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The Art of Chess.
Zur Ausstellung im Londoner Somerset Haus
Auf dem fünfminütigen Fußweg
vom Trafalgar Square zum Somerset House, wo bis Ende
September die bereits vielbesprochene Ausstellung "The
Art of Chess" zu sehen ist, betritt man historisch
aufgeladenes Schachland; man passiert das "Savoy-Theatre"
- Austragungsort der 93'er WM zwischen Short und Kasparow
- und das "Simpson's" - the spiritual home
of English chess [1] -, das legendäre Hotelcafé,
in dem die Geschichte des modernen Schachs englischer
Prägung überhaupt erst begann. Eine günstigere
Nachbarschaft kann sich die aktuelle, kleine, aber feine
Ausstellung im opulenten Somerset House kaum wünschen.
Sie umfasst ganze 19 Ausstellungsstücke, künstlerisch
bearbeitete Figurensätze und Bretter, sowie die
abschließende Vorführung zweier historischer
und selten zu sehender Schachfilme [2].
Das Somerset Haus
in London.
Der Begriff der Kunst meint hier dreierlei:
Handwerk, ästhetischer Ausdruck und Experiment,
ideologische und weltanschauliche Positionierung. Die
beiden preziösesten Ausstellungsstücke, das
Fabergè- und das Kholmogory-Set, zählen
eindeutig zur ersten Kategorie. Das eine gilt als einzig
gefertigtes Schachspiel der Edelkunstschmiede und zweites
stellt nicht nur eine feine Schnitzarbeit dar, sondern
überrascht durch ein seltenes tierisches Material:
Mammut-Elfenbein.
Den künstlerischen Höhepunkt
stellen hingegen die weltbekannten Arbeiten Duchamps,
Man Rays, Max Ernsts, das Bauhaus-Schach Josef Hartwigs,
Essers Art Deco und Alexander Colders "Travelling
Chess Set" dar [3]. Man steht vor diesen Objekten
mitunter wie der Tourist vor den ägyptischen Pyramiden:
enttäuscht und entzaubert, da der Blick auf das
unberührbare Original der tausendfachen Simulation
mit ihren technischen Möglichkeiten (Vergrößerung,
Ausschnitte, Farbspiel etc.) in Print- und Telemedien
kaum noch etwas Unentdecktes bieten kann. [4]
Ganz anders wirkt die dritte Gruppe,
der, wie sie hier genannt wurden, weltanschaulich vermittelten
Kunstwerke, nicht nur, weil sie weniger bekannt sind
oder weil sie schlechthin Neues zeigen, sondern weil
sie neben der weltanschaulichen Aussage auch eine Antwort
auf den radikalen Ästhetizismus bieten und zugleich
die Theorie des Schachs bereichern. Dies zumindest wird
man von den mittlerweile klassischen Stücken Duchamps
und seiner Nachfolger nicht behaupten können, bei
den handwerklich kunstvollen Arbeiten ist eine transzendente
Komponente von vornherein ausgeschlossen.
Insbesondere im Falle Yoko Onos ist der
Begriff der Ideologie angebracht, wenngleich ihr "White
Chess Set" nicht zuletzt durch konsequente Ästhetik
besticht. Dies wird u.a. durch das Gesamtarrangement
erreicht: Sitzgruppe und Tisch bilden ein harmonisches
Ganzes.
Yoko Onos "White
Chess Set" will beides: Wirkung und Weisung
Lediglich
die japanische Künstlerin Yayoi Kusama hat mit
ihrem "Pumpkin Chess" einen ähnlichen
Weg beschritten, indem sie das grellfarbige Spielbrett
auf ein stilähnliches Blütenkissen bettete.
