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AKTUELLES
9. September 2003

The Art of Chess.
Zur Ausstellung im Londoner Somerset Haus

Auf dem fünfminütigen Fußweg vom Trafalgar Square zum Somerset House, wo bis Ende September die bereits vielbesprochene Ausstellung "The Art of Chess" zu sehen ist, betritt man historisch aufgeladenes Schachland; man passiert das "Savoy-Theatre" - Austragungsort der 93'er WM zwischen Short und Kasparow - und das "Simpson's" - the spiritual home of English chess [1] -, das legendäre Hotelcafé, in dem die Geschichte des modernen Schachs englischer Prägung überhaupt erst begann. Eine günstigere Nachbarschaft kann sich die aktuelle, kleine, aber feine Ausstellung im opulenten Somerset House kaum wünschen. Sie umfasst ganze 19 Ausstellungsstücke, künstlerisch bearbeitete Figurensätze und Bretter, sowie die abschließende Vorführung zweier historischer und selten zu sehender Schachfilme [2].

Das Somerset Haus in London.

Der Begriff der Kunst meint hier dreierlei: Handwerk, ästhetischer Ausdruck und Experiment, ideologische und weltanschauliche Positionierung. Die beiden preziösesten Ausstellungsstücke, das Fabergè- und das Kholmogory-Set, zählen eindeutig zur ersten Kategorie. Das eine gilt als einzig gefertigtes Schachspiel der Edelkunstschmiede und zweites stellt nicht nur eine feine Schnitzarbeit dar, sondern überrascht durch ein seltenes tierisches Material: Mammut-Elfenbein.

Den künstlerischen Höhepunkt stellen hingegen die weltbekannten Arbeiten Duchamps, Man Rays, Max Ernsts, das Bauhaus-Schach Josef Hartwigs, Essers Art Deco und Alexander Colders "Travelling Chess Set" dar [3]. Man steht vor diesen Objekten mitunter wie der Tourist vor den ägyptischen Pyramiden: enttäuscht und entzaubert, da der Blick auf das unberührbare Original der tausendfachen Simulation mit ihren technischen Möglichkeiten (Vergrößerung, Ausschnitte, Farbspiel etc.) in Print- und Telemedien kaum noch etwas Unentdecktes bieten kann. [4]

Ganz anders wirkt die dritte Gruppe, der, wie sie hier genannt wurden, weltanschaulich vermittelten Kunstwerke, nicht nur, weil sie weniger bekannt sind oder weil sie schlechthin Neues zeigen, sondern weil sie neben der weltanschaulichen Aussage auch eine Antwort auf den radikalen Ästhetizismus bieten und zugleich die Theorie des Schachs bereichern. Dies zumindest wird man von den mittlerweile klassischen Stücken Duchamps und seiner Nachfolger nicht behaupten können, bei den handwerklich kunstvollen Arbeiten ist eine transzendente Komponente von vornherein ausgeschlossen.

Insbesondere im Falle Yoko Onos ist der Begriff der Ideologie angebracht, wenngleich ihr "White Chess Set" nicht zuletzt durch konsequente Ästhetik besticht. Dies wird u.a. durch das Gesamtarrangement erreicht: Sitzgruppe und Tisch bilden ein harmonisches Ganzes.

Yoko Onos "White Chess Set" will beides: Wirkung und Weisung

Lediglich die japanische Künstlerin Yayoi Kusama hat mit ihrem "Pumpkin Chess" einen ähnlichen Weg beschritten, indem sie das grellfarbige Spielbrett auf ein stilähnliches Blütenkissen bettete. Das wirkt zwar, sagt aber nichts. Yoko Ono hingegen will beides: Wirkung und Weisung. Tatsächlich scheinen zwei gleichfarbige Spielsätze sinnlos zu sein und erst nach und nach erschließen sich dem Betrachter die Aussagekonsequenzen. "Schwarze" und "weiße" Felder werden durch einen Höhenunterschied kenntlich gemacht. Leider verstieß die Künstlerin (oder die Ausstellungsorganisatoren) gegen die uralte Faustregel, dass der Künstler sein Werk nie interpretieren solle; es nimmt dem Kunstwerk die assoziative Kraft und stellt die inhärente Frage, weshalb dieses, was zu sagen sei, denn nicht im Werk selbst gesagt ist; die Interpretation stellt dem Kunstwerk stets ein Armutszeugnis aus. Der Begleittext lautet:

