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Sieg und Niederlage
auf Englisch -
victory and defeat in German
"Ein Engländer
ist nie im Frieden, als wenn er im Streit ist."
altes deutsches Sprichwort
England schlägt Deutschland 5:1!
Wie würde ein deutscher Fußballfan diese
Nachricht lesen? Ihm fiele das Resultat ins Auge: "5:1,
schrecklich, wie tief muss der deutsche Fußball
gefallen sein. Und ausgerechnet gegen England!"
und was liest ein englischer Fan? "England
schlägt Deutschland - endlich haben wir
es den Krauts gezeigt, unser Sieg gegen Hitler war also
doch kein Zufall. Und noch dazu 5:1" - oder so
ähnlich. Wenn England gegen Deutschland spielt,
dann ist auf der Insel Ausnahmezustand und dann wird
in den Annalen geblättert, und nicht nur die denkwürdigen
Fußballereignisse der Jahre '56 und '66 stehen
zur Debatte, nein, es wird über die beiden Weltkriege,
die Weimarer Republik, über Hitler und Goebbels
debattiert, da werden historische Gesetze entdeckt,
welche die langfristige Überlegenheit der Engländer
über die Deutschen und die Europäer überhaupt
beweisen. Man ist mit Feindbildern schnell bei der Hand,
ja, man hat sogar den Eindruck, als könne man nur
gegen Feinde gewinnen. Und während man sich im
deutschen Lager die Wunden leckt und fast nur über
die eigene Schmach, auf jeden Fall nicht über England
spricht, so geschieht hier - das selbe! Es ist nicht
der Sieg, es ist nicht das eigene Team, oder doch nur
an zweiter Stelle, sondern es ist die Niederlage Deutschlands,
die man feiert. Schon die Europameisterschaft wurde
kaum als Misserfolg eingeschätzt, obwohl man die
Vorrunde nicht überstand, denn: man hat Deutschland
geschlagen! Und Alan Shearer - Schütze des einzigen
Tors - wird diesen Ruhm mit in sein Grab nehmen, das
ist so sicher wie das Amen in der anglikanischen Kirche.
Er ist ein gemachter Mann, noch in 50 Jahren wird Shearer
jener sein, der gegen Deutschland das Tor schoss. Michael
Owen schließlich stieg mit seinen drei Toren zum
Olymp hinan, auch er wird nun als Halbgott verehrt.
Pressestimmen:
Sport Life: "Red-hot Owen sinks Germans"
The Sun: Oh mein Gott. Deutsche erlitten ihren
Wurst-Albtraum.
The Mirror: Svengland, Svengland, Svengland.
Jürgen Klinsmann, Otto von Bismarck, BMWs, Schwarzwälderkuchen,
Roggenbrot, Ludwig van Beethoven ... Eure Jungs haben
eine höllische Abreibung erhalten.
Daily Star: Erhebt Euch, Sir Michael. England-Fans
fordern, dass Michael Owen zum Ritter geschlagen wird.
Daily Mail: Goldener Owen. Die Nacht, in der
die Weltordnung erschüttert wurde.
The Independent: Englische Fans ziehen famosen
Sieg ein und lassen wundenleckendes Deutschland zurück.
The Guardian: Endlich können wir 1966 vergessen.
Bedarf es noch weiterer Beweise? Nun,
es gibt sogar ein sich gut verkaufendes Buch, das erst
kürzlich als Taschenbuch auf den Markt kam:
Verlagstext: David
Downing's The Best of Enemies: England v Germany,
(A Hundred Years of Anglo-German Football Rivalry) £7.99
"An England vs Germany football match is one
of the most passionate and controversial sporting events
there is - whether it's a club match or international.
In this book, David Downing examines the history of
such clashes, unearthing the stories, the statistics
and the footballing trends."