Das wirkt zwar, sagt aber nichts. Yoko Ono hingegen
will beides: Wirkung und Weisung. Tatsächlich scheinen
zwei gleichfarbige Spielsätze sinnlos zu sein und
erst nach und nach erschließen sich dem Betrachter
die Aussagekonsequenzen. "Schwarze" und "weiße"
Felder werden durch einen Höhenunterschied kenntlich
gemacht. Leider verstieß die Künstlerin (oder
die Ausstellungsorganisatoren) gegen die uralte Faustregel,
dass der Künstler sein Werk nie interpretieren
solle; es nimmt dem Kunstwerk die assoziative Kraft
und stellt die inhärente Frage, weshalb dieses,
was zu sagen sei, denn nicht im Werk selbst gesagt ist;
die Interpretation stellt dem Kunstwerk stets ein Armutszeugnis
aus. Der Begleittext lautet:
"Yoko Ono's original 1966 Chess
Set, which led to the series of variations known as
Play it by Trust, was labelled 'for playing
as long as you can remember where all your pieces
are'. By making both sides white, Yoko Ono inverted
the game's role as a metaphor for conflict, war and
domination to one as a metaphor for peace and unity.
Players lose track of their pieces as the game progresses
and ideally this leads to a new relationship based
on empathy rather than opposition".
Ein
typisches Statement der Give-Peace-a-Chance-Generation,
die mit glühendem Herzen und rührender Naivität
glaubte, den Weltfrieden durch Liedersingen, Geschlechtsliebe,
Happenings oder eben angemalte Schachspiele retten zu
können. Lässt man den ideologischen Ballast
beiseite, bleibt eine einfache, aber geniale Idee übrig.
Denn in der Tat gelingt es, einen wesenhaften "Mangel"
des Schachs zumindest im Ansatz zu beseitigen: die Bipolarität,
die Opposition, die Streitsituation, die nicht umsonst
seit Jahrhunderten als Kriegsmetapher entziffert wird.
Die beiden Parteien spielen plötzlich mit- statt
gegeneinander, ja sie hören auf, Parteien [5]
zu sein. Dies umschreibt auch in der Schwarz-Weiß-Welt
die ideale Partie; leider wird diese nur in allerseltensten
Fällen verwirklicht. Jede holistische Bereicherung
muss freilich auch einen Verlust beklagen, den des Individuellen
und Speziellen. Wo alles eins ist, wo alles ineinander
verfließt, verliert sich der kompetitive Aspekt,
der jedoch anthropologisch fundiert, also unhintergehbar
ist. Holistischer Idealismus negiert immer Teile der
menschlichen Natur. Daher ist Onos Spiel eines mit religiösen
Implikationen: es ist das Schachspiel des Jenseits,
wo nicht mehr Individuen spielend sich vereinen, sondern
Dividuen (oder ein Dividuum) sich ins Spiel teilen.
Deswegen auch die Farbe Weiß, die mehr sein soll
als eine Unschuldsbeteuerung; sie fungiert hier als
göttliche Farbe [6].
Für Menschen, die der Erde treu
bleiben, verliert Onos Spiel seinen Wert durch die nur
ideale und nicht reale Spielbarkeit. Spielbar ist es
nur bis zu einem gewissen Grade, danach zerrinnen die
Bezüge und verschwinden für die einen in Frustrationen,
für die Eingeweihten jedoch ins Divine [7].
"Ono was perhaps the first artist
to tackle the very concept of the game rather than designing
artistic chessmen and boards or devising new strategies"
[8].
So gesehen darf man ihr Kunstwerk als
herausragendes Stück der Ausstellung bezeichnen,
es ist das einzige, dass die rein gestalterische Dimension
sprengt.
Das heißt nicht, andere Projekte
wären uninteressant oder kämen dieser Idee
nicht nahe. Metaphysische Gedanken ließen sich
sicherlich auch anhand von George Maciunas' "Colour
Balls in Bottle-Chess-Set" entwickeln, der 8x8
Fläschchen zum Quadrat zusammenklebte und die Figuren
durch farbige Perlen ersetzte, die der Spieler, wenn
es denn einen solchen geben sollte, mithilfe von Pinzetten
herauszufischen und zu versetzen hat.
Schach als Denkmikado:
George Maciunas' "Colour Balls in Bottle-Chess-Set"
Schach dürfte hier eher zum Geschicklichkeitsspiel,
zum Denkmikado, verkommen. Man darf davon ausgehen,
dass bei Maciunas, ebenso wie bei Tabako Saitos' "Sound
Chess Set", nicht die Schachidee im Vordergrund
stand, sondern Schach lediglich als mehr oder weniger
beliebiges Objekt künstlerischer Phantasien figuriert.