"Yoko Ono's original 1966 Chess Set, which led to the series of variations known as Play it by Trust, was labelled 'for playing as long as you can remember where all your pieces are'. By making both sides white, Yoko Ono inverted the game's role as a metaphor for conflict, war and domination to one as a metaphor for peace and unity. Players lose track of their pieces as the game progresses and ideally this leads to a new relationship based on empathy rather than opposition".

Ein typisches Statement der Give-Peace-a-Chance-Generation, die mit glühendem Herzen und rührender Naivität glaubte, den Weltfrieden durch Liedersingen, Geschlechtsliebe, Happenings oder eben angemalte Schachspiele retten zu können. Lässt man den ideologischen Ballast beiseite, bleibt eine einfache, aber geniale Idee übrig. Denn in der Tat gelingt es, einen wesenhaften "Mangel" des Schachs zumindest im Ansatz zu beseitigen: die Bipolarität, die Opposition, die Streitsituation, die nicht umsonst seit Jahrhunderten als Kriegsmetapher entziffert wird. Die beiden Parteien spielen plötzlich mit- statt gegeneinander, ja sie hören auf, Parteien [5] zu sein. Dies umschreibt auch in der Schwarz-Weiß-Welt die ideale Partie; leider wird diese nur in allerseltensten Fällen verwirklicht. Jede holistische Bereicherung muss freilich auch einen Verlust beklagen, den des Individuellen und Speziellen. Wo alles eins ist, wo alles ineinander verfließt, verliert sich der kompetitive Aspekt, der jedoch anthropologisch fundiert, also unhintergehbar ist. Holistischer Idealismus negiert immer Teile der menschlichen Natur. Daher ist Onos Spiel eines mit religiösen Implikationen: es ist das Schachspiel des Jenseits, wo nicht mehr Individuen spielend sich vereinen, sondern Dividuen (oder ein Dividuum) sich ins Spiel teilen. Deswegen auch die Farbe Weiß, die mehr sein soll als eine Unschuldsbeteuerung; sie fungiert hier als göttliche Farbe [6].

Für Menschen, die der Erde treu bleiben, verliert Onos Spiel seinen Wert durch die nur ideale und nicht reale Spielbarkeit. Spielbar ist es nur bis zu einem gewissen Grade, danach zerrinnen die Bezüge und verschwinden für die einen in Frustrationen, für die Eingeweihten jedoch ins Divine [7].

"Ono was perhaps the first artist to tackle the very concept of the game rather than designing artistic chessmen and boards or devising new strategies" [8].

So gesehen darf man ihr Kunstwerk als herausragendes Stück der Ausstellung bezeichnen, es ist das einzige, dass die rein gestalterische Dimension sprengt.

Das heißt nicht, andere Projekte wären uninteressant oder kämen dieser Idee nicht nahe. Metaphysische Gedanken ließen sich sicherlich auch anhand von George Maciunas' "Colour Balls in Bottle-Chess-Set" entwickeln, der 8x8 Fläschchen zum Quadrat zusammenklebte und die Figuren durch farbige Perlen ersetzte, die der Spieler, wenn es denn einen solchen geben sollte, mithilfe von Pinzetten herauszufischen und zu versetzen hat.

