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AKTUELLES
12. Oktober 2006

Coronation Street – über das Image des Schachspielers nach Elista 2006

"Gier bedeutet die affektive Auskleidung der ontologischen Annahme, es sei möglich, eine Asymmetrie zwischen Geben und Nehmen aufrechtzuerhalten. Behält bei einem Spieler das Nehmen längerfristig die Oberhand, spricht man gemeinhin von Erfolg. Im gewöhnlichen Verständnis bezeichnet Erfolg ein überbelohnungsphänomen – das im übrigen nicht selten mit der Tendenz zur Wiederholung des Unwahrscheinlichen einhergeht."

Peter Sloterdijk

 

Wer glaubt, Fußball sei um seiner selbst willen Deutschlands Sportart Nummer eins, der irrt. Dass ganze Völkerstämme Abend für Abend vorm Fernseher hängen, dass mehrere auflagenstarke Fußball-Zeitungen in Italien, Spanien, England und Deutschland tagtäglich reißend Absatz finden, liegt durchaus nicht an der inneren Faszination des Spiels. Wäre dem so, die amerikanische Aversion wäre ebenso wenig zu erklären wie deren Vorliebe für unverständliche Ersatzballsportarten. Es sind die Geschichten, die der Sport schreibt – sie machen ihn zum Medienevent. Wie wird sich Ballack nach der roten Karte verhalten, hat Ronaldo abermals zugenommen, können Kahn und Lehmann wieder miteinander, was treibt Podolski auf die Palme, warum hat Rooney schon wieder eine andere, ob wohl Kloses Knie hält, was kostet Ronaldinho, was die Welt und welches ist Beckhams schönstes Tattoo? Wir lieben den Fußball, weil er uns wie ein endloses Labyrinth von Mini-Dramen, Tragödien und Komödien auf Trab hält, weil wir uns mit seinen Helden identifizieren können, ihren Geschicken und Missgeschicken, oder eben nicht. Fußball – oder jeder andere Massensport –, den man lieben kann, ohne ihn betreiben zu müssen, wirkt im Medienzeitalter wie eine Unendliche Geschichte, ein endloses Band Gute Zeiten Schlechte Zeiten.

 

Man muss Marx’ Apercu aktualisieren: mediengeschichtliche Tatsachen ereignen sich sozusagen zweimal: das eine Mal als Tragödie oder Komödie, als Seifenoper, das andere mal als Farce. Ermittelt man im Königreich des Schachs nach einem Beispiel für diese Farce, so kann man die Antwort von jedem x-beliebigen Passanten bekommen, sofern man nach der Schach-WM in Elista fragt. "Schach-WM?", wird die häufigste Antwort selbst unter aktiven Klubspielern lauten und die besser Informierten werden sagen: "Die mit dem Klo?", oder so ähnlich. Seien wir ehrlich und lassen uns von ein paar Zeitungsartikeln nicht irritieren. Kein Schwein interessiert sich für diese WM! Nicht brillantes Spiel oder charismatische Spieler brachten sie ins öffentliche Dämmerbewusstsein, nein, es bedurfte eines "Skandals", einer kleinen lustigen oder anrüchigen oder ärgerlichen Geschichte. Das Königliche Spiel, seine Reputation geht den Bach hinunter, geht die "Coronation Street". Deren Geheimrezept: Erfolg durch Niveaulosigkeit. Potentiell ein einträgliches Geschäft, wie uns die Medienwelt – jedes dürre Model, jeder stammelnde Kicker, jeder gesuchte Superstar (man muss gar nicht zu Trash-Kultur à la "Jackass" und "Dirty Sanchez" etc. greifen) – beweist. Nur dürfen wir zwei Dinge nicht vergessen: ein Toilettenskandal bei der Schach-WM wirkt so peinlich und daneben wie ein intimes Video aus dem englischen Königshaus und dann ist da noch die Sache mit der Farce. Dass so etwas überhaupt möglich ist, deutet auf den Statuswechsel des "Spiels der Könige" hin und sollte Schachspieler insofern tangieren, als ihr Wahrgenommenwerden auf dem Spiel steht. Das Schlimmste, was man ihnen zu Capablancas und Laskers Zeiten an den Kopf werfen konnte, klang noch wie heimliche Bewunderung, wie ein Kompliment: weltfremde Träumer oder dergleichen, aber mit Stil und Würde. Mit Petrosjan und Karpow hielt die Langeweile Einzug, ein Charakteristikum, das man dem Spiel noch verzeihen konnte. Dann kamen Fischer und Kasparow, scheincharismatische Typen mit Testosteronüberschüssen und Haaren auf der Brust, wie geschaffen, um die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wenn auch weniger durch bewundernswertes Spiel denn Intrige. Dass diese Kategorie tatsächlich zu den Genies zählte, machte sie umso geheimnisvoller. Heute dagegen müssen wir mit Bleichgesichtern vorlieb nehmen, netten Jungens wie Anand, Leko, Kramnik und Topalov, gescheitelt und geschlipst; aalglatt und polyglott. Alle geboren mit einem Gesicht, das nichts einbringt (Sloterdijk), ausgestattet mit der Ausstrahlungskraft einer Tranfunzel. Da hilft nur noch Verseifung und wenn das so weitergeht, dann werden wir uns bald um Kramniks Haarschnitt oder Topalovs Kleiderausstatter streiten (Die Frauen haben dank Kosteniuk und Imitatorinnen diesen Pfad schon mal vorgetreten). Auch in Elista sind die Partien nur zweitwichtig; viel Gutes gibt’s darüber ja auch nicht zu berichten. Kein Wunder, da die Protagonisten sich offensichtlich mehr auf ihre öffentliche Erscheinung konzentrieren denn die entscheidende Kombination.

Foto: http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=5894

 

Ihnen, den Profis, geht es nicht mehr um das Spiel, ihnen geht es – per definitionem – um den Profit, den das Spiel bietet, pekuniär oder medial, Geld und Ruhm. Sie sammeln sich in einer korrupten Weltorganisation, auf deren Fahnen beide Größen prangen. "Reines Charisma" aber, so schrieb Max Weber, "ist spezifisch wirtschaftsfremd" – unsere Helden sind davon so weit entfernt wie der ordinäre h-Bauer von der Krönungswürde. Und mit ihnen, mit jedem nichts ahnenden Gähnen auf der einen Seite und jeder Klatschspalte auf der anderen, verliert das Spiel, das wir alle lieben, an Ansehen. In Zukunft wird sich Ottonormalbürger unter einem Schachcrack keinen netten Idioten, Eigenbrötler oder liebsamen Spinner vorstellen, der im Spiel die Gelassenheit findet, vom Weltenwirbel abzusehen, sondern den lächerlichen (farcical) Egozentriker, der das Urevangelium des Sports nicht mehr versteht, das da lautete: Gerechtigkeit.

Der medienpräsente Teil der Schachwelt will den vergoldeten Weg des Fußballs gehen, ohne selbst Fußball zu sein. Ein Weg in die Wüste, auf dem man begreifen wird, dass nicht alles Gold ist, was gelblich glänzt.

Foto: http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=5826

Quellen:
Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon (1851)
Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit (2006)
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (1922)
Coronation Street (seit 1960) http://en.wikipedia.org/wiki/Coronation_Street

Weiterhin lesenswert: Pressespiegel bei Chessbase "Mit der Toilette zur Weltgeltung"

 

--- Jörg Seidel, 12.10.2006 ---


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