In der Tat, so erfährt man aus dem Katalog, hat
sich insbesondere Maciunas mit gleicher künstlerischer
Intensität anderen Sportarten zugewandt.
Beliebigkeit ist hier das Stichwort,
denn die noch verbleibenden Exponate von Interesse thematisieren,
so möchte ich behaupten, weit weniger das Schach
als das Arbiträre (in) der Kunst. Die Kunst ist
sich längst selbst zum Hauptthema geworden und
niemand geringeres als Duchamp ist Kronzeuge dieser
Entwicklung, der mit seinen "Ready Mades"
jenen revolutionierenden Schritt wagte, alles zur Kunst
erklären zu können. Doch ist diese Befreiung
in den Händen der Vielen auch zum Fluch geworden.
Kunst wird ununterscheidbar vom Handwerk und vom Design,
was aber noch verhängnisvoller ist, ist die Ununterscheidbarkeit
vom beliebigen Alltagsgegenstand. Künstlerische
Kreativität ist nicht mehr Schaffen, sondern Hin-
und Ausstellen, die künstlerische Wahrnehmung,
die einst einen besonderen Blickwinkel auf die Dinge
vorstellte und damit Weltansicht mit sich trug, besteht
nunmehr im bloßen Erklären einer solchen
Wahrnehmung. Psychoanalisierung und mediale Sexualisierung
führen zunehmend zu sexuellen Erklärungsmodellen.
Das ist bei Jake & Dinos Chapmans "Chess Set",
deren geschlechtslose Figuren Penisnasen und Anusmünder
(oder sind es Dollymünder von Gummipuppen?) haben,
ganz offensichtlich. Diese werden als "post-apocalyptic
adolescents" erklärt und fertig ist
der Weltbezug.
Man merkt den Künstlern förmlich
an, dass sie eine Menge Spaß hatten, dieses Schachspiel
zu kreieren.
Auch in Paul McCarthys "Kitchen
Set", das übrigens anlässlich der Exposition
entstand, darf der Dildo auf der Saftflasche nicht fehlen.
Der Bezug zum Schach ist überhaupt nur noch durch
den Kontext garantiert. Ein unbedarfter Betrachter könnte
dieses Exponat leicht mit einer Ausstellung von Küchengegenständen
und Alltagskitsch verwechseln. Aber genau dies macht
das Objekt interessant, wenn man es nämlich als
Antwort auf moderne Kunst im Allgemeinen und Schachkreationen
im Besonderen liest. Beliebigkeit lässt sich durch
Beliebigkeit demaskieren und wenn ein künstlerisches
Schachbrett zu schaffen heißt, lediglich Formenphantasien
auf eine vorgegebene Matrix pressen, dann kann letztlich
jede beliebige Form herhalten. Warum nicht jene belanglosen
Gegenstände, die in einer großstädtischen
Küche herumstehen. McCarthy macht auch keinen Hehl
daraus, wie wenig ihn dabei das Schach als solches interessiert,
auch wenn er uns als "gelegentlicher Schachspieler"
vorgestellt wird, denn er verletzt eine konstitutive
Voraussetzung jedes Spielsatzes: die Symmetrie und Reziprozität.
Ein Schachspiel mit 32 einzigartigen Figuren, ist kein
Schachspiel mehr. Man könnte mit ihm notfalls noch
Dame oder Reversi spielen, aber Schach benötigt
kategoriale und farbliche Zugehörigkeit der Figuren.
Der Künstler ironisiert damit die Kunstgeschichte
des Schachspiels, die sich eben in immer neuen Figuren-
und Brettphantasien erschöpft. Warum aber sollte,
aus artistischer Sicht, ein gepunktetes Brett ein Fortschritt
gegenüber einem schwarz-weißen Brett sein
und worin liegt der originelle Akt, die traditionellen
Figuren durch eine Kollektion von Medizingläschen
oder Salzstreuern zu ersetzen etc.? Dann doch lieber
gleich "Heinz Tomatenketchup" neben der Bildklammer,
dann doch lieber gleich die Warenhausästhetik.