Schach als Denkmikado: George Maciunas' "Colour Balls in Bottle-Chess-Set"

Schach dürfte hier eher zum Geschicklichkeitsspiel, zum Denkmikado, verkommen. Man darf davon ausgehen, dass bei Maciunas, ebenso wie bei Tabako Saitos' "Sound Chess Set", nicht die Schachidee im Vordergrund stand, sondern Schach lediglich als mehr oder weniger beliebiges Objekt künstlerischer Phantasien figuriert. In der Tat, so erfährt man aus dem Katalog, hat sich insbesondere Maciunas mit gleicher künstlerischer Intensität anderen Sportarten zugewandt.

 

Beliebigkeit ist hier das Stichwort, denn die noch verbleibenden Exponate von Interesse thematisieren, so möchte ich behaupten, weit weniger das Schach als das Arbiträre (in) der Kunst. Die Kunst ist sich längst selbst zum Hauptthema geworden und niemand geringeres als Duchamp ist Kronzeuge dieser Entwicklung, der mit seinen "Ready Mades" jenen revolutionierenden Schritt wagte, alles zur Kunst erklären zu können. Doch ist diese Befreiung in den Händen der Vielen auch zum Fluch geworden. Kunst wird ununterscheidbar vom Handwerk und vom Design, was aber noch verhängnisvoller ist, ist die Ununterscheidbarkeit vom beliebigen Alltagsgegenstand. Künstlerische Kreativität ist nicht mehr Schaffen, sondern Hin- und Ausstellen, die künstlerische Wahrnehmung, die einst einen besonderen Blickwinkel auf die Dinge vorstellte und damit Weltansicht mit sich trug, besteht nunmehr im bloßen Erklären einer solchen Wahrnehmung. Psychoanalisierung und mediale Sexualisierung führen zunehmend zu sexuellen Erklärungsmodellen. Das ist bei Jake & Dinos Chapmans "Chess Set", deren geschlechtslose Figuren Penisnasen und Anusmünder (oder sind es Dollymünder von Gummipuppen?) haben, ganz offensichtlich. Diese werden als "post-apocalyptic adolescents" erklärt und fertig ist der Weltbezug.

Man merkt den Künstlern förmlich an, dass sie eine Menge Spaß hatten, dieses Schachspiel zu kreieren.

 

Auch in Paul McCarthys "Kitchen Set", das übrigens anlässlich der Exposition entstand, darf der Dildo auf der Saftflasche nicht fehlen. Der Bezug zum Schach ist überhaupt nur noch durch den Kontext garantiert. Ein unbedarfter Betrachter könnte dieses Exponat leicht mit einer Ausstellung von Küchengegenständen und Alltagskitsch verwechseln. Aber genau dies macht das Objekt interessant, wenn man es nämlich als Antwort auf moderne Kunst im Allgemeinen und Schachkreationen im Besonderen liest. Beliebigkeit lässt sich durch Beliebigkeit demaskieren und wenn ein künstlerisches Schachbrett zu schaffen heißt, lediglich Formenphantasien auf eine vorgegebene Matrix pressen, dann kann letztlich jede beliebige Form herhalten. Warum nicht jene belanglosen Gegenstände, die in einer großstädtischen Küche herumstehen. McCarthy macht auch keinen Hehl daraus, wie wenig ihn dabei das Schach als solches interessiert, auch wenn er uns als "gelegentlicher Schachspieler" vorgestellt wird, denn er verletzt eine konstitutive Voraussetzung jedes Spielsatzes: die Symmetrie und Reziprozität. Ein Schachspiel mit 32 einzigartigen Figuren, ist kein Schachspiel mehr. Man könnte mit ihm notfalls noch Dame oder Reversi spielen, aber Schach benötigt kategoriale und farbliche Zugehörigkeit der Figuren. Der Künstler ironisiert damit die Kunstgeschichte des Schachspiels, die sich eben in immer neuen Figuren- und Brettphantasien erschöpft. Warum aber sollte, aus artistischer Sicht, ein gepunktetes Brett ein Fortschritt gegenüber einem schwarz-weißen Brett sein und worin liegt der originelle Akt, die traditionellen Figuren durch eine Kollektion von Medizingläschen oder Salzstreuern zu ersetzen etc.? Dann doch lieber gleich "Heinz Tomatenketchup" neben der Bildklammer, dann doch lieber gleich die Warenhausästhetik. Im Grunde genommen ist doch der "Regaldesigner" im Lidl genauso künstlerisch kreativ wie der freischaffende Künstler.