Und was den Engländern im Fußball
die Deutschen sind, das sind im Schach die Russen. Unter
Russland versteht man alles, was östlich Polens
liegt und einst unter der Diktatur Lenins und Stalins
litt. Auch hier der Geschichtsfaktor. Schließlich
saß Churchill mit Stalin an einem Tisch und sah
nicht immer gut aus. Das schmerzt noch heute. Die jüngeren
Fußballereignisse waren wie ein Déjà-vu
und erinnerten frappant an Englands glorreichste und
bitterste Schachstunde der Neuzeit. Zwar hatte man mit
Howard Staunton (1810-1874) schon einmal einen überragenden
Spieler, den Raymond Keene in einem Anfall von Patriotismus
kurzerhand zum Weltmeister machte [1]
- wiewohl anerkanntermaßen dieser Titel erstmals
1886 an Steinitz verliehen wurde -, doch wurde man mit
diesem Staunton nicht ganz glücklich. Makel befleckten
seine reine Weste, unbritische Makel: er verlor gegen
die deutschen Adolf Anderssen und Baron Heydebrandt
von der Lasa und weigerte sich, Morphys Herausforderung
zu einem Zweikampf anzunehmen, es mangelte ihm an Kampfeswille.
Man musste fast anderthalb Jahrhunderte warten, bis
mit Nigel Short ein würdiger Nachfolger gefunden
schien. 1993 war es dann soweit, im Rahmen von Kasparows
PCA wurde die Weltmeisterschaft zwischen Kasparow und
Short ausgespielt, die erste übrigens außerhalb
der FIDE. Hier begann die Trennung der Schachverbände,
die noch heute mit den zwei Weltmeistern Anand und Kramnik
die Schachwelt teilt.
Es ist eine in der Welt etwas vergessene
WM, der Glanz der einstigen Titanenkämpfe ist verblasst
und spätestens mit dem Systemduell Fischer - Spasski
ging diese klassische Ära zu Ende. Die Geschichte
wiederholte sich auch hier ein zweites Mal als Farce
(Karpow - Kortschnoi, Karpow - Kasparow). Nicht der
Verlust an qualitätsvollem Schach ist zu beklagen,
sondern der an weltmännischer Souveränität
und personeller Originalität. Elegante Größen
wie Steinitz, Lasker oder Capablanca sind kaum noch
auszumachen. So musste bei besagtem Match vor allem
das Systemschema erneut herhalten. Im Lager Shorts unterließ
man keine Gelegenheit, Kasparow als ehemaligen Parteikader,
als Kind des Sowjetregimes, als opportunistischen Wendehals
zu diskreditieren. Nicht nur Englands Ehre stand auf
dem Spiel, sondern das der ganzen westlichen Welt. Short,
der in den Medien seit seiner Kindheit als große
Hoffnung, das englische Schach wiederzubeleben, aufgebaut
wurde, war sich dann auch nicht zu schade in die laufende
Kamera zu sprechen: Kasparow werde immer Kommunist bleiben,
man habe es hier mit einem früheren Parteimitglied
zu tun ... sein Protektor sei aserbaidschanischer KGB-Chef
und dergleichen mehr. [2]
Mit für ein Schachspiel unvergleichlichem
technischem Aufwand wurde das Match im Londoner Savoy
Theater, von "The Times" großzügig
gesponsert, inszeniert. Tägliche Live-Übertragung,
ausführliche Analysen auf Channel 4 mit GM King,
GM Speelmann (Shorts Sekundant), GM Keene und der sexy-molligen
Carol Vordermann (die später für "slim
fast" Werbung machte), halbstündige Sendungen
auf anderen Sendern - es war flächendeckend. Ein
Traum für alle Schachfans, wenngleich die Analysen
oft lächerlich banal waren, denn BBC hatte ein
Problem: wie kann man das Spiel dem unkundigen Zuschauer
interessant machen. Richtig: durch kinderleichte Analysen,
Regelkunde etc. und durch Feindbilder. Dominic Lawson,
ein Freund Shorts und täglicher Begleiter hat darüber
ungewollt ein aufschlussreiches Buch geschrieben: "The
inner game". Es beginnt mit Ausreden, die sich
abzeichnende Niederlage wird vorab legitimiert. Es wird
über die sowjetische Schachschule gesprochen, die
noch immer existiere und aus der man, nach Jahren des
Drills, nur als Meister hervorgehen könne. Tenor:
Wenn Nigel diese Möglichkeiten gehabt hätte,
dann... Und Kasparow ist sowieso nur ein Schachmaschine.
