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Körperwelten -
Innenansichten des Schachspielers
Beim Gang
ins Theater habe ich einer Dame nur allzu gern ins Dekolleté
geschaut. Heute bin ich als Plastinator darüber erhaben!
Es ist viel spannender, das Dekolleté von hinten zu
betrachten.
Gunther von Hagens
Wenn am kommenden Sonntag sich die Tore
der Ausstellung "Body World" in London schließen,
dann wird ihr Kreator, Professor Gunther von Hagens,
vermutlicht enttäuscht sein, denn die Resonanz
in der englischen Metropole war überraschend gering.
Gerade mal 400.000 Menschen werden die spektakulären
Plastinate innerhalb der letzten sechs Monate gesehen
haben – das sind im Tagesdurchschnitt weit weniger
als in Mannheim, Oberhausen, Brüssel oder gar in
Berlin, Köln und Japan, wo von Hagens auf ein Millionenpublikum
verweisen kann. Das unübersehbare Desinteresse
der englischen Öffentlichkeit ist mit Sicherheit
nicht nur auf den abgelegenen Ausstellungsort oder eine
ungenügende Werbung zurückzuführen; vermutlich
viel mehr auf die typisch angelsächsische Indifferenz
und Prüderie. Noch ist das viktorianische Erbe
zu dominant, als dass man im körperfeindlichen
Albion eine Schau mit dem angsteinflössenden Titel
"Körperwelten" und noch schreckhafteren
hautentblößten Körperexponaten begrüßen,
geschweige denn diskutieren würde. In der Tat blieb
selbst das Medieninteresse zurückhaltend.
(So lauteten die Eingangszeilen für diesen Artikel,
der vor einem halben Jahr erscheinen sollte. Inzwischen
wurde die Ausstellung zweimal verlängert, sechs
neue spektakuläre Präparate wurden installiert,
serienweise Schulklassen aus ganz Großbritannien
nach London gekarrt und schließlich sogar eine
vom Fernsehen übertragene öffentliche Obduktion
einer plastinierten Leiche vorgenommen. Einmal mehr
hat Professor von Hagens bewiesen, dass er ein Mann
der Tat ist, der so einfach nicht aufgibt, für
den es eine Niederlage nicht geben kann. Die tägliche
Besucherzahl hat sich – laut eigenen Angaben -
fast verdoppelt in den vergangenen vier Monaten. Über
840.000 Menschen haben die Ausstellung gesehen.)
Ganz anders – ebenfalls mentalitätsbedingt
– war die Aufnahme in Deutschland, wo "Körperwelten"
nicht nur zur zahlenmäßig erfolgreichsten
Ausstellung aller Zeiten, sondern gesamtgesellschaftlich
intensiv, wenn auch selten objektiv, diskutiert wurde.
Und ganz gleich, wie man dazu steht: die Brisanz der
Exponate und damit ihre Rechtfertigung ergibt sich schon
daraus, dass sie alle relevanten gesellschaftlichen
Bereiche zu polarisieren vermochte und zum diskursübergreifenden
Streit animierte. Moralphilosophen- und Theologen, Juristen,
Mediziner, Anatomen, Kulturhistoriker, sie alle beteiligten
sich an dieser Diskussion, weil "Körperwelten"
Aspekte jedes einzelnen Faches ausdrücklich berührte.
Den peinlichen Höhepunkt einer oft noch fehlenden demokratischen
Diskussionskultur über Tabuthemen, stellt das an Lächerlichkeit
grenzende Verbot der Körperweltenausstellung in München
dar! (vgl. http://pro-koerperwelten.de/
und http://www.sueddeutsche.de/index.php?url=/muenchen/
imzentrum/61099&datei=index.php)
Auch Schachspieler dürfen sich in
diese illustre Reihe von Interessenten aus mindestens
zweierlei Gründen einordnen: hinsichtlich des vielleicht
bekanntesten Präparates "Der Schachspieler"
(auch: "Der Denker") und hinsichtlich seines
Schöpfers, Gunther von Hagens.