Im Grunde genommen ist doch der "Regaldesigner"
im Lidl genauso künstlerisch kreativ wie der freischaffende
Künstler.
Kein Schachspiel mehr: Paul McCarthys
"Kitchen Set"
McCarthys Arbeit ist deswegen souverän,
weil sie den selbstironischen Blick verrät und
radikal vorgeht. Diesbezüglich aufschlussreich
ist die Anordnung, die im Exponat und im Katalogbild
deutlich variiert. Offensichtlich und konsequenterweise
legt McCarthy keinen Wert auf die Stellung der "Figuren".
Zumindest
die Ironie kann man auch Maurizio Cattelan - der durch
seine vom Meteor erschlagene Papstfigur Aufmerksamkeit
erregte - nicht absprechen, dessen unbenanntes Schachset
(die Aussteller gaben ihm freilich den Titel "Good
versus Evil") prinzipiell um das gleiche Thema
ringt, es aber mit Botschaftscharakter auflöst.
Zentralfigur ist ohne Zweifel Adolf Hitler als Porzellan-
und typische Kitschfigur. Auch hier ist die Anordnung
vollkommen arbiträr. Fasst könnte man glauben,
hier würde moralisiert, wenn da nicht die verräterischen
Details wären, etwa die Coca-Cola-Flasche in der
Hand Che Guevaras oder die Walt Disney Figur aus 101
Dalmatiner. Wie fließend die Übergänge
von Kunst zum Kitsch sein können, zeigt ein vergleichender
Blick auf die zahllos angebotenen Themenbretter, unter
denen "Good versus Evil" vielleicht nicht
mal auffallen würde. Das alles war schon mal da
und wurde tausendfach reproduziert: Napoleon, Mickey
Mouse, Sherlock Holmes, Alice im Wunderland, Schlacht
bei Hastings, American Football, Ramses, "The Good
Guys against The Bad Guys", Horror, Wizard of Oz,
Shakespeare, Robin Hood ad infinitum.
http://www.chesszoom.com/
http://users.argonet.co.uk/glencall/chessx/orn.html
http://www.chess.sets.freeuk.com/
http://www.chess-shop.co.uk/
--- Jörg Seidel, 09.09.2003 ---
[1]
Daniel King in: Chess 68/9, S. 4
[2] Den surrealistischen
Film "Entr'acte" (1924), in dem für einen
Augenblick Duchamp und Man Ray schachspielend auf einem
Dach erscheinen und den russischen Film "Chess
Fever", der nicht nur Originalaufnahmen von Reti,
Grünberg, Teichmann, Marshall und anderen Schachgrößen
zeigt, sondern in dem kein geringerer als Capablanca
- schüchtern und ungelenk, mit der Situation als
Schauspieler offensichtlich nicht vertraut - die suizidgefährdete
Filmheldin endlich vom Sinn und Vorteil des edlen Spiels
überzeugt und sie zurück in die Arme des geliebten
Mannes, eines unverbesserlichen Schachfanatikers, führt.
[3] alle noch einmal abgebildet
unter: http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=2202
[4] Vgl. Wolfgang Welsch:
Ästhetisches Denken. Stuttgart 1991. S. 20f.
[5] lat. pars = Teil, Stück;
Partie und Partei wurzeln etymologisch beide hier
[6] Ein Parallelstück
in Bronze, welches Yoko Ono John Cage vermachte, kann
von vornherein diesen Zauber nicht entfalten, auch wenn
die Idee der Aufhebung der Bipolarität dadurch
nicht betroffen ist. Vgl. The Art of Chess (Katalog)
S. 34
[7] Das musikalische Komplementärstück
ist: Carlos Santana & Mahavishnu John McLaughlin:
"The Life Divine" von der 1973er LP "Love
Devotion Surrender"; auf dem Cover sind die beiden
Instrumentalgenies komplett in Weiß gekleidet.
[8] The Art of Chess Catalogue.
Gilbert Collection Trust 1993. S. 34
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