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Coronation Street –
über das Image des Schachspielers nach Elista 2006
"Gier
bedeutet die affektive Auskleidung der ontologischen
Annahme, es sei möglich, eine Asymmetrie zwischen Geben
und Nehmen aufrechtzuerhalten. Behält bei einem Spieler
das Nehmen längerfristig die Oberhand, spricht man gemeinhin
von Erfolg. Im gewöhnlichen Verständnis bezeichnet Erfolg
ein überbelohnungsphänomen – das im übrigen nicht
selten mit der Tendenz zur Wiederholung des Unwahrscheinlichen
einhergeht."
Peter
Sloterdijk
Wer glaubt, Fußball sei um seiner
selbst willen Deutschlands Sportart Nummer eins, der
irrt. Dass ganze Völkerstämme Abend für
Abend vorm Fernseher hängen, dass mehrere auflagenstarke
Fußball-Zeitungen in Italien, Spanien, England
und Deutschland tagtäglich reißend Absatz
finden, liegt durchaus nicht an der inneren Faszination
des Spiels. Wäre dem so, die amerikanische Aversion
wäre ebenso wenig zu erklären wie deren Vorliebe
für unverständliche Ersatzballsportarten.
Es sind die Geschichten, die der Sport schreibt –
sie machen ihn zum Medienevent. Wie wird sich Ballack
nach der roten Karte verhalten, hat Ronaldo abermals
zugenommen, können Kahn und Lehmann wieder miteinander,
was treibt Podolski auf die Palme, warum hat Rooney
schon wieder eine andere, ob wohl Kloses Knie hält,
was kostet Ronaldinho, was die Welt und welches ist
Beckhams schönstes Tattoo? Wir lieben den Fußball,
weil er uns wie ein endloses Labyrinth von Mini-Dramen,
Tragödien und Komödien auf Trab hält,
weil wir uns mit seinen Helden identifizieren können,
ihren Geschicken und Missgeschicken, oder eben nicht.
Fußball – oder jeder andere Massensport –,
den man lieben kann, ohne ihn betreiben zu müssen,
wirkt im Medienzeitalter wie eine Unendliche Geschichte,
ein endloses Band Gute Zeiten Schlechte Zeiten.
Man muss Marx Apercu aktualisieren:
mediengeschichtliche Tatsachen ereignen sich
sozusagen zweimal: das eine Mal als Tragödie oder
Komödie, als Seifenoper, das andere mal als
Farce. Ermittelt man im Königreich des Schachs
nach einem Beispiel für diese Farce, so kann man
die Antwort von jedem x-beliebigen Passanten bekommen,
sofern man nach der Schach-WM in Elista fragt. "Schach-WM?",
wird die häufigste Antwort selbst unter aktiven
Klubspielern lauten und die besser Informierten werden
sagen: "Die mit dem Klo?", oder so ähnlich.
Seien wir ehrlich und lassen uns von ein paar Zeitungsartikeln
nicht irritieren. Kein Schwein interessiert sich für
diese WM! Nicht brillantes Spiel oder charismatische
Spieler brachten sie ins öffentliche Dämmerbewusstsein,
nein, es bedurfte eines "Skandals", einer
kleinen lustigen oder anrüchigen oder ärgerlichen
Geschichte. Das Königliche Spiel, seine Reputation
geht den Bach hinunter, geht die "Coronation Street".