In der wohlüberlegten Ausstellungschoreographie
begegnet der Betrachter dem "Schachspieler"
als einem der ersten Ganzkörperplastinate, was
ihn als vergleichsweise unspektakulär ausweist.
Nicht nur will die Exposition den Besucher einer inneren
Dramaturgie gemäß sanft heranführen
um unnötige Schockerlebnisse zu vermeiden –
Ohnmachtsanfälle sollen keine Seltenheit sein -,
sondern von Hagens und seine Lebensgefährtin Dr.
med. Angelina Whalley, die sich für die inhaltliche
Konzeption verantwortlich zeichnet, scheinen sehr wohl
den Abstumpfungseffekt einzurechnen, der sich beim Betrachter
zwangsläufig einstellt. Möglicherweise mag
der Effekt auch für das mangelnde Interesse der
Londoner mitverantwortlich sein. Menschen, die schon
fast alles gesehen haben, für die Kunst stets nur
Wiederholung sein kann, die fast alles gewohnt sind,
die auch lernen mussten, dass nur stoische Ruhe und
Gefühlsresistenz das Großstadtleben ermöglichen,
lassen sich von plastinierten Leichnamen, selbst wenn
diese spektakulär dargeboten werden, nicht zwangsläufig
skandalisieren. Nicht umsonst entwickelt der Plastinator
immer abstrusere Ideen: dem Pferd mit Reiter soll bald
ein Kamel folgen und selbst ein Elefantenplastinat ist
geplant; die mäßig erfolgreiche Londoner
Ausstellung wurde kürzlich mit sechs neuen und
bislang noch nie gesehenen, auffällig provozierenden
Ganzkörperexponaten zusatzbestückt usw. Der
Plastinator hat die Terminator-Logik des Blicks begriffen.
http://www.koerperwelten.com/
Die ruhige, sitzende Geste des "Schachspielers"
wirkt da eher schon langweilig, eignet sich aber umso
mehr, die vielfach betonte Intention der Aufklärung
glaubhaft zu machen. An ihr lässt sich noch verhältnismäßig
einfach nachvollziehen, wie Pose und Lehrinhalt einander
entsprechen sollen. Man kann selbst bei den "gewagteren"
Kompositionen (z.B. Läufer, Hautmann, liegende
Schwangere) ohnehin nicht umhin, die Sinnhaftigkeit
der jeweiligen Pose für schlüssig zu halten,
wenn man dem Fachkommentar des Präparators folgt.
Es gelingt von Hagens nahezu immer, die gewählte
ästhetische Aussage funktionalistisch zu legitimieren.
Selbst an solch offensichtlich künstlerisch epigonalen
Präperaten wie dem "Schubladenmann" oder
dem "Läufer". Bewusst sachlich ist denn
auch der Kommentar zum Exponat "Der Schachspieler":
"This posed plastinate was given
the posture of a pensive person. It illustrates representively
how nerve fibres run through the entire human organism".
(Sichttafel).
"Dieses Plastinat zeigt einen
Denker – sitzend, konzentriert, beobachtend.
Die Pose eines Schachspielers wurde bewusst gewählt,
weil vor allem Gehirn, Rückenmark und Nerven
gezeigt werden sollen, Organe also, die wesentlich
sind für das Denken und die Wahrnehmung. Die
Pose soll die anatomische Präparation inhaltlich
unterstreichen." (Audio Guide).
"Diesem Gestaltplastinat haben
wir die Position eines denkenden Schachspielers gegeben,
denn es veranschaulicht repräsentativ, wie der
menschliche Organismus innerviert ist. Die Pose soll
den besonderen Charakter des Plastinats unterstreichen,
seine anatomische Identität. Der ästhetische
Eindruck der dadurch entsteht, ist durchaus beabsichtigt,
denn das Ergebnis der Plastination soll Verstand und
Gefühl gleichermaßen ansprechen, also Wissen
vermitteln und das Bewusstsein für die Natur
in uns wecken" [1].
