Schachfrucht"
Es gibt aber auch spezifische Ärgernisse
des Bietens; die können objektiver und subjektiver
Natur sein. Oft wird man, sich seines Sieges sicher,
in letzter Sekunde abgefangen. Selbst Schuld: zu früh
geboten. Der andere war einfach besser, sich einem solchen
Gegner zu beugen, stellt keine Schande dar. Riskiert
man aber den letzten Augenblick, so kann es geschehen,
dass man zu spät kommt; die Auktion ist beendet
ohne deinen Beitrag, jemand hat den Artikel für
einen lächerlich erscheinenden Preis erworben.
Gönne es ihm. Besonders ärgerlich, wenn auch
nicht zu ändern, sind Verbindungsunterbrechungen,
aufgehängte Computer oder Übertragungslangsamkeit.
Nicht nur einmal habe ich eine unbebotene Werkausgabe
oder ein antikes Schachset verpasst, weil die Verbindung
zusammenbrach. Andererseits fühlte ich mich moralisch
besser, denn ebenso wie der Verkäufer seinen Kunden
übers Ohr hauen kann, so mag auch der Käufer
Nutznießer eines Einstellungsfehlers sein. Der
Verkäufer wäre dann juristisch verpflichtet,
einen Artikel weit unter Sachwert zu verkaufen. Trotz
dieser moralischen Bedenken gilt: das gute Geschäft
ist oft nur bei falsch oder schlecht eingestellten Artikeln
zu machen. Wer seine Erstausgabe des "Schach von
Wuthenow" in der Schachrubrik einstellt, wird die
Fontanefreunde nicht finden. Ebay ist einem riesigen
Labyrinth vergleichbar in dem jeder Nutzer seinem eigenen
Ariadnefaden folgt; was davon abseits liegt, bleibt
ihm verborgen. Ein ausgeklügeltes Suchsystem sollte
sich der passionierte Ebayer jedenfalls zulegen und
mit dessen Hilfe den Riesenwust an Ware tagtäglich
durchkämmen. Mit anderen Worten: Eine halbe Stunde
pro Tag wird man, mindestens, investieren müssen,
um
hmm, mal nachrechnen, das macht 180 Stunden
im Jahr, also siebeneinhalb Tage á 24 Stunden;
bei sechs Stunden pro Partieanalyse könnte ich
also 30 von den 300 richtig durcharbeiten und würde
wahrscheinlich wirklich was lernen; in der Zeit,
die ich damit verbringe Bücher zu erwerben, die
ich lesen möchte, könnte ich diese Bücher
lesen, statt sie zu erwerben
Einmal einen Artikel auf dem Wunschzettel,
sprich Beobachtungsliste, sollte man sich in einer ruhigen
Minute ernsthaft befragen, wie viel er einem wert ist.
Nur wer sein Begehren an der obersten Schmerzgrenze
stoppen kann, entgeht dem Frust und der bitteren Selbsteinsicht,
seiner Gier, aufgesessen zu sein. Ebay stellt viel mehr
eine Schule des Entsagen- als des Haben-Könnens
dar. Frei sein heißt Verzichten können, heißt,
das "muss" aus dem Vokabular zu streichen,
heißt sein-lassen. "Nicht wer zu wenig hat,
sondern wer mehr begehrt, ist arm" [3].
Von den 30 Artikeln, die der Profi jederzeit beobachtet,
wird er vielleicht nur jeden zehnten aktiv bebieten
(alle anderen fallen zuvor wegen Grenzüberschreitung
weg) und von diesen zehn Prozent wird er ca. jeden dritten
erwerben. Man sollte nie vergessen: was einmal bei Ebay
auftaucht, taucht auch wieder auf und früher oder
später taucht alles einmal auf. Geduld und Gelassenheit
sind des Bidders Kardinaltugenden. Aller Besitz verliert
seine zerstörerische Kraft, wenn man auf ihn verzichten,
wenn man sich und ihn sein lassen kann. Und: es gibt
immer jemanden, der mehr Geld hat als du.
Ebay ist aber mehr als nur Kaufen und
Verkaufen, es lehrt uns viel über uns selbst. Eines
der faszinierendsten Phänomene, die man im Autoexperiment
verfolgen kann, ist die Rationalisierung. Ob man nun
zu viel oder zu wenig geboten, ob man gewonnen oder
verloren hat, letztendlich redet man sich immer alles
zu Recht. Am späten Abend, beim Glas Wein oder
Bier, tendiert man zur Selbstüberschätzung.