Kein Schachspiel mehr: Paul McCarthys "Kitchen Set"

McCarthys Arbeit ist deswegen souverän, weil sie den selbstironischen Blick verrät und radikal vorgeht. Diesbezüglich aufschlussreich ist die Anordnung, die im Exponat und im Katalogbild deutlich variiert. Offensichtlich und konsequenterweise legt McCarthy keinen Wert auf die Stellung der "Figuren".

 

Zumindest die Ironie kann man auch Maurizio Cattelan - der durch seine vom Meteor erschlagene Papstfigur Aufmerksamkeit erregte - nicht absprechen, dessen unbenanntes Schachset (die Aussteller gaben ihm freilich den Titel "Good versus Evil") prinzipiell um das gleiche Thema ringt, es aber mit Botschaftscharakter auflöst. Zentralfigur ist ohne Zweifel Adolf Hitler als Porzellan- und typische Kitschfigur. Auch hier ist die Anordnung vollkommen arbiträr. Fasst könnte man glauben, hier würde moralisiert, wenn da nicht die verräterischen Details wären, etwa die Coca-Cola-Flasche in der Hand Che Guevaras oder die Walt Disney Figur aus 101 Dalmatiner. Wie fließend die Übergänge von Kunst zum Kitsch sein können, zeigt ein vergleichender Blick auf die zahllos angebotenen Themenbretter, unter denen "Good versus Evil" vielleicht nicht mal auffallen würde. Das alles war schon mal da und wurde tausendfach reproduziert: Napoleon, Mickey Mouse, Sherlock Holmes, Alice im Wunderland, Schlacht bei Hastings, American Football, Ramses, "The Good Guys against The Bad Guys", Horror, Wizard of Oz, Shakespeare, Robin Hood ad infinitum.

http://www.chesszoom.com/
http://users.argonet.co.uk/glencall/chessx/orn.html
http://www.chess.sets.freeuk.com/
http://www.chess-shop.co.uk/

 

--- Jörg Seidel, 09.09.2003 ---


[1] Daniel King in: Chess 68/9, S. 4
[2] Den surrealistischen Film "Entr'acte" (1924), in dem für einen Augenblick Duchamp und Man Ray schachspielend auf einem Dach erscheinen und den russischen Film "Chess Fever", der nicht nur Originalaufnahmen von Reti, Grünberg, Teichmann, Marshall und anderen Schachgrößen zeigt, sondern in dem kein geringerer als Capablanca - schüchtern und ungelenk, mit der Situation als Schauspieler offensichtlich nicht vertraut - die suizidgefährdete Filmheldin endlich vom Sinn und Vorteil des edlen Spiels überzeugt und sie zurück in die Arme des geliebten Mannes, eines unverbesserlichen Schachfanatikers, führt.
[3] alle noch einmal abgebildet unter: http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=2202
[4] Vgl. Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1991. S. 20f.
[5] lat. pars = Teil, Stück; Partie und Partei wurzeln etymologisch beide hier
[6] Ein Parallelstück in Bronze, welches Yoko Ono John Cage vermachte, kann von vornherein diesen Zauber nicht entfalten, auch wenn die Idee der Aufhebung der Bipolarität dadurch nicht betroffen ist. Vgl. The Art of Chess (Katalog) S. 34
[7] Das musikalische Komplementärstück ist: Carlos Santana & Mahavishnu John McLaughlin: "The Life Divine" von der 1973er LP "Love Devotion Surrender"; auf dem Cover sind die beiden Instrumentalgenies komplett in Weiß gekleidet.
[8] The Art of Chess Catalogue. Gilbert Collection Trust 1993. S. 34


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