Danach geht man zu Verleumdungen über: Da werden
angebliche Bestechungsversuche sowjetischer Spieler
inkl. Kasparow erwähnt, sein unfaires Verhalten
am Brett beschrieben, es werden Verschwörungstheorien
entworfen, selbst ein Inzestverdacht mit Mutter Klara
angedeutet und schließlich zeigt man den Sportsgeist
des "Affen" [3]:
"Kasparov will always have a Soviet cast of
mind. Those who where brought up under that system all
have the same warped outlook: You fuck with my
wife - I kill you. I fuck with your wife - you keep
quiet if you know what's good for you.'" [4]
Dies die Worte Shorts. Kasparov hatte schon Jahre zuvor
ein dickes Buch darüber geschrieben - "Child
of change" [5] -, um
genau jene Vorwürfe zu entkräften; es hat,
in Shorts Augen, offensichtlich nichts genutzt. Ganz
typisch englisch saß man dann wieder zusammen
im Studio und teilte gegenseitig Komplimente aus.
Man wird sich vielleicht noch erinnern,
wie das Match verlief. Gleich die erste Partie brachte
die Ernüchterung, als Short bei guter Stellung
wenige Sekunden vor der Zeitkontrolle beim 38. Zug das
Remisangebot Kasparows ausschlug, um gleich darauf im
40. Zug durch Zeitüberschreitung zu verlieren.
Ein dummer Verlust, wovon er sich nie wieder recht erholte.
Spiel 3, 4, 7 und 9 gingen an Kasparow, der zur Halbzeit
mit 7,5 zu 2,5 schon entscheidend führte. Erst
als er den Spargang einlegte, gelang Short im 15. Spiel
der erste und letzte ganze Punkt, den Kasparow postwendend
zurückeroberte. Englands Schmach war deutlich:
12,5 zu 7,5 - fünf ganze Punkte!
Wie aber wurde diese nationale Tragödie
bewältigt? Hier ist der Unterschied zur deutschen
Mentalität gut sichtbar. "The Times"
schrieb nach der historischen Fußballnacht wohl
zu Recht: "Ein Debakel, ein Albtraum, eine Schande
- das sind nur einige der gestrigen deutschen Schlagzeilen.
Dies würde tiefe Wunden hinterlassen, sagte Günter
Netzer. Das war typisch für Deutschlands Kulturpessimismus
- seine selbstzerstörerische Tendenz nach jedem
Rückschlag: Als ob ein einziges Spiel die Tatsache
verdüstern könnte, dass Deutschland die WM-Qualifikationsgruppe
immer noch anführt." Selbstzerstörerische
Tendenz - das ist gut beobachtet. Ganz anders geht man
in England mit Niederlagen um. Auch wenn die englischen
Helden verlieren, sie bleiben doch Helden, die eben
einer bösen Macht unterlagen. Gäbe es noch
Fairness auf der Welt, dann, ja dann... Statt mit Wut
und Empörung, statt mit dem alldeutschen Ruf nach
rollenden Köpfen und neuen Männern, die das
Land brauche, pflegt man auf der Insel ausgiebig die
Niederlagen, ja, man genießt sie. Eine seltsam
anheimelnde Stimmung des Mitleides greift um sich und
eint das Land, man verzeiht und bestätigt sich
in der geschlossenen englischen Gesellschaft des wichtigsten
gemeinsamen Wertes: des Englischseins. So konnte
es Short nach der Niederlage passieren, dass er auf
der Straße angesprochen wurde: "We're
proud of you. You're a real fighter! You aren't going
to throw the towel." Lawson erklärt sich
das seltsame Phänomen nicht unoriginell so: "But
the British public admired something other than victory:
they admired guts, never-say-die fighting spirit, heroic
failure and, still as always, the underdog. That is
why, while the press consistently ridiculed Frank Bruno,
the London boxer still retained enormous public affection
and support, far greater than more successful fighters
who seemed to have less spirit. That is why footballer
like Paul Cascoigne excites mass popular admiration,
long after the pundits have labelled him a disappointment.