Deren Geheimrezept: Erfolg durch Niveaulosigkeit. Potentiell
ein einträgliches Geschäft, wie uns die Medienwelt
– jedes dürre Model, jeder stammelnde Kicker,
jeder gesuchte Superstar (man muss gar nicht zu Trash-Kultur
à la "Jackass" und "Dirty Sanchez"
etc. greifen) – beweist. Nur dürfen wir zwei
Dinge nicht vergessen: ein Toilettenskandal bei der
Schach-WM wirkt so peinlich und daneben wie ein intimes
Video aus dem englischen Königshaus und dann ist
da noch die Sache mit der Farce. Dass so etwas überhaupt
möglich ist, deutet auf den Statuswechsel des "Spiels
der Könige" hin und sollte Schachspieler insofern
tangieren, als ihr Wahrgenommenwerden auf dem Spiel
steht. Das Schlimmste, was man ihnen zu Capablancas
und Laskers Zeiten an den Kopf werfen konnte, klang
noch wie heimliche Bewunderung, wie ein Kompliment:
weltfremde Träumer oder dergleichen, aber mit Stil
und Würde. Mit Petrosjan und Karpow hielt die Langeweile
Einzug, ein Charakteristikum, das man dem Spiel noch
verzeihen konnte. Dann kamen Fischer und Kasparow, scheincharismatische
Typen mit Testosteronüberschüssen und Haaren
auf der Brust, wie geschaffen, um die mediale Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen, wenn auch weniger durch bewundernswertes
Spiel denn Intrige. Dass diese Kategorie tatsächlich
zu den Genies zählte, machte sie umso geheimnisvoller.
Heute dagegen müssen wir mit Bleichgesichtern vorlieb
nehmen, netten Jungens wie Anand, Leko, Kramnik und
Topalov, gescheitelt und geschlipst; aalglatt und polyglott.
Alle geboren mit einem Gesicht, das nichts einbringt
(Sloterdijk), ausgestattet mit der Ausstrahlungskraft
einer Tranfunzel. Da hilft nur noch Verseifung und wenn
das so weitergeht, dann werden wir uns bald um Kramniks
Haarschnitt oder Topalovs Kleiderausstatter streiten
(Die Frauen haben dank Kosteniuk und Imitatorinnen diesen
Pfad schon mal vorgetreten). Auch in Elista sind die
Partien nur zweitwichtig; viel Gutes gibts darüber
ja auch nicht zu berichten. Kein Wunder, da die Protagonisten
sich offensichtlich mehr auf ihre öffentliche Erscheinung
konzentrieren denn die entscheidende Kombination.
Foto: http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=5894
Ihnen, den Profis, geht es nicht mehr
um das Spiel, ihnen geht es – per definitionem
– um den Profit, den das Spiel bietet, pekuniär
oder medial, Geld und Ruhm. Sie sammeln sich in einer
korrupten Weltorganisation, auf deren Fahnen beide Größen
prangen. "Reines Charisma" aber, so schrieb
Max Weber, "ist spezifisch wirtschaftsfremd"
– unsere Helden sind davon so weit entfernt wie
der ordinäre h-Bauer von der Krönungswürde.
Und mit ihnen, mit jedem nichts ahnenden Gähnen
auf der einen Seite und jeder Klatschspalte auf der
anderen, verliert das Spiel, das wir alle lieben, an
Ansehen. In Zukunft wird sich Ottonormalbürger
unter einem Schachcrack keinen netten Idioten, Eigenbrötler
oder liebsamen Spinner vorstellen, der im Spiel die
Gelassenheit findet, vom Weltenwirbel abzusehen, sondern
den lächerlichen (farcical) Egozentriker, der das
Urevangelium des Sports nicht mehr versteht, das da
lautete: Gerechtigkeit.
Der medienpräsente Teil der Schachwelt
will den vergoldeten Weg des Fußballs gehen, ohne
selbst Fußball zu sein. Ein Weg in die Wüste,
auf dem man begreifen wird, dass nicht alles Gold ist,
was gelblich glänzt.
Foto: http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=5826
Quellen:
Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon
(1851)
Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit (2006)
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (1922)
Coronation Street (seit 1960) http://en.wikipedia.org/wiki/Coronation_Street
Weiterhin lesenswert: Pressespiegel
bei Chessbase "Mit
der Toilette zur Weltgeltung"
--- Jörg Seidel, 12.10.2006 ---
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