Es ist ratsam, dann Ebay zu meiden, ebenso wie man nie
hungrig einkaufen gehen sollte. Geschieht es aber doch,
hat man einen zu hohen Preis oder auf ein eher fragwürdiges
Objekt geboten, vielleicht die Nacht schlecht geschlafen
in der bangen Hoffnung, überboten worden zu sein,
um am Morgen doch mit "Herzlichen Glückwunsch"
begrüßt zu werden, so wird man schnell feststellen,
wie die Sicht auf die Dinge sich ändert, wie notwendig
man das Buch nun doch brauchte. Umgekehrt verliert selbst
der begehrteste Artikel an ideellem Wert, im selben
Moment, indem man überboten wurde: "Ich brauche
das doch alles nicht, um glücklich zu sein",
versichert sich die verletzte Seele.
Seneca: mit seinen Werken sollte der
eifrige Ebayer vertraut sein!
Auch die Bewertung lässt oft tief
blicken. Hier regieren Macht und Angst. Ähnlich
dem ELO- oder DWZ-System muss man viele Punkte haben,
um wer zu sein; schon eine einzige negative Bemerkung
irgendeines Cholerikers kann die weiße Weste beflecken
und zur Vertrauenseinbuße führen. Sein definiert
sich in der Leistungsgesellschaft quantitativ; jemand
sein heißt, besser sein als
Andererseits
verleihen ELO und Ebay-Wertzahlen nicht nur das anreizende
Gefühl des Wettbewerbs, sondern auch einer spezifischen
Gemeinschaft Gleichgesinnter anzugehören, in der
sich potentiell jeder mit jedem "treffen"
und messen kann. Automatisch setzt eine Außendynamik
ein, verdrängt die inneren Antriebe des Spiel-
und Tauschaktes und führt in extremen Fällen
regelrecht zur Furcht vor Punkt- und Statusverlust.
Wie oft haben mich Leute angeschrieben, angefleht förmlich,
ich möge ihnen doch eine positive Bewertung zukommen
lassen. Wie kommen wildfremde Menschen dazu, zu flehen,
zu bitten, zu betteln, zu schmeicheln, weshalb erregen
sie sich endlos bei einer schlechten Bewertung, fühlen
sich tief in ihrer Ehre verletzt? Es würde mich
nicht wundern, einmal in der Morgenzeitung zu lesen:
"Mord wegen negativer Bewertung!" Menschen
brauchen Lob und Zuneigung. Selbst von Unbekannten und
Fremden. Umso mehr, wenn Familienbanden sich lösen
und Arbeitsklimas kälter werden. Menschen richten
ihr Verhalten immer auf andere, wir sind für den
anderen und nehmen uns durch den Spiegel des anderen
wahr. Jedes "Geschäft" ist auch eine
Interrelation, ein "Dialog" mit all seinen
heimlichen Versprechungen und Risiken. Und Ebay ist
der postmoderne melting pot.
Schließlich gibt es auch die Freude
des Empfangens, die Vorfreude des Wartens, die Geschenksituation,
der man nimmer müde wird und die kurzzeitig an
die mütterliche Geborgenheit der Kindheit erinnern
lässt. Weihnachten ist für den Ebayer das
ganze Jahr! Umso mehr, da es ein Geschenk ist, das ich
mir selbst bereite und auf das ich mich aufrichtig
freue. Wenn Onanie Sex mit einer Person ist, die ich
wirklich liebe [4], so ist
der Ebay-Artikel das Geschenk von einem Menschen, den
ich wirklich liebe und der mich wirklich liebt, ohne
mich einer Dankesverpflichtung unterwerfen zu müssen.
Ebay ist mehr als ein gigantischer
virtueller Trödelmarkt, es ist eine Lebenseinstellung.
Ein guter Freund hatte seinen ganzen
Lebenshaushalt damit verdient. Er, seine Frau, die beiden
kleinen Zwillinge haben gut, sehr gut davon leben können.
Alte Klamotten aufkaufen und Einstellen. Einmal hatte
er spaßeshalber eine alte leere Matchboxschachtel
eingestellt und sage und schreibe 150 Euro dafür
eingefahren. Ein Schiffsmodell aus der Kriegszeit verkaufte
er noch für einen Tausender, kurz bevor er, 35jährig,
am Computer starb: plötzlicher Herztod.
--- Jörg Seidel, 27.01.2004 ---
[1]
Helge Schneider: Guten Tach. Auf Wiedersehn. Autobiographie,
Teil I. S. 147. Dieser Geniestreich wird bei Ebay weit
unter Wert gehandelt; ab 1 Euro ist man dabei!
[2] Vgl. Strouhal: Schach.
Die Kunst des Schachspiels. S. 110 – ein ideenreicher
Foliant, den man bei Ebay schon ab 5 Euro kriegen kann.
[3] Seneca: Philosophische
Schriften Band III, S. 4 – des alten Lebemeisters
Gesammelte Werke – ein Schatz, den auszuschöpfen
ein Leben nicht reicht – kann man regelmäßig
bei Ebay erwerben.
[4] Woody Allen in "Annie
Hall", einer der 27 Allen DVD's, die ich bei Ebay
zum Vorzugspreis erstand
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