Die Sachlichkeit ist notwendig, da die
Ästhetisierung der Wissenschaftlichkeit und der
anatomischen Nützlichkeit aus primär moralischen
Gründen zu widersprechen scheint. Sie wird im Nachhinein
noch konkretisiert, indem Aufbau und Funktion der Bestandteile
des Wahrnehmungsapparates (Gehirn, Rückenmark,
periphere Nerven, Sakralnerven, Ischiasnerv, Gehirnnerven,
nervus trigenimus usw.) erläutert werden.
Gunther von Hagens sieht darin allerdings,
auch wenn er seinen Anatomenstatus wiederholt betont
und sich ausdrücklich nicht als Künstler,
Interpret oder Philosoph betrachtet, eine metaphysische
Dimension. "Zur Bewegungsillusion tritt die Funktionsvorstellung.
Wenn das Plastinat "Schach spielt" oder "reitet",
wird der Tod in nahezu humoristischer Weise an das Leben
herangeführt" [2]. Humor ist bekanntlich, wenn
man trotzdem lacht (vgl. Warum man über tote Körper
lachen darf. http://www.koerperwelten.com/de/neue_plast.htm).
Anatomie als Plastination wird so gesehen
in doppeltem Sinne lebensweltlich relevant: Sie verlebendigt
die anatomisierte Leiche, präsentiert sie in lebensnaher
Position und macht damit nicht nur deren Authentizität
deutlich, sondern erinnert den Betrachter im Umkehrschluss
auch daran, dass der Mensch ein "Madensack"
ist; sie wird zudem als Wissenschaft belebt und verlebendigt,
die sich aus den abgesonderten und geheimnisumwitterten,
immer ein bisschen unheimlichen Anatomie- und Obduktionssälen
endlich allen Lebenden darbietet, um sich sichtbar selbstbewusst
in deren Dienst zu stellen.
"Wenn uns die Anatomie des Lebenden
interessiert, sollte sie in einer Umgebung vermittelt
werden, in der sich der Besucher vertraut und wohlfühlt.
Wie die Künstler der Renaissance ihre anatomischen
Figuren in lebendige, mit Pflanzen und Tieren geschmückte
Landschaften stellten, so stelle ich die Gestaltplastinate
in die lebendige Welt zurück, aus der sie kamen.
Das in der Pose eines Schachspielers gezeigte
Gestaltplastinat erhält ein Schachbrett, das
des Fechters ein Florett
" [3].
Insofern stellt das Gestaltplastinat
ein philosophisches Argument per se dar. Als
anatomisches Präparat scheint das Ganzkörperplastinat
genauso umstritten zu sein wie in jeder anderen Hinsicht.
Die einen meinen, es sei wissenschaftlich wertlos und
können vielleicht zu Recht auf Wachspräparate,
anatomische Atlanten, Röntgenbilder oder virtuelle
3D Körperansichten verweisen, für die anderen
ist es die anatomische Revolution schlechthin. Zumindest
die Scheibenplastinate und die sogenannten "expandierenden
Körper" eröffnen m.E. vollkommen neue
Sichtweisen des Körpers. Wilhelm Kriz, Anatomieprofessor
aus Heidelberg, weiß den Laien jedenfalls mit
folgendem Urteil zu überzeugen:
"
Deshalb möchte ich
die Ursachen für die Attraktivität von Ganzkörper-Plastinaten
an einem konkreten Beispiel erörtern, an dem sogenannten
Schachspieler oder Denker.
Dabei handelt es sich um einen Körper in sitzender
Haltung, an dem das Rückenmark und die peripheren
Nerven in allen Details zu erkennen sind. Von mehreren
Fachkollegen habe ich das Urteil gehört, dies sei
das beste Präparat der Rückenmarksnerven,
das sie je gesehen hätten. Ein solches Plastinat
offenbart also zunächst Präparationskunst,
handwerkliches Können in Perfektion" [4].