The British - and perhaps, only the British - are not
so much interested in technique, or even in winning
or losing: what they admire in their sportsmen is heart."
Und jetzt kommt's: "It is an attitude not
confined to the sporting arena. British popular
history has not so much to say about our national
victories. But it lavishes its attention on heroic
defeats or setbacks. The evacuation of Dunkirk,
the sufferings of the Blitz, are far more vivid in the
popular imagination than any of our victories in the
last war." [6]
Peter Sloterdijks Neudefinition der Nation als Erregungs-
und Stressgemeinschaft [7]
hat vielleicht nirgendwo solche Aktualität wie
auf der Insel.
--- Jörg Seidel, 10.09.2001 ---
The Carol Vorderman Network
http://my.genie.co.uk/o44wen/cv_home.html
World Chess Championship Highlights 1993
Kasparov - Short PCA Title Match Highlights
http://www.mark-weeks.com/chess/93ks$$.htm
[1]
Keene, R.D/Coles, R.N. Howard Staunton the English world
chess champion. St. Leonards on Sea. 1975
[2] vgl. Keene, Raymond/King
Daniel: Kasparov - Short. The inside story. Grandmaster
Video. Woking 1993
[3] "Nigel Short calls
Kasparow: Animal, ape, arrogant arsehole, Asiatic despot,
baboon, bastard, incapable of normal human relationship,
nasty, powerhungry, thoroughly unpleasant." Aus:
Kingpin. No. 21 1993. S. 24
[4] Lawson, Dominic: The
inner game. London 1993. S. 17 Übersetzung: "Kasparow
wird immer diese sowjetische Wesensart haben. Jene,
die unter diesem System aufwuchsen, haben alle diese
perverse Auffassung: You fuck with my wife - I kill
you. I fuck with your wife - und Du verhältst dich
ruhig, wenn du weißt, was gut für dich ist."
Wie sehr dies Shorts eigene Sichtweise ist, darauf weist
eine erst kürzlich im "Sunday Telegraph"
gegebene Aussage über seinen englischen Erzfeind,
Tony Miles und zu dessen Nachruf (!), hin: "I obtained
a measure of revenge not only by eclipsing Tony in terms
of chess performence, but also by sleeping with his
girlfriend, which was definitley satisfying but perhaps
not entirely gentlemanly" (KingPin 35, S. 3).
[5] dt.: Kasparow, Garri:
Politische Partie. München 1987
[6] ebd. 194f. Übersetzung:
Aber die britischen Menschen bewunderten etwas anderes
als den Sieg: sie bewunderten Schneid, den gib-nie-auf
Kampfgeist, heroisches Versagen und, wie schon seit
je, den Benachteiligten. Deshalb behielt Frank Bruno,
der Londoner Boxer, die Sympathien und die Unterstützung
der Leute weit mehr als erfolgreichere Boxer mit weniger
Kampfsinn und das, obwohl sich die Presse ständig
über ihn lustig machte. Deshalb erregt ein Fußballer
wie Paul Gascoine massenhafte Bewunderung, lange noch
nachdem ihn die Experten das Etikett Enttäuschung'
anhängten. Die Briten - und wahrscheinlich nur
die Briten - sind weniger an Technik interessiert, noch
nicht mal am Gewinnen oder Verlieren: was sie an ihren
Athleten bewundern, ist das Herz.
Dies ist einen Haltung, die nicht auf die Sportszene
begrenzt bleibt. Die beliebte britische Geschichte hat
nicht allzu viel über unsere nationalen Siege zu
sagen, sondern verbreitet sich reichlich über heldenhafte
Niederlagen und Rückschläge. Die Aufgabe Dünkirchens,
die Leiden des Blitzkrieges sind weit wesentlicher im
öffentlichen Bewusstsein lebendig, als einer unserer
Siege während des letzten Krieges."
[7] Sloterdijk, Peter: Der
starke Grund zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung
des Volkes. Frankfurt 1998
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Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
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