Selbst dem anatomischen Laien, der vor
dem Präparat steht, ist das unmittelbar einsichtig.
Bilder sind hier die besten Argumente.
Quelle: Prof. Gunther
von Hagens' Körperwelten. Fascination beneath the
surface. Heidelberg 2002.
Für viele Besucher sind die Plastinate
als Zitate problematisch: Dalì, Boccione, Marini,
Vesalius, Leonardo, Michelangelo, Fragonard, Rodin sind
nur einige Namen, die in diesem Zusammenhang genannt
werden. Dass von Hagens kunsthistorische Unwissenheit
gegen eine bewusste Anlehnung sprechen soll, wie der
ansonsten großartige Bazon Brock behauptete, ist
eher als Kuriosum zu begreifen [5].
Auch der Schachspieler zitiert aus der
Kunstgeschichte: Rodins Denker kommt in den Sinn, Caraccis
Schachspieler, der Automaton (immerhin der erste Versuch,
ins Innere des Spielers blicken zu lassen), vor allem
aber Assoziationen zur mittelalterlichen Allegorie vom
schachspielenden Tod werden geweckt. Der Tod wurde seit
je als Skelett oder/und Enthäuteter dargestellt.
Beide Komponenten sind beim Schachspieler sichtbar.
Die Evokation der Sterblichkeit ist vor diesem Hintergrund
nirgendwo deutlicher herausgearbeitet, als beim Schachspieler.
"Sobald der Mensch geboren, ist er alt genug zu
sterben", wie der böhmische Ackersmann zu
sagen wusste.
Schach matt heißt: Tod dem König.
Die mittelalterlichen Allegorien zeigen zumeist eine
Königsgestalt mit dem Tode spielen und wollen damit
die Sterblichkeit eines jeden sichtbar machen. Der König
repräsentiert jedermann, er ist "Jedermann".
Gunther von Hagens' Schachspieler ist Irgendjemand,
ein einst lebender Mensch, wie du und ich, nun namenlos,
identitätslos, nun tot und doch noch unter uns.
Indem er der ungewöhnliche Tote ist (nämlich
noch anwesend), symbolisiert er die Gewöhnlichkeit
des Todes.
Doch über den toten Körper
hinaus gibt es beim Schachspieler eine zweite wesentliche
Komponente: das Schachspiel. Es verbietet sich selbstredend,
die aktuelle Stellung auf dem Brett zum Analysethema
zu machen, nicht nur, weil sie – wie nicht anders
zu erwarten – sinnlos ist (beide Könige stehen
im Schach), oder weil sie ständig durch respektlose
Passanten verändert werden könnte (tatsächlich
fehlte in London ein Turm), sondern weil sie schlicht
und einfach akzidentiell bleibt und auch bleiben muss.
Einen sinntragenden Status darf man ihr in diesem Zusammenhang
nicht zurechnen.
Die Willkürlichkeit und Änderbarkeit
der Schachpartie ist sogar Teil der garantierten Anonymität,
eben doch der Würde [6] des Körperspenders, insofern
es Stil und Charakter im Schach gibt (anders wäre
dies z.B., hätte das Plastinat Dame gespielt).
Sie hängt offensichtlich nicht mit ungenügender
Kenntnis des Plastinators zusammen.
Untersuchenswert hingegen ist das Verhältnis
Gunther von Hagens zum Schach.
Viel ist über seine Person geschrieben worden,
leider oft in polemischem Ton. Sein mephistophelisches
Auftreten, der Beuys-Hut, die nonkonformistische Kleiderordnung,
die brutale Ehrlichkeit, seine unglaubliche Beharrlichkeit
und natürlich die provokanten Plastinate gaben
schlechtgesinnten Schreibern immer wieder jede Menge
Angriffspunkte. Doch von Hagens scheint vollkommen darüber
erhaben zu sein, auch wenn er offensichtlich mit dem
Klischee des verrückten Professors werbewirksam
spielt; für ihn gibt es nur eines: Plastination.
Sein gesamtes Denken hat er auf dieses von ihm 1977
erstmals entdecktem und seither wesentlich weiterentwickeltem
Verfahren ausgerichtet und mit schier übermenschlicher
Energie verfolgt er seine ehrgeizigen Ziele. Ein Satz
wie dieser spricht Bände: "Wenn ich am Tag
sechs Stunden mehr arbeite als andere, ist es nur eine
Frage der Zeit, bis sich der Erfolg einstellt"
[7]. Menschen in seiner Umgegend sind vom Charisma überwältigt,
oft fällt das Wort "Genie" (das hier
mehr als anderswo die Wahrheit bestätigt, dass
Genie 90 % Transpiration und 10 % Inspiration sei).
Quelle: Prof. Gunther
von Hagens' Körperwelten. Fascination beneath the
surface. Heidelberg 2002.
Sie scheinen ihm alles zuzutrauen, nicht
zuletzt die Schachmeisterschaft. "Schach hat er
gespielt bis zur Meisterschaft", entsinnt sich
denn der ebenfalls asketische Vater. Und Kleinschmidt/Wagner,
zwei Journalisten, die ein Buch über Hagens veröffentlichten,
sekundieren, indem sie ihn als "Super-Schachspieler"
(325) bezeichnen. Von Hagens selbst kolportiert diese
Geschichte und erzählt, dass er die dreiwöchige
Zeit im Einzelarrest – er wurde in der DDR wegen
versuchter Republikflucht zu 21 Monaten Haft verurteilt
und vorzeitig freigekauft – "neben dem Auswendiglernen
(von Vokabeln) mit sich im Geist ein wenig Schach gespielt"
habe: "ich habe mich sehr wohl gefühlt!".
Damals hieß er noch Gunther Liebchen; auch dies
war ein cleverer Schachzug in der Konstruktion seiner
selbst, den Namen der ersten Frau – von Hagens
– beibehalten zu haben.
Was aber ist nun dran an diesem Gerücht
des "Super-Schachspielers" und was muss man
darunter verstehen? Es ist mir leider nicht gelungen,
eine Partie eines Gunther Liebchen aus Greiz (!), der
1965 nach Gera (!) studieren ging, aufzutreiben, aber
es müsste doch ein Wunder sein, wenn ausgerechnet
in vogtländischen und ostthüringischen Schachkreisen
sich niemand an diesen offenbar begabten Spieler erinnern
könnte.
Literatur:
Kleinschmidt, Nina/Wagner, Henri: Endlich unsterblich?
Gunther von Hagens – Schöpfer der Körperwelten.
Bergisch Gladbach 2000
Prof. Gunther von Hagens Körperwelten. Die
Faszination des Echten. Der Katalog zur Ausstellung
(London). Heidelberg 2001
Prof. Gunther von Hagens Körperwelten. Fascination
beneath the surface. Heidelberg 2002. DVD
Prof. Gunther von Hagens Körperwelten. Fascination
beneath the surface. A guide to the exhibition. Heidelberg 2001
Wetz, Franz Josef: Die Würde des Menschen ist antastbar.
Eine Provokation. Stuttgart 1998
Wetz, Franz Josef/Tag, Brigitte (Hg.): Schöne neue
Körperwelten. Der Streit um die Ausstellung. Stuttgart
2001
http://www.koerperwelten.com/de/gvh.htm
http://www.channel4.com/science/microsites/A/anatomists/hagens1.html
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,222855,00.html
--- Jörg Seidel, 12.02.2003 ---
Anmerkung:
Email von Gunther von Hagens vom 28.6.2009
(Auszug), in der der Plastinator selbst freigiebig und
offen zu den gestellten Fragen antwortet und deren Veröffentlichung
er freundlicherweise zustimmte:
Mit großem Interesse habe ich
Ihren Artikel im Internet mit dem Titel "Körperwelten
- Innenansichten des Schachspielers" gelesen. Vielen
Dank für die Komplimente. Gern möchte ich
Ihnen einige Informationen zu Ihrer im Artikel aufgeworfenen
Frage geben: "Was aber ist nun dran an diesem Gerücht
des "Super-Schachspielers" und was muss man
darunter verstehen?" Ich habe als Schüler
Schach gespielt beim Schachclub "Lokomotive Greiz".
Das war in den Jahren 1954 – 1958/59, also als
Schüler im Alter von 9 – 13/14 Jahren (geboren
1945). Ich spielte damals in der Schülermannschaft
der Goetheschule Greiz. Mein Schachlehrer war unser
Physiklehrer, Herr Meyer, der unerwartet in den Westen
flüchtete. Danach habe ich das Schachspielen aufgegeben
und mit Gesellschaftstanz
(Tanzclub Schwarz-Weiß
der VEB Papierfabrik) begonnen, in der ich mich zwischen
14 und 18 Jahren bis in die D-Klasse, die unterste Klasse
des Turniertanzes empor arbeitete.
Die dort gelernte
Körperästhetik jedenfalls ist mir bei der
Positionierung von Plastinaten unverzichtbar.
Doch zurück zum Schach: Ich habe
zusammen gespielt mit meinem Klassenkameraden Reinhard
Postler.
Ich will nicht sagen, dass ich ein großer
Schachspieler war. Reinhard Postler war deutlich besser
als ich.
Doch immerhin habe ich es in der Schülermannschaft,
wenn auch am vorletzten Brett, zum DDR-Meister gebracht.
Bei den Kreismeisterschaften in Greiz brachte ich es
zum Kreismeister im Blitzschach. Auch habe ich damals
so viele Schachbücher studiert und auch die eigenen
Partien kommentiert, dass ich schließlich blind
spielen konnte. Im Gefängnis in Gera und Cottbus
habe ich dann mehrfach Blindpartien gegen mich selbst
gespielt. Auch heute gewinne ich üblicherweise
immer noch gegen Feld-Wald-und-Wiesen-Schachspieler
Ich glaube, dass meine Umgebung, insbesondere
meine Familie und hier insbesondere mein Vater, mehr
von meinen Schachkünsten überzeugt war als
ich selbst. Nun hatte mir mein Vater mit 6 Jahren Schach
beigebracht und er hat sich dann gewundert, dass ich
bald stets gegen ihn gewann.
Ach ja, der Schachclub Plauen ist
mir gut bekannt, weil wir einmal zu einem Mannschaftsfreundschaftsspiel
eingeladen waren. Ich erinnere mich aber nur noch, dass
wir, wenn auch knapp gewannen.
Sicher ist, dass es das Plastinat
des Schachspielers ohne meine "Schachkarriere"
nicht geben würde.
Mit den besten Grüßen verbleibe
ich als Ihr
Gunther von Hagens
[1]
DVD Prof. Gunther von Hagens' Körperwelten. Fascination
beneath the surface. Heidelberg 2002. Kapitel 4
[2] Gunther von Hagens:
Gruselleichen, Gestaltplastinate und Bestattungszwang.
In: Franz Josef Wetz/Brigitte Tag (Hg.): Schöne
neue Körperwelten. Der Streit um die Ausstellung.
Stuttgart 2001. S. 45
[3] ebd. S. 55
[4] Prof. Dr. med. Wilhelm
Kriz: Vorwort zum Ausstellungskatalog. Heidelberg 2001.
S. 6
[5] Bazon Brock: Der gestaltete
Körper. In: Wetz/Tag. S. 277; Josef Wetz nimmt
dieses unsinnige Argument ebenfalls auf, etwa in: Die
Würde des Menschen. Ausstellungskatalog S. 251
[6] vgl. Wetz, Franz Josef:
Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation.
Stuttgart 1998
[7] Kleinschmidt/Wagner:
Endlich unsterblich? S